von Gesa S. Ederberg
Bei der Diskussion um Religionsunterricht an staatlichen Schulen geht es an die Substanz – es geht um unser Selbstverständnis als Juden in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft – und das auch noch in Deutschland!
Ein „weltanschaulich neutraler“ Ethikunterricht klingt auf den ersten Blick verlockend – die Kinder und Jugendlichen beschäftigen sich gemeinsam, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion mit wichtigen und guten Themen wie „Identität“, „Verantwortung“ oder „Schuld, Pflicht und Gewissen“.
Jedoch: die weltanschauliche Neutralität, wie sie die Vertreter des Pflichtfaches Ethik voraussetzen, ist nicht möglich: Menschen haben eine eigene Geschichte und eigene Standpunkte. Als religiöse Minderheit erleben wir tagtäglich, wie sehr die Mehrheitsgesellschaft christlich geprägt ist – selbst Kritik an Religion ist meistens Kritik an der christlichen Religion!
Erst langsam entsteht in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein, dass auch andere Religionen gesellschaftlich relevant sind – zu häufig wird dabei jedoch nur der Islam, und dieser als Bedrohung wahrgenommen. Es ist entscheidend, dass die religiösen Minderheiten – und damit auch die jüdische Gemeinschaft – ihren Platz im öffentlichen Raum beanspruchen. Sowohl physisch, durch den Bau von Synagogen, als auch geistig, durch die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs. Gerade als Jüdische Gemeinde sind wir oft zu sehr mit uns selbst beschäftigt und unsere Stimme erklingt zu selten zu gesellschaftlich relevanten Themen!
Wenn es um die Vermittlung von Werten geht, sind sich die großen Religionen und der Ethik-Rahmenlehrplan des Landes Berlin in vielen Dingen einig. In den verschiedenen religiösen oder philosophischen Traditionen werden dieselben Werte jedoch auf ganz unterschiedliche Weise verankert. Ein neutraler Ethikunterricht beraubt die Kinder und Jugendlichen der Möglichkeit, sich in ihrer eigenen Tradition zu verankern.
Diese Verankerung muss zunächst gelehrt und gelernt werden, bevor die Kinder und Jugendlichen miteinander sinnvoll ins Gespräch kommen können. Jugendliche in der 7. Klasse sind überfordert, wenn sie in einem interkulturellen Unterricht Experten für Judentum sein sollen. Ein zusätzlicher, freiwilliger Religionsunterricht, der meist an den Rand der Stundentafel gedrängt wird, kann das ebenfalls nicht leisten.
Ich halte es für die ideale Lösung, wenn ein gemeinsamer Rahmenplan für Ethik- und Religionsunterricht der verschiedenen Religionsgemeinschaften erarbeitet wird, sodass ausgehend von der jeweils eigenen religiösen Tradition und Erfahrung von allen die gleichen Themen mit den gleichen Kompetenzerwerbzielen unterrichtet werden. Nachdem die Themen innerhalb einer Religion erarbeitet wurden, sollen sie dann wieder in das Plenum der Klasse zurückgetragen werden. Um dies zu ermöglichen schlägt die Initiative
„Pro Reli“ vor, dass ein Viertel des Unterrichts gemeinsam stattfinden soll.
Dass guter Religionsunterricht der bessere Ethikunterricht ist, möchte ich mit einem Beispiel aus dem Rahmenlehrplan Ethik des Landes Berlin zeigen: Zum Themenfeld 5 – Schuld, Pflicht, Gewissen nennt der Rahmenplan für „Pflicht“ folgende Beispiele: „Habe ich die moralische Pflicht, einem Obdachlosen eine Spende zu geben?“ Und: „Die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten.“
Selbstverständlich kann dieses Thema den SchülerInnen aufgrund ihrer eigenen Erfahrung in der U-Bahn und mit allgemeinen Texten aus verschiedenen Traditionen nahe gebracht werden – und wahrscheinlich kommen sie auch zu einem differenzierten Ergebnis. Jedoch: Wie bereichernd wäre der Unterricht für jüdische Schüler und Schülerinnen, wenn ausgehend vom Obdachlosen in der Berlin U-Bahn das Thema „Zedaka“ behandelt würde, mit klassischen jüdischen Texten und Beispielen aus Jahrhunderten jüdischer Geschichte, und wenn beim Begriff „Pflicht“ zunächst der Begriff „Mizwa“ in seiner ideengeschichtlichen Vielfalt eingeführt würde. Und wenn dann im letzten Viertel der Einheit jüdische, christliche und muslimische Jugendliche zusammenkommen, um das gerade erarbeitete Eigene miteinander zu teilen, festzustellen, wo Unterschiede sind und wo Gemeinsamkeiten bestehen, dann könnte man sicher sein, dass wirkliche Begegnung auf der Grundlage eigener reflektierter Identität stattfindet.
Das Grundgesetz hat sich – als Konsequenz aus dem totalitären Anspruch des Nationalsozialismus – beschränkt und den Unterricht in Ethik und Moral aus der Gewalt des Staates an das Gewissen des Einzelnen und an die Religionen verwiesen und ermöglicht diesen auch an öffentlichen Schulen. Diese staatliche Beschränkung und die dadurch gewonnene Freiheit sollten wir nicht aufgeben.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift „Jüdisches Berlin“. Nr. 108 vom November 2008
Gesa S. Ederberg ist Rabbinerin der Synagoge Oranienburger Straße der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sowie Geschäftsführerin von Masorti e.V. - Verein zur Foerderung der jüdischen Bildung und des jüdischen Lebens.