von Kay Sokolowsky
Wer etwas nicht wahrhaben will, obwohl es auf der Hand liegt, hat dafür stets Gründe, aber nie gute. Die einen lügen sich die Dinge zurecht aus Ignoranz, die anderen aus Dummheit, viele aus Bequemlichkeit und nicht wenige mit böser Absicht. Der bestialische Mord an der schwangeren Ägypterin Marwa El-Sherbini, die nur knapp gescheiterte Tötung ihres Ehemanns: Diese Explosion der Gewalt mitten in einem deutschen Gerichtssaal war das Ergebnis eines Rassismus, der beim niederträchtigen Gedanken nicht verharrte, sondern zur Tat drängte.
Richterin Birgit Wiegand, die den Mörder Alex Wiens für sein Verbrechen zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilte, hat dies mit wünschenswerter Deutlichkeit festgestellt. Sie hat keine mildernden Umstände gefunden für den Täter, sondern bei ihm nichts als menschenfeindliche Gesinnung entdeckt. Sie hat den Hass Alex Wiens' auf alle Musliminnen und Muslime der Welt als das erkannt, was er ist: blanker Rassismus.
Was die Richterin nicht beurteilen konnte - denn der Täter hat sich im Lauf der Verhandlung kaum zu Wort gemeldet, und wenn er es tat, dann selbstmitleidig -, war die Genese dieses Hasses. Auch die Verteidiger von Alex Wiens haben leider nicht zur Aufklärung darüber beigetragen, woher ihr Mandant sein Feindbild bezog.
Schieflage in der Berichterstattung
Die deutschen Medien taten es mehrheitlich Wiens' Anwälten gleich. Nur die wenigsten Prozessbeobachterinnen und -beobachter mochten sich lange mit der Frage aufhalten, wer Alex Wiens mit der Ideologie geimpft haben könnte, die ihn antrieb. Gewiss handelte Wiens als Einzelner, nicht im Auftrag einer Gruppe, und trotz seines Bekenntnisses, NPD-Wähler zu sein, gibt es keinen Hinweis darauf, dass er in einer neonazistischen Bande aktiv gewesen ist. Doch mit seinem Wahn, der Islam sei das schlechthin Böse, alle Musliminnen und Muslime seien "Terroristen", mit seiner Wut auf alle Menschen, die sich zu Allah bekennen, aber auch auf die, die er bloß verdächtigt, es zu tun. Mit diesem Hass ist Wiens keineswegs allein, sondern in beängstigend großer Gesellschaft. Der Mord an Marwa El-Sherbini hätte der deutschen Öffentlichkeit Anlass sein müssen, sich endlich mit dem zu befassen, was sich hierzulande breitgemacht hat wie eine Epidemie.
Doch von der Popularität des Islamhasses, dieser neuesten Variante des alten Rassismus, von der ideologischen Wirkungsmacht, die er entwickelt hat, redeten die meisten Journalistinnen und Journalisten nur, um seine Existenz sogleich zu bestreiten. Exemplarisch überschreibt Sabine Rückert ihr Fazit zum Dresdner Prozess in der "Zeit" 47/2009 mit: "Einsamer Hass". Sie behauptet, es gebe, "was die Entstehung der Tat betrifft, keine Lehre zu ziehen aus dieser Tragödie. Was bleibt, ist eine sinnlose Leere." So geschmacklos wie das Wortspiel mit "Lehre" und "Leere", so kurzsichtig ist Rückerts Annahme, hinter Wiens' Tatmotiv stecke nichts, was über "einen mit schweren sozialen Defiziten behafteten Charakter" hinausweise.
Dazu passt, dass die einfühlsame Reporterin es für nötig hält, dem Publikum mitzuteilen, hinter Skimaske und Sonnenbrille, mit denen Wiens sich für die Kamerateams unkenntlich machte, sei "ein weiches Kindergesicht ... verborgen". Davon war Rückert offenbar so überrascht, dass sie völlig vergessen hat, in ihrem langen Artikel auch nur einmal darüber nachzudenken, wie der Täter eigentlich zur Überzeugung kommen konnte, er müsse seinen "Lebensraum" gegen "den Islam" verteidigen, warum er meint, die Muslima Marwa El-Sherbini sei ein minderwertiger Mensch, eine gefährliche "Islamistin", die Anhängerin einer "verrückten und gefährlichen Religion". Die verständnisvolle Reporterin notierte Wiens' antimuslimische Parolen - und belässt es dabei, ihm eine "krude Weltsicht" zu bescheinigen.
Die Verwandtschaft dieser Parolen mit dem, was seit Jahr und Tag von Autoren und Autorinnen wie Necla Kelek, Gudrun Eussner, Henryk M. Broder, Udo Ulfkotte, Ralph Giordano oder Hans-Peter Raddatz geschrieben, auf höchst erfolgreichen Internet-Hassseiten wie "Politically Incorrect" gehetzt, von einer Partei wie Pro Köln zum Zentralpunkt ihres Programms erhoben und von den vielen Bürgerinitiativen gegen Moscheebauten geeifert wird - diese Verwandtschaft ignoriert Sabine Rückert nicht als einzige. Was ihr nicht nennenswert erscheint, davon schweigen die meisten.
Selbst Thilo Sarrazin fällt diesen Journalisten und Journalistinnen nicht ein - als sei es abstrus, einen gedanklichen Zusammenhang herzustellen zwischen Sarrazins rassistischer Rede von denen, die "ständig neue Kopftuchmädchen produzieren", und Alex Wiens' rassistischer Unterstellung, eine Frau, die aus religiöser Überzeugung ein Kopftuch trägt, habe in Deutschland nichts zu suchen. Als sei es unstatthaft, diejenigen, die unermüdlich den Islam und seine Gläubigen dämonisieren, die vor muslimischen "Parallelgesellschaften" und dem angeblichen Vormarsch der Scharia in Deutschland Angst schüren, jetzt, angesichts eines allein von Islamhass diktierten Mordes, für die Ideologie von Alex Wiens mitverantwortlich zu machen.
Gleichwie der Mörder Marwa El-Sherbinis nicht bloß allein gehandelt, sondern auch "einsam" gehasst haben soll, wurde die Tat selbst im Juli dieses Jahres heruntergespielt. Statt Schlagzeilen auf der ersten Seite zu platzieren - wie es bei Schreckensnachrichten dieser Art sonst üblich ist -, verbannten die meisten Zeitungen die Meldung in den Innenteil. Die Bundesregierung begnügte sich damit, den stellvertretenden Regierungssprecher Thomas Steg verkünden zu lassen, man verurteile die Tat "natürlich aufs Schärfste", sofern "ein fremdenfeindlicher, ein rassistischer Hintergrund gegeben sein" sollte.
Dass Alex Wiens wegen islamfeindlicher Pöbeleien gegen Marwa El-Sherbini vor Gericht stand, war zu diesem Zeitpunkt längst bekannt. Zu Recht wunderten sich die Generalsekretäre des Zentralrats der Muslime in Deutschland und des Zentralrats der Juden, Aiman Mazyek und Stephan Kramer, über die "unverständlich spärlichen" Reaktionen in Politik und Medien. "Die, die bisher die Sorge um Islamophobie in Deutschland als eine Phantomdebatte abgetan haben", sagte Kramer, "sehen sich nach diesem furchtbaren Ereignis Lügen gestraft." Die Angesprochenen sahen jedoch gar nichts, sondern verharmlosten und bestritten einfach weiter, bis heute.
Das gezwungene Beileid Angela Merkels
Das ebenso verklemmte wie ignorante Verhalten der deutschen Öffentlichkeit - allein die Ausländerbeauftragte Maria Böhmer fand kurz nach der Tat deutliche Worte - sorgte in Marwa El-Sherbinis Heimatland für beträchtliche Irritation. In einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Rundschau" fragte der ägyptische Germanist Tarik A. Bary am 20. Juli: "Warum hat sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht für die Ermordung der Ägypterin Marwa El-Sherbini entschuldigt? Warum gingen nicht Zehntausende in Deutschland auf die Straße, um dieses Verbrechen zu verurteilen und ihre Empörung und Ablehnung zu zeigen? Und warum haben die deutschen Medien diese Tragödie so kalt behandelt, als habe sie auf einer Insel im Indischen Ozean stattgefunden und nicht in Deutschland?"
Seine Antwort: "(Marwa El-Sherbini) trug ein Kopftuch - und deutsche Bürger hegen Vorurteile gegenüber dem Kopftuch. Während es bei uns ein Zeichen von Religiosität ist, gilt es ihnen als Symbol von Rückständigkeit und von Distanz zur modernen Welt von heute. Deshalb konnten sie sich nicht mit Marwa identifizieren, deshalb ging das Schicksal der jungen Mutter ihnen nicht sehr nahe. Sie haben sie nicht wahrgenommen als eine von ihnen - nur weil sie verschleiert war." Das war eine außerordentlich moderate Erklärung. Wer sich daran gewöhnt hat, dass Musliminnen und Muslime in unseren Medien generell als hyperempfindliche Irre dargestellt werden, die sofort nach Blutrache und Djihad schreien, wenn sie sich angegriffen fühlen, konnte ohnehin nur staunen, wie zurückhaltend die Menschen in Ägypten auf die Ermordung ihrer Landsfrau reagierten.
Zwar nutzten Anhänger der Muslimbruderschaft die Totenfeier für Marwa El-Sherbini dazu, nach Rache zu brüllen, aber es gelang ihnen nicht, den Trauerzug in einen Mob zu verwandeln. Zwar versammelten sich vor der deutschen Botschaft einige Menschen, um zu demonstrieren. Doch trieb sie vor allem um, dass die Bundeskanzlerin, ihr Außen- und ihr Innenminister weiterhin kein öffentliches Wort des Bedauerns für die Tote und ihre Familie übrig hatten. Zwar erschien in einer ägyptischen Zeitung eine Fotomontage, die Angela Merkel mit Naziuniform und Hakenkreuzbinde zeigte.
Gleichzeitig jedoch betonte der ägyptische Botschafter in Deutschland, Ramsi Ess Eldin Ramsi, die deutsche Gesellschaft sei weltoffen, der Mord bringe nicht die Wirklichkeit dieser Gesellschaft zum Ausdruck. Zwar forderten viele Ägypterinnen und Ägypter die Todesstrafe für Alex Wiens. Doch nicht, weil sie von Lynchjustiz träumten, sondern weil sie schlicht nicht wussten, dass in Deutschland - anders als in Ägypten - die Todesstrafe abgeschafft ist. Die irrationalste Reaktion auf den Mord kam nicht aus Ägypten, sondern von Irans Präsidenten Ahmanideschad.
Er forderte eine Verurteilung Deutschlands durch die USA und die Uno. Seine Begründung ließ allerdings erkennen, dass es ihm gar nicht um Marwa El-Sherbini ging, sondern darum, davon abzulenken, wie er wenige Wochen zuvor regimekritische Demonstrationen blutig hatte niederschlagen lassen: "Bei kleinen Vorfällen in Ländern, die sich ihnen widersetzten, verabschieden sie Resolutionen, aber sie achten nicht die Mindestrechte der Menschen in ihren eigenen Ländern."
Selbstverständlich ist es Unsinn, die Bundesregierung für den Mord an Marwa El-Sherbini in Haftung zu nehmen, und ebenso wenig lässt sich der deutschen Justiz vorwerfen, sie habe der Ägypterin die Rechte verweigert, die ihr zustanden. In Ägypten wussten die meisten Menschen das. Deshalb empörten sie sich ja auch über etwas ganz anderes: das Schweigen der Kanzlerin, die fehlenden Sicherheitsvorkehrungen im Dresdner Landgericht - und die Indolenz der nichtmuslimischen Deutschen.
Zu einem Trauerzug für Marwa El-Sherbini in Dresden kamen gerade einmal 1500 Menschen zusammen, die meisten von ihnen muslimischen Glaubens. Als einziger Vertreter der Bundespolitik nahm der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering teil. Und weil es sich wohl nicht mehr umgehen ließ, sprach Angela Merkel am Rande des G8-Gipfels dem ägyptischen Präsidenten ihre Anteilnahme aus. Mittlerweile waren seit dem Mord elf Tage vergangen.
Rassismus in neuem Gewand: Islamfeindschaft
Islamfeindschaft manifestiert sich in der Tat Alex Wiens' unübersehbar. Trotzdem haben einige Kommentatorinnen und Kommentatoren versucht, das Hauptmotiv des Täters zu bagatellisieren. So etwa Alex Feuerherdt, der am 5. November in "Jungle World" den Täter als "ordinären Rassisten" bezeichnete, der "auch - aber nicht ausschließlich - Muslime" hasse. Deshalb sei es verfehlt, Wiens "als Vollstrecker einer angeblich grassierenden 'Islamophobie' zu betrachten". Doch es war nicht "auch", sondern ausschließlich Hass auf die Muslima, die den Mörder antrieb. Als Wiens sein späteres Opfer auf einem Spielplatz beleidigte, fixierte er sich auf ihr Kopftuch, nicht auf ihre Herkunft (er wusste damals noch gar nicht, dass sie aus Ägypten stammte). Er beschimpfte sie als Terroristin und Islamistin; Leute wie sie hätten seit dem 11. September 2001 kein Recht mehr, in Deutschland zu leben.
Den Strafbefehl über 330 Euro, den ihm die Dresdner Staatsanwaltschaft für diese Diffamierungen erteilt hatte, verweigerte er, was er wiederum damit begründete, Menschen muslimischen Glaubens hätten in diesem Land kein Lebensrecht. Beim ersten Prozess vorm Amtsgericht wiederholte er seine Hetzreden gegen den Islam und fragte die als Zeugin geladene Marwa El-Sherbini, was sie eigentlich in Deutschland wolle. Die Besessenheit, mit der Wiens Musliminnen und Muslime diskriminiert und attackiert, ist eben nicht, wie Feuerherdt behauptet, ein Nebenaspekt im rassistischen Weltbild des Mörders. Das stellte auch Richterin Wiegand in ihrer Urteilsbegründung am vergangenen Mittwoch fest. In erster Linie, betonte sie, habe Alex Wiens Musliminnen und Muslime verachtet: "In seinen Augen waren sie alle Islamisten."
Es stimmt zweifellos, dass Wiens ein Rassist ist. Aber sein spezieller Rassismus richtet sich nicht gegen die Farbe der Haut, sondern gegen ein Tuch auf dem Kopf, nicht gegen die Gene, sondern gegen den Glauben: Er hat ein klares Feindbild, und das heißt Moslem. Dies herunterzuspielen, Wiens' antiislamische Ideologie als eine Art Abfallprodukt seines "ordinären" Rassismus abzutun, statt darin den Kern und Antrieb seines rassistischen Redens und Handelns zu erkennen, geht nicht bloß an den Tatsachen vorbei. Es dient zugleich dem Zweck, den Antiislamismus selbst zu verharmlosen, die Abscheu vor Musliminnen und Muslimen, die sehr wohl in Deutschland grassiert, als etwas "Angebliches" zu zerreden. Wenn Alex Wiens' Islamhass eine Nebensächlichkeit wäre, wäre auch das Phänomen Islamhass eine Kleinigkeit.
Die Aufmerksamkeit für den Mordprozess in Dresden hätte, spekuliert Feuerherdt, niemals solche Ausmaße angenommen, wäre Marwa El-Sherbini keine Muslima, sondern "eine säkulare Migrantin aus Ägypten oder gar eine Asylbewerberin aus Vietnam" gewesen: "Denn wenn diese hierzulande von Rassisten abgestochen werden, rührt sich nachweislich kaum eine Hand". Dass sich auch für Frau El-Sherbini kaum eine Hand rührte, dass es mit der medialen Aufmerksamkeit zumal in den Tagen nach dem Mord nicht weit her war, könnte Feuerherdt wissen, wenn er es wollte.
Doch ihm entgeht ja gleichfalls, dass noch nie eine säkulare Migrantin aus Ägypten oder eine Asylbewerberin aus Vietnam in einem deutschen Gerichtssaal mit 18 Messerstichen nachgerade abgeschlachtet worden ist. Ebenso wenig interessiert Feuerherdt sich dafür, warum weder Richter noch Staatsanwalt es am 1. Juli für nötig hielten, den Angeklagten nach Waffen untersuchen zu lassen, bevor sie ihn mit der Frau konfrontierten, der Wiens zuvor sogar schriftlich attestiert hatte, sie habe kein Recht zu leben. Feuerherdt will all diese Gründe für das große mediale Echo des Dresdner Mordprozesses nicht wahrhaben. Denn seiner Meinung nach grassiert in Deutschland nicht die Ablehnung, vielmehr eine übertriebene Wertschätzung des Islam.
Retourkutschen und die „Achse des Guten“
Auch Michael Miersch, der am 12. November für die "Welt" das Urteil gegen Alex Wiens kommentierte, hält Islamhass für ein Gerücht: "Außerhalb des Gerichts versammelten sich nur 100 aus ganz Deutschland angereiste Muslime, um zu protestieren. Das zeigt, dass die Propaganda nicht gefruchtet hat, die Alex W. zum Vollstrecker einer angeblich islamfeindlichen Stimmung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft stilisieren wollte. Die muslimischen Bürger Deutschlands glauben diesen Unsinn natürlich nicht." Es waren allerdings nicht irgendwelche Musliminnen und Muslime, die da protestierten, sondern Anhänger und Anhängerinnen des deutschen Salafismus mit ihrem Starprediger Pierre Vogel.
Dem Demonstrationsaufruf dieser fanatischen Sektierer und Sektiererinnen nicht gefolgt zu sein, spricht allerdings sehr für die Liberalität und die politische Klugheit der muslimischen Menschen in Deutschland. Für Mierschs Behauptung, es gäbe keine islamfeindliche Stimmung in Deutschland, spricht es nicht. Nur wenige Stunden nach dem Urteil kommentierte "Politically Incorrect" die Demonstration mit diesen Sätzen: "Ein Höhepunkt der Versammlung war die Durchführung eines Gebetsrituals direkt vor dem Dresdener Landgericht. Man stelle sich das umgekehrt in Kairo vor: Wegen einer erstochenen Christin versammeln sich hundert Christen vor dem obersten Gericht und feiern eine Art Totenmesse für die Frau. Ein Massenmord an Ort und Stelle wäre fraglos die Folge." Fraglos denkt auch Alex Wiens so.
Michael Miersch hat nicht nur eigenwillige Beweismethoden. Er pflegt auch eine enge Verbindung mit einem Autor, der seit Jahren nach Kräften jene islamfeindliche Stimmung verbreitet, die es angeblich gar nicht gibt. Miersch ist Redakteur des Weblogs "Die Achse des Guten", eines Netzwerks neoliberaler und erzkonservativer Publizistinnen und Publizisten. Der prominenteste Autor dieses Blogs heißt Henryk M. Broder. Mit seinem Pamphlet "Hurra, wir kapitulieren!" verfasste er eines der einflussreichsten und meistgelesenen Handbücher der deutschsprachigen Islamfeinde. In Aberdutzenden Artikeln und Essays für den "Spiegel" und dessen Internet-Ableger, für "Tagesspiegel", "Welt" und "Weltwoche", in zahllosen Interviews und Talkshow-Auftritten hat Broder das Schreckgespenst Islam beschworen, das demnächst Europa unterwerfen werde - dank erhöhter Geburtenrate und "unserer Lust am Einknicken".
Broder orakelt von der Einführung der Scharia in Deutschland, deklariert die wesenseigene Unwilligkeit von Musliminnen und Muslimen zur Integration und macht als größtes Übel in der politischen Landschaft die "Gutmenschen" aus, die von "Multikulti" träumen und sich dem Islamismus bereits vor seinem Endsieg in vorauseilendem Gehorsam unterwerfen. Ob Alex Wiens die antiislamischen Texte und Reden Broders kennt, lässt sich nicht sagen, ausschließen jedoch auch nicht: Dazu war die mediale Präsenz Broders in den vergangenen Jahren einfach zu groß.
Statt angesichts des Mordes in Dresden endlich innezuhalten mit seinen islamfeindlichen Tiraden und darüber nachzudenken, was er angerichtet hat mit Sätzen wie diesem: "Natürlich sind nicht alle Moslems Terroristen, aber leider sind so gut wie alle Terroristen der letzten Zeit Moslems" -, statt also einfach mal Ruhe zu geben, setzte Broder sich für die "Weltwoche" hin und verfasste seine Meinung zum Fall. Und weil es ihm offenbar sehr wichtig war, dieses infame Stück auch außerhalb der Schweiz bekannt zu machen, veröffentlichte er es wenig später ebenfalls in "Die Achse des Guten". Unter dem Titel "Extremisten und Opportunisten" verliert Broder sehr wenige Worte über den Islamhass Alex Wiens', hingegen sehr viele, um all jene zu denunzieren, die sich bestürzt zeigten über die offenkundig gewordene Virulenz antiislamischer Ideologie.
Ob "muslimische Verbände" oder die SPD-Politikerin Lale Akgün, ob Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland oder der ägyptische Botschafter, ob iranisches Außenministerium oder Franz Müntefering - sie alle nutzten, so Broder, die Bluttat, um den Deutschen eine Schuld einzureden, die sie gar nicht haben. "So kochte jeder sein Süppchen, und keiner traute sich, den Satz zu sagen, der nach jedem 'Ehrenmord' gesagt wird: dass man nicht eine Gruppe oder ein Volk unter 'Generalverdacht' stellen dürfe." Nun hatte nicht einmal Ahmanideschad behauptet, alle Deutschen seien potenzielle Muslimmörder. Ebenso wenig hatte Akgün erklärt, alle Deutschen seien islamophob. Doch Broder genügte schon das Warnen vor der Islamophobie, um von einem "Generalverdacht" zu flunkern.
Sein Text ist durchzogen von einer ebenso kindischen wie platten Leidenschaft für die Retourkutsche. Er verrechnet das Verbrechen in Dresden mit den sogenannten "Ehrenmorden" - weil Broder weismachen will, diese Taten seien ebenso ideologisch motiviert wie rassistische Morde -, er kontert den Vorwurf der Islamfeindschaft in Deutschland mit einem Hinweis auf die Verfolgung der Baha'i im Iran, und der Forderung Münteferings nach einem Verbot rechtsextremer Parteien begegnet er mit der Bemerkung, in Teheran hätten Demonstranten das Tor zur deutschen Botschaft mit einem Hakenkreuz beschmiert.
Vollends degoutant wird Broder zum Schluss: "(Fast) gleichzeitig mit dem Dresdner Mord (geschah) in Hamburg eine ähnliche Tat. Ein 23 Jahre alter Hamburger wurde in der Wandelhalle des Hauptbahnhofs durch einen Messerstich tödlich verletzt. Der Täter entkam unerkannt und stellte sich später den Behörden. Es war, so der Polizeibericht, 'ein 19-jähriger Deutscher türkischer Abstammung'. Weder die Kanzlerin noch der türkische Ministerpräsident bezogen zu dem Vorfall Stellung."
Wie unsauber Broder argumentiert, lässt sich bereits daran erkennen, dass er die beiden Taten "ähnlich" nennt, obwohl sich hier allein die Tatwaffen ähneln. Gleichzeitig unterschlägt er, dass der Haftrichter den Messerstecher bereits einen Tag später wieder laufen ließ. Die "Hamburger Morgenpost" berichtete am 1. Juli - auch das hätte Broder aufschreiben können, aber er hatte seine schlechten Gründe, es nicht zu tun -, "daß Özgur S. am Tatort offenbar von Vjaceslav R. provoziert und angegriffen worden ist. Der 19-Jährige könnte in Notwehr gehandelt haben." Meint Broder, wenn er den Mord in Dresden und den Totschlag in Hamburg miteinander vergleicht, denn im Umkehrschluss auch, Alex Wiens habe in Notwehr gehandelt? Oder ist Broder so versessen darauf, rassistische Gewalt und rassistisches Denken zu verharmlosen, dass er alles in einen Topf wirft, nur damit er weiter sein islamfeindliches Süppchen kochen kann?
Die Angst und der Argwohn vor dem Islam in Deutschland manifestieren sich auch in dem, was nach dem Mord an Marwa El-Sherbini nicht geschah. Es gab keine Debatte über die geistigen Brandstifterinnen und Brandstifter - weder über die Starautoren und -autorinnen der Islamfeindschaft noch über ihre vielen tausend Multiplikatoren in Presse, Fernsehen und Internet. Es wurde nicht über Pro Köln und "Politically Incorrect" geredet, nicht über das Kopftuchverbot an deutschen Schulen (bei gleichzeitiger Erlaubnis der Nonnenhaube und des Kruzifixes), nicht über die Diskriminierung von türkischen und arabischen Migrantinnen und Migranten auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche, nicht über die niedersächsische Polizei, die verdachtsunabhängig Besucherinnen und Besuchern von Moscheen kontrolliert, nicht über die empirischen Studien, denen zufolge jede und jeder zweite Deutsche eine negative Haltung zu Musliminnen und Muslimen hat.
Dieselben Politikerinnen und Politiker, die der Türkei lautstark mit diplomatischen Schritten und Sanktionen gedroht hatten, weil dort der mutmaßliche deutsche Vergewaltiger eines englischen Kindes inhaftiert worden war, kriegten den Mund nicht auf, um ihr Entsetzen vor dem Mord an Marwa El-Sherbini auszudrücken. Diese Angelegenheit war es ihnen offenbar nicht wert.
Buisness as usual
Wie schwer auch die deutschen Medien sich dabei tun, ihre Ressentiments gegen Musliminnen und Muslimen abzulegen, zeigten sie deutlich genug zum Auftakt des Prozesses gegen Alex Wiens. Die enormen Sicherheitsmaßnahmen am Dresdner Landgericht - sogar Scharfschützen standen bereit - erschienen den angerückten Reporterteams interessanter als der Fall selbst. Doch nicht, um sie zu kritisieren: Gleichwie die Polizei erwarteten sie, ohne dafür einen triftigen Grund zu besitzen, einen Terroranschlag islamistischer Attentäter auf den Mörder Marwa El-Sherbinis. Als Anschläge ebenso ausblieben wie militante Demonstrationen, zogen die meisten Teams, vermutlich enttäuscht, wieder ab.
Die Frage, warum gerade an einem Ort, an dem ein islamfeindlicher Mord geschehen war, die Panik vor Musliminnen und Muslimen, das Ressentiment gegen deren vermeintlichen Rache- und Blutdurst sich mit aller Staatsmacht zur Schau stellte, kümmerte die wenigsten. Es kümmerte gleichfalls wenige, dass die meisten Zeitungsartikel über die Verhandlung unter dem Rubrum "Marwa-Prozess" veröffentlicht wurden - so, als habe das Opfer vor Gericht gestanden, als sei diese Dachzeile objektiver als das Rubrum "Islamhass-Prozess". Vielleicht war hier nur Gedankenlosigkeit im Spiel. Aber gerade sie lässt bösen Gedanken mehr Raum, als sie haben sollten.
Zum Glück gab es auch Journalistinnen und Journalisten, die vor dem Mord ebenso wie vor seinem Motiv erschraken, die erkannt haben, dass die Islamfeindschaft eine Gefahr und Alex W. ein Einzeltäter, mit seinem Hass jedoch kein Einzelfall ist. So kommentierte Hans Holzhaider, der für die "Süddeutsche Zeitung" den Prozess beobachtete, am 12. November: "Es bleibt die höchst beschämende und alarmierende Tatsache, dass es in Deutschland ein tödliches Risiko sein kann, ein Kopftuch zu tragen. (...) Es ist nur ein gradueller Unterschied, ob man eine kopftuchtragende Frau vom Spielplatz oder aus dem Klassenzimmer verbannt."
Den meisten Medienschaffenden allerdings ist ihre eigene Islamfeindschaft sogar angesichts des Falls in Dresden nicht bewusst geworden. Gisela Friedrichsen vermutete in "Spiegel online", Alex Wiens könnte seinen Muslimhass aus Adolf Hitlers "Mein Kampf" gelernt haben. Aber vielleicht hatte Wiens bloß in den "Spiegel" gesehen? Also in das Blatt, das seine Ausgabe 13/2007 mit diesem Titel aufmachte: "Mekka Deutschland - Die stille Islamisierung". Friedrichsen entsetzt sich vor dem Mörder, doch sie kommt nicht auf die Idee, dass es ihr vor sich selbst grausen müsste.
Nach dem Urteil gegen den Hamburger Ahmad Obeidi, der seine Schwester ermordet hatte, schrieb sie am 13. Februar dieses Jahres, gleichfalls auf "Spiegel online": "Da leben Menschen unter uns in einer unzugänglichen Parallelgesellschaft, die sehen die Tötung eines jungen Mädchens als 'Kleinigkeit' an. (...) Der Traum von Multikulti ist längst ausgeträumt." Welchen dieser Sätze könnte Alex Wiens nicht sofort unterschreiben? Wohl, Islamophobie und Islamhass grassieren in Deutschland. Die Dummheit, Frechheit und Niedertracht, sie zu kleinzureden oder glatt zu bestreiten, ist aber noch weiter verbreitet.
Kurz vor Ende des Prozesses gegen Alex Wiens lief für die prinzipiell Skrupellosen vom Boulevard längst wieder "business as usual". Am 9. November titelte "Bild": "Schöne Türkin vom Ehemann ermordet?" Obwohl die Polizei zu den Motiven des mutmaßlichen Täters noch gar nichts sagen konnte, wusste "Bild" bereits, was hier passiert war: "Schon wieder so ein verdammter 'Ehrenmord'!" Der Tod Marwa El-Sherbinis hätte eine Gelegenheit sein können, ja, müssen, solche antimuslimischen Ausfälle zumindest öffentlich für immer zu ächten. Außer Arne Semsrott in "Bildblog" fiel jedoch niemandem etwas auf. Alex Wiens war ein Einzeltäter. Allein ist er nicht.
Literatur
Kay Sokolowsky: Feindbild Moslem. Rotbuch Verlag, Berlin 2009.
Kay Sokolowsky ist freier Journalist und Schriftsteller. Er veröffentlichte mehrere Bücher als Medienkritiker und arbeitete als Dozent an der Universität Hamburg. Sein neuestes Buch "Feindbild Moslem" ist im August 2009 erschienen.(Foto:Martina Bendler)