Positive Maßnahmen – Eine Einführung

Arbeiter in Autofabrik

 

von Sibylle Raasch

Was Positive Maßnahmen sind, ist nirgends durch Normen verbindlich definiert. Auch die neuen EU-Antidiskriminierungsrichtlinien aus den Jahren 2000 bis 2004 sowie ihre Umsetzung im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aus dem Jahr 2006 liefern keine Legaldefinition. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) und des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) überprüfen allerdings schon seit Jahren einzelne Positive Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union (EU) bzw. dem Grundgesetz. Sie haben bei dieser Gelegenheit verallgemeinerbare Maßstäbe für ihre zulässige Zielsetzung und Anwendung entwickelt. Der Begriff selbst ist eine Übersetzung von „positive action“. Er meint, dass über bloße Nichtdiskriminierung hinaus auch aktiv, also positiv, Maßnahmen ergriffen werden sollen, um Diskriminierung und ihren Folgen entgegenzuwirken.

Die Idee zu positive action stammt aus den USA, wo jedoch meist von „affirmative action“ (vgl. den Beitrag von Michael Werz in diesem Dossier) gesprochen wird. In Europa hat sich eher „positive action“ durchgesetzt, ohne dass damit jedoch inhaltlich andere Akzente gesetzt würden. Bei US-amerikanischer affirmative action stand anfangs der Kampf gegen Rassismus und die gesellschaftliche Benachteiligung afrikanisch stämmiger Minoritäten im Vordergrund, während Frauenbenachteiligung erst im zweiten Schritt mit einbezogen wurde. In der Europäischen Union (EU) ging es anfangs um die Verbesserung der gesellschaftlichen Position von Frauen, also einer Bevölkerungsmehrheit. Der Kampf gegen Rassismus und seine Folgen trat erst später hinzu.

Diskriminierungsverbote und Positive Maßnahmen, eine notwendige, aber schwierige Verbindung

Ziel jeder umfassenden Antidiskriminierungspolitik ist es, mehr Gerechtigkeit und Egalität herzustellen, wo bislang in Anknüpfung an bestimmte für das Individuum unveränderliche Merkmale gesellschaftlich benachteiligt wurde. Dieses Mehr an sozialer Gleichheit muss jedoch erreicht werden, ohne die Unterschiedlichkeit von Individuen einfach einzuebnen. Denn zur unveräußerlichen und unantastbaren Menschenwürde gehört es gerade, dass individuelle Verschiedenheit zu respektieren ist und nicht in platter Angleichung an die Mehrheits-Kultur einfach zum Verschwinden gebracht wird. Es geht nicht um Gleichmacherei, sondern um Chancengleichheit für Ungleiche.

Diskriminierung und Chancengleichheit

Nichtdiskriminierung allein reicht jedoch nicht, eine gesellschaftlich über Generationen hinweg gewachsene und in den Strukturen von Gesellschaft und Psyche der Gesellschaftsmitglieder tief verankerte Abwertung und Zurücksetzung ganzer gesellschaftlicher Gruppen aufzuheben. Chancengleichheit stellt sich nicht quasi naturwüchsig her, wenn durch das Recht bloß Diskriminierung im Einzelfall unterbunden wird. Es bedarf einer aktiven Umgestaltung der bisherigen Strukturen, in denen diese Gruppenbenachteiligung eingeschrieben ist, damit Individuen aus bisher benachteiligten Gruppen in der Zukunft tatsächlich gleiche Handlungs-, Teilhabe- und Entwicklungsmöglichkeiten bekommen. Das Diskriminierungsverbot verlangt aber lediglich ein bloßes Nicht-Tun.

Positive Maßnahmen hingegen sind ein aktives Tun, um die Strukturen in der Gesellschaft in einzelnen Organisationen und in den Köpfen der Menschen umzugestalten. Nur durch ein Zusammenwirken von Diskriminierungsverboten und Positiven Maßnahmen kann der zur Herstellung tatsächlicher Chancengleichheit unerlässliche soziale Wandel tatsächlich bewirkt werden.

Positive Maßnahmen: diskriminierend?

Zum Verhältnis zwischen Diskriminierungsverboten und Positiven Maßnahmen stellen sich juristisch jedoch zwei Grundfragen. Wann schlägt erstens eine Positive Maßnahme zugunsten bislang Benachteiligter ihrerseits in eine Diskriminierung von bislang Begünstigten um? Juristisch spricht man hier von einem Fall der umgekehrten Diskriminierung (reverse discrimination). Am Beispiel der Frauenquoten hat sich der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) mit dieser Kollision schon breit auseinandergesetzt und Quoten grundsätzlich zugelassen.

Diskriminierung durch Unterlassen

Doch wann ist zweitens die Situation bislang Benachteiligter so schlecht, dass bereits das Unterlassen von Positiven Maßnahmen als Diskriminierung durch Unterlassen zu werten ist? Juristisch handelt es sich hier um einen Fall der Verletzung von Schutzpflichten im Sinne eines Untermaßverbots. Bislang wird beim Untermaßverbot im deutschen Recht nur an staatliche Handlungspflichten gedacht, wie sie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erstmals im Zusammenhang mit dem Schutz des ungeborenen Lebens vor einem Schwangerschaftsabbruch entwickelt hat.(1) Ausgangspunkt sind hier jeweils einzelne Grundrechte, die vom Ansatz her eigentlich nur als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe konzipiert sind. Genügt der bloße staatliche Nichteingriff aber nicht, den Grundrechtsschutz in der Realität durchzusetzen, kann die wertsetzende Bedeutung eines Grundrechts im Extremfall auch aktives staatliches Handeln verlangen.(2)

Schutzpflichten zugunsten gesellschaftlich Benachteiligter könnten in Weiterentwicklung dieses Gedankens künftig auch bei privaten Unternehmen angedacht werden, insofern diese es sind, die allein über die zur Beseitigung bestehender Benachteiligung notwendigen Ressourcen verfügen, insbesondere Arbeitsplätze. Im Behindertenschutz jedenfalls klingt dieser Gedanke im Fall der Verpflichtung der ArbeitgeberInnen zu angemessenen Vorkehrungen entsprechend Art. 5 RL 2000/78/EG bereits an: Unterlässt ein/e ArbeitgeberIn zumutbare angemessene Vorkehrungen zugunsten einer oder eines konkreten behinderten Beschäftigten, so dass im Einzelfall eine bestimmte Tätigkeit nicht ausgeübt werden kann, wertet die Richtlinie dieses eher als Diskriminierung denn als bloße Unterlassung einer Positiven Maßnahme.(3)

Klarer wäre es allerdings, wenn der europäische und/oder der deutsche Gesetzgeber explizit nicht nur das Schutzgut, die Beseitigung bestehender gesellschaftlicher Benachteiligung und ihrer Folgen, sondern auch positive Handlungspflichten für diejenigen privaten AkteurInnen formulieren würde, die für eine solche Beseitigung aktiv werden müssten.

Frauenförderung, Gleichstellungspolitik, Diversity Management in Deutschland

Einzelne behinderte Menschen werden in Deutschland schon seit langem nicht nur geschützt, sondern auch gefördert. Zugunsten von Frauen als Gruppe und gesellschaftliche Mehrheit setzten Positive Maßnahmen Ende der 70er Jahre ein. Begrifflich sprach man anfangs von „Frauenförderung“. Dieser Begriff legte in patriarchaler Bevormundung jedoch immer nahe, Frauen hätten im Vergleich zu Männern persönliche Defizite, welche die Frauen selber aufgerufen seien abzustellen. Inhaltlich ging es anfangs dem entsprechend auch um konkrete Aus- und Weiterbildungsprogramme wie „Frauen in Männerberufe“ oder „Frauen in Führungspositionen“.

Gleichstellungspolitik im öffentlichen Dienst

Unter Berufung auf die Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes wurden in Landesverwaltungen und Universitäten bald auch längerfristig angelegte Frauenförderprogramme implementiert. Dabei wurde zur neutraleren Formulierung „Gleichstellungspolitik“ übergegangen. Den Frauenförderrichtlinien für den öffentlichen Dienst Hamburgs und Bremens 1984 folgten in Nordrhein-Westfalen und dem Saarland 1989 erste Frauenförderungsgesetze und 1990/91 in Berlin, Bremen und Hamburg die ersten Gleichstellungsgesetze für den öffentlichen Dienst.(4) Seit den 90er Jahren verfügen der Bund und alle Bundesländer über Frauenförder- oder Gleichstellungsgesetze für ihren öffentlichen Dienst. Die Umsetzung der Gleichstellung von Frauen wird durch Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte in Bund, Ländern und Gemeinden flankiert.

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Positiven Maßnahmen

Am 27.4.1994 wurde dem Gleichberechtigungssatz des Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ein weiterer Satz 2 angefügt: „Der Staat fördert die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Damit wurde die schon zuvor bestehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Zulässigkeit Positiver Maßnahmen im Grundgesetz festgeschrieben.(5) Das BVerfG sieht die Grenze für Positive Maßnahmen vor allem dort, wo diese in Wahrheit gar nicht der Durchsetzung von Chancengleichheit für die Zukunft dienen, sondern tradierte Geschlechterrollen und damit verbundene Vorurteile, aber auch Privilegien aus der Vergangenheit in die Zukunft fortschreiben wollen. Es hat deswegen Hausarbeitstage nur für Frauen (6) und die Freistellung von Arbeiterinnen von der Nachtarbeit für verfassungswidrig erklärt.(7) Zur Frauenquote hat es sich bislang nicht geäußert, obwohl ihm zeitweise entsprechende Fragen vorlagen, die sich dann aber durch bloßen Zeitablauf (und anderweitige Beförderung der sich diskriminiert fühlenden Männer) wieder erledigten.

Positive Maßnahmen in der Privatwirtschaft

In der Privatwirtschaft hingegen ist es bei einzelnen Positiven Maßnahmen geblieben. Nur selten und zumeist nur in Großunternehmen wird Gleichstellungspolitik systematisch und mit langfristiger Orientierung betrieben. Ein umfassendes Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft (8) scheiterte 2001 mit der wenig verbindlichen Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft. Damals sicherte die Bundesregierung der Wirtschaft zu, neue Gesetze im Gleichstellungsbereich nur dann einzuführen, wenn dazu eine Verpflichtung aus EU-Recht bestünde, solange die Absichtserklärung der Wirtschaftsverbände zu Nichtdiskriminierung und Positiven Maßnahmen Wirkung zeige.

Die dafür bislang vorgelegten Bilanzen Chancengleichheit aus den Jahren 2003, 2006 und 2008 zeigen aber, dass die Vereinbarung nicht wirkt und im Bereich der Wirtschaft keine neue Dynamik angestoßen hat. Vor allem fehlen statistisch nachweisbare Verbesserungen für Frauen im Erwerbsbereich. Andere Merkmale als Geschlecht sind in diese Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit nicht einbezogen.

Diversity Management

Die Beschränkung von Positiven Maßnahmen auf die Merkmale Geschlecht und Behinderung in Unternehmen und Verwaltungen könnte für die Zukunft durch eine neue Strategie aufgebrochen werden. Diversity Management (DiM) ist eine Managementstrategie, die neben Geschlecht auch andere Merkmale positiv einbeziehen will, um mehr Vielfalt im Unternehmen zu ermöglichen. Auch DiM kommt aus den USA. DiM zielt auf einen grundlegenden Wandel der Organisationskultur ab: Die bislang in den Betrieben vorherrschende Orientierung an einer Mehrheitskultur, geprägt vor allem durch die Merkmale männlich, weiß, jung, ohne gesundheitliche Einschränkungen und heterosexuell, soll abgelöst werden durch eine Kultur der Vielfalt, welche die bislang ausgeschlossenen Merkmale positiv integriert. Die neuen Handlungsmaximen lauten: Regeln und Standards, die für alle passen, und Respekt vor der Andersartigkeit.(9)

Als Grenze für DiM gilt jedoch, was schon für die vorherigen Positiven Maßnahmen auf freiwilliger Basis galt: DiM muss sich aus Sicht eines Unternehmens auf absehbare Zeit rechnen. Vielfalt in der Belegschaft ist kein ethisch-altruistisches Konzept, sondern eine Personalentwicklungsstrategie, die hofft, Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zu umgehen, die Arbeitsleistung im Betrieb zu erhöhen, mehr Kreativität für das Unternehmen freizusetzen und damit das Unternehmensergebnis in Form von Produkten oder Dienstleistungen zu verbessern und den Gewinn des Unternehmens zu steigern.

Außerhalb der Gewinnzone lässt demnach auch DiM keine Positiven Maßnahmen der Unternehmen zugunsten von bisher benachteiligten Beschäftigtengruppen erwarten. Das Recht und der Gesetzgeber sind demnach trotz DiM weiter gefordert, damit Chancengleichheit für alle Bevölkerungsgruppen und in allen Organisationen auch im privaten Sektor systematischer als bisher sichergestellt werden kann.

Die Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union

Ein Verbot von Geschlechtsdiskriminierung im Entgeltbereich wurde bereits bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 im Art. 119 EWG als Primärrecht verankert. Verschiedene Antidiskriminierungsrichtlinien folgten ab 1975 und bauten das Verbot sekundärrechtlich schrittweise zu einem umfassenden Verbot von Geschlechtsdiskriminierung im Erwerbsbereich aus. Die Richtlinie (RL) 76/207/EWG aus dem Jahr 1976 sah bereits in Art. 2 Abs. 4 eine Ausnahmemöglichkeit zugunsten Positiver Maßnahmen vor.

Ausweitung des EU-Diskriminierungsschutzes

Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde 1999 über Art. 13 EG-V, inzwischen Art. 19 AEUV, der Diskriminierungsschutz über Geschlecht hinaus auf die Merkmale (zugeschriebene) "Rasse", ethnische Herkunft, Religion/Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung ausgedehnt. Zugleich wurde die bisherige Beschränkung der EU-Antidiskriminierungspolitik auf den Bereich von Beschäftigung und Beruf aufgegeben und somit das allgemeine Vertragsrecht bei Gütern und Dienstleistungen mit einbezogen.

Mit dem Vertrag von Lissabon wurde 2009 auch das bisher noch unverbindliche allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 21 EU-Grundrechte-Charta verbindliches Gemeinschaftsrecht. Damit sind zusätzlich zur Diskriminierung in Anknüpfung an die Merkmale aus Art. 13 EG-V jetzt auch Diskriminierungen wegen der Sprache, der politischen oder sonstigen Anschauungen, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens sowie der Geburt verboten. Durch die Voranstellung von „insbesondere“ wird deutlich, dass es sich hier nur um eine beispielhafte Auflistung besonders diskriminierungsgefährdeter Merkmale handeln soll, also noch weitere Merkmale hinzukommen können. Auch die gesondert vom allgemeinen Diskriminierungsverbot in Art. 23 Satz 1 EU-Grundrechte-Charta geregelte Gleichheit von Männern und Frauen wurde verbindliches Gemeinschaftsrecht. Sie ist nunmehr „in allen Bereichen“ sicherzustellen.

Positive Maßnahmen nach primärem Gemeinschaftsrecht

Ebenfalls 1999 wurde dem bisherigen Verbot von Entgeltdiskriminierung in Art. 119 EWG, später Art. 141 Abs. 1 und 2 EG-V und heute Art. 157 Abs. 1 und 2 AEUV, ein neuer Abs. 3 EG-V angefügt, der die Gleichstellung der Geschlechter im Erwerbsbereich als Ratskompetenz festlegte. Es folgte ein neuer Art. 141 Abs. 4 EG-V, welcher wie schon zuvor die RL 76/203/EWG positive Maßnahmen als Option ausdrücklich zuließ:

„Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedsstaaten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen.“

Mit Maßnahmen „zur Erleichterung der Berufstätigkeit“ wurde Art. 141 Abs. 4 EG-V etwas weiter formuliert als der vorherige Art. 2 Abs. 4 der RL 76/204/EWG, ohne dass in der Rechtsprechung des EuGH bislang jedoch deswegen eine gravierende Veränderung erkennbar geworden wäre. Art. 2 Abs. 4 der RL 76/204/EWG jedenfalls soll als Ausnahme vom individuellen Recht auf Nichtdiskriminierung nach Ansicht des EuGH eng auszulegen sein.(10)

Nach dem Vertrag von Lissabon 2009 befinden sich die Regelungen zu Entgeltgleichheit, Geschlechtsdiskriminierung im Erwerbsbereich und Positiven Maßnahmen nunmehr wortgleich in Art. 157 AEUV. Parallel wurde auch die Gestattung Positiver Maßnahmen beim Merkmal Geschlecht aus Art. 23 Satz 2 EU-Grundrechte-Charta in den Kanon des verbindlichen Gemeinschaftsrechts überführt:

„Der Grundsatz der Gleichheit steht der Beibehaltung oder der Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegen.“

Positive Maßnahmen zugunsten anderer Merkmale als Geschlecht bleiben nach dem primären Gemeinschaftsrecht weiterhin ungeregelt. Lediglich für den Rat der EU wurde 1999 in Art. 13 Abs. 2 EG-V, jetzt Art. 19 Abs. 2 AEUV, eine Kompetenz geschaffen, gemeinschaftliche Fördermaßnahmen zur Unterstützung der in den Mitgliedsstaaten zur Zielverwirklichung nach Abs. 1 getroffenen Maßnahmen einstimmig zu beschließen.

Positive Maßnahmen nach den EU-Antidiskriminierungsrichtlinien

Auf der Basis von Art. 13 EG-V (inzwischen Art. 19 AEUV) folgten ab 2000 drei neue Antidiskriminierungsrichtlinien. Die RL 2000/43/EG (Antirassismusrichtlinie) weitete den Diskriminierungsschutz auf (zugeschriebene) "Rasse" und ethnische Herkunft aus. Über den Erwerbsbereich hinaus wurden hier auch der Sozialschutz, Bildung und Güter und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum in den Diskriminierungsschutz einbezogen. Damit wurden erstmals auch breite Bereiche des allgemeinen Vertragsrechts erfasst. Die RL 2000/78/EG (Richtlinie Beschäftigung und Beruf) bezog die Merkmale Religion/Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung in den Diskriminierungsschutz bei Beschäftigung und Beruf mit ein. Die Ausweitung in den Bereich des allgemeinen Vertragsrechts aus der Antirassismusrichtlinie fehlt hier jedoch. Die RL 2002/73/EG (Gender-Richtlinie) brachte den Diskriminierungsschutz für das Merkmal Geschlecht im Erwerbsbereich aus der RL 76/207/EWG auf den Stand der beiden Antidiskriminierungsrichtlinien aus dem Jahr 2000. Und die RL 2004/113/EG weitete den Diskriminierungsschutz für Geschlecht wie zuvor schon in der Antirassismusrichtlinie auf das allgemeine Vertragsrecht aus, ohne jedoch genauso weit zu gehen. Vor Geschlechtsdiskriminierung geschützt werden soll hier nur beim Angebot von Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen.

EU-Richtlinien sind allerdings nur hinsichtlich der darin vorgegeben Ziele für die Mitgliedsstaaten verbindlich. Die Mittel zur Zielerreichung kann sich jeder Mitgliedsstaat aussuchen. Sie müssen allerdings hinsichtlich der verbindlichen Ziele effektiv sein. Sind sie es nicht oder wurde eine Umsetzung innerhalb der vorgegebenen Frist versäumt, stellt sich die europarechtlich komplizierte Frage, ob eine Richtlinie ausnahmsweise doch direkt angewandt werden kann.

Während die Gender-Richtlinie einfach auf Art. 141 Abs. 4 EG-V (inzwischen Art. 157 Abs. 4 AEUV) verweist, sehen die anderen drei Richtlinien für ihre jeweiligen Anwendungsbereich mit ähnlichen, allerdings nicht völlig identischen Formulierungen vor, dass als Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot Positive Maßnahmen gestattet sind. Es dürfen „zur Gewährleistung der vollen Gleichstellung“ Maßnahmen beibehalten oder eingeführt werden, mit denen Benachteiligungen des jeweiligen Merkmals „verhindert oder ausgeglichen werden“.

Die Quotenrechtsprechung des EuGH

Da der EuGH auch in der Folgezeit nur über Positive Maßnahmen zum Merkmal Geschlecht im Bereich des Arbeitslebens entschieden hat, ist noch unklar, ob der Raum für Positive Maßnahmen in den anderen drei Richtlinien eingeschränkter als beim Merkmal Geschlecht im Arbeitsleben interpretiert werden wird oder ob der EuGH die Zulässigkeit Positiver Maßnahmen für alle Merkmale einheitlich bestimmt wird.

Beim Merkmal Geschlecht dürfen Positive Maßnahmen nach der Quoten-Rechtsprechung des EuGH Frauen jedenfalls keinen „absoluten“ Vorrang einräumen. Im Einzelnen verlangt der EuGH: Frauen müssen im quotierten Bereich u.a. auch wegen Geschlechtsdiskriminierung unterrepräsentiert sein. Die Frau und konkurrierende Männer müssen über eine gleichwertige Qualifikation für die Position verfügen. Auch die individuelle Lage des Mannes muss berücksichtigt werden. Wenn soziale Gesichtspunkte zu seinen Gunsten überwiegen, muss er trotz Frauenunterrepräsentanz, Qualifikationspatt und Quotierung ausgewählt werden.(11) Dabei dürfen die zusätzlichen Kriterien zur Beurteilung der persönlichen Lage eines Mannes jedoch nicht ihrerseits wieder geschlechtsdiskriminierend wirken.(12)

Flexible Ergebnisquoten in Gleichstellungsplänen sind hingegen uneingeschränkt zulässig, ebenso unter bestimmten Umständen 50-%-Quoten ohne Qualifikationsvorbehalt im Ausbildungsbereich sowie Besetzungsvorgaben für Gremien.(13) Auch wurden vom EuGH Frauenquoten schon bei nur fast gleichwertiger Qualifikation erwogen.(14)

Zusammenfassend kann man sagen, Positive Maßnahmen müssen gezielt und konkret an ein ansonsten gegen Ungleichbehandlung geschütztes Merkmal anknüpfen und eine Situation der Benachteiligung oder deren Folgen korrigieren wollen. Dabei ist nicht erforderlich, dass die konkret von der Positiven Maßnahme begünstigte Person zuvor auch persönlich benachteiligt wurde, wenn nur die begünstigte Gruppe in diesem Bereich zuvor Nachteile erlitten hat oder noch erleidet und diese Nachteile durch die Positive Maßnahme künftig verhindert oder in ihren Folgen ausgeglichen werden sollen. Die Maßnahme darf Angehörige bisher benachteiligter Gruppen nicht pauschal ohne Ansehen der beteiligten Personen besser stellen. Und sie muss in Beziehung auf die Benachteiligung, die ausgeglichen werden soll und die Folgen für die bislang begünstigten MerkmalsträgerInnen verhältnismäßig sein.(15)

Positive Maßnahmen nach § 5 AGG

Der deutsche Gesetzgeber hätte bei der Umsetzung der Vorgaben zu Positiven Maßnahmen aus den vier EU-Antidiskriminierungsrichtlinien über diese hinausgehen oder völlig neue Wege beschreiten können. Denn EU-Richtlinien sind nach Art. 288 AEUV nur hinsichtlich ihrer Ziele verbindlich, überlassen dem nationalen Gesetzgeber jedoch die Wahl der Form und der Mittel. Zudem formulieren alle vier Antidiskriminierungsrichtlinien nur Mindeststandards. Vorschriften, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger sind, dürfen eingeführt oder beibehalten werden.

Tatsächlich hat der deutsche Gesetzgeber die Positiven Maßnahmen für Deutschland über § 5 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) jedoch weder näher konturiert noch rechtsverbindlicher gestaltet. Auch nach § 5 AGG bleibt es bei einer allgemeinen Option auf Positive Maßnahmen in Ausnahme von den zuvor formulierten Gleichbehandlungsgeboten. Besondere Typen von Positiven Maßnahmen werden nicht präferenziert, besondere Situationen, in denen auf jeden Fall Positive Maßnahmen zu ergreifen wären, werden nicht bezeichnet.

Wer darf welche Positive Maßnahmen ergreifen?

In § 5 AGG sind keine konkreten AkteurInnen für solche Maßnahmen bezeichnet: Positive Maßnahmen „sind zulässig“. Daraus ist zu schließen, dass alle Personen und Organisationen, die im Gesetz den Diskriminierungsverboten unterliegen, ihrerseits auch Positive Maßnahmen ergreifen dürfen. Eine weitere konkretisierende Ermächtigung durch den Gesetzgeber ist nicht erforderlich.

Interessant ist auch, dass durch diese weite Formulierung des § 5 AGG nicht zugeordnet wird, welche AkteurInnen welche Nachteile durch Positive Maßnahmen ausgleichen dürfen. Es muss lediglich klar sein, welcher Benachteiligung durch die jeweilige Positive Maßnahme gegengesteuert werden soll. Das Allgemeinwohlinteresse an der Gleichstellung bisher diskriminierter Gesellschaftsgruppen kann von allen AkteurInnen und Organisationen durch eigene Positive Maßnahmen zugunsten aller oder einzelner der im AGG geschützten Merkmale konkretisiert und wahrgenommen werden. Ein Bezug der ArbeitgeberInnen zu Problemen im eigenen Betrieb oder Unternehmen oder gar ein besonderes betriebliches Interesse an Gleichstellung ist nicht erforderlich.(16)

Diese Offenheit des § 5 AGG kollidiert weder mit EU-Recht noch mit deutschem Verfassungsrecht. Insbesondere den Anforderungen der Grundrechtswesentlichkeit, wonach Eingriffe in Grundrechte immer durch den Gesetzgeber selber legitimiert werden müssen, wurde durch § 5 AGG ja nachgekommen.(17) Sie bietet Kreativität und Engagement einerseits den größtmöglichen Raum, belässt allerdings andererseits auch alle Aktivitäten im völligen Belieben der AkteurInnen.

Der Gedanke, wer selbst diskriminiert habe, solle durch Positive Maßnahmen anschließend Wiedergutmachung leisten, wie er im US-amerikanischen Recht in Zusammenhang mit einer Verurteilung zu affirmative action entwickelt wurde (18), ist dem deutschen Recht somit fremd. Das hat auch zur Folge, dass nicht gleich als vorherige(r) DiskriminiererIn stigmatisiert werden kann, wer Positive Maßnahmen ergreift. Damit ist die Offenheit des § 5 AGG Anwendungsstärke und -schwäche zugleich.

Zulässigkeit und Verhältnismäßigkeit

Was die Zulässigkeitsvoraussetzungen angeht, lehnt sich § 5 AGG stark an die Vorgaben aus den drei EU-Antidiskriminierungsrichtlinien für die neu geschützten Merkmale und Bereiche an. Er ist damit enger gefasst als Art. 157 Abs. 4 AEUV für das Merkmal Geschlecht im Arbeitsleben. Denn lediglich „bestehende Nachteile“ dürfen durch Positive Maßnahmen nach § 5 AGG „verhindert oder ausgeglichen“ werden, während nach § 157 Abs. 4 AEUV auch allgemeiner bloß „zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts“ Positive Maßnahmen ergriffen werden könnten und Art. 23 Satz 2 EU-Grundrechte-Charta jede spezifische Vergünstigung für das unterrepräsentierte Geschlecht gestattet. Die Diskriminierungsprävention ist allerdings nach der schriftlichen Gesetzesbegründung (19) mit eingeschlossen.

Die Verknüpfung zwischen Benachteiligung und Gegensteuerung durch Positive Maßnahmen bleibt nach deutschem Recht jedenfalls für alle geschützten Merkmale gleich eng. Das AGG ebnet durch seine einheitliche Fassung für alle Merkmale Unterschiede ein, die bei Positiven Maßnahmen nach EU-Recht zwischen den verschiedenen Merkmalen möglicher Weise bestehen könnten.

Schließlich müssen die gewählten positiven Maßnahmen „geeignet und angemessen“ sein. Damit werden Verhältnismäßigkeitkalküle übernommen, wie sie der EuGH und die deutschen Gerichte im Fall Positiver Maßnahmen schon seit langem entwickelt haben, wie sie aber in Art. 157 Abs. 4 AEUV sowie den EU-Antidiskriminierungsrichtlinien selber nicht ausdrücklich formuliert sind.

Bisherige Auswirkungen des § 5 AGG für die Unternehmenspraxis

In der Praxis hat die neue Option auf Positive Maßnahmen in § 5 AGG bislang keinen Kreativitätsschub ausgelöst. Eine Unternehmensbefragung im Hamburger Raum (20) zeigte, dass die meisten Unternehmen sich bestehender Benachteiligungen in ihrem Bereich einerseits zwar bewusst sind, ohne sie jedoch andererseits als Diskriminierung im Sinne des AGG einzustufen. Eine kleine Minderheit allerdings erkannte schon, dass sie diskriminierte und gegen das AGG verstieß, hielt das Gesetz aber für so anwendungsschwach, dass ein Umsteuern für nicht erforderlich gehalten wurde.

In der großen Mehrzahl der Unternehmen gab es dem entsprechend auch keine Positiven Maßnahmen. Soweit dennoch vorhanden bezogen sich die Positiven Maßnahmen vor allem auf Familienfreundlichkeit, nur selten gezielt auf das Merkmal Geschlecht und nur ganz vereinzelt auf andere Merkmale. Extra im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten des § 5 AGG eingeführt wurde nichts. Teilweise werden Positive Maßnahmen, insbesondere Frauenquoten, weiterhin explizit abgelehnt oder gar als Diskriminierung eingestuft. Diversity Management wurde lediglich in zwei Großunternehmen vage erwähnt.

Fazit

Positive Maßnahmen werden in Deutschland also seit 2006 zwar durch § 5 AGG zugunsten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen explizit gesetzlich ermöglicht. In der Praxis deutscher Unternehmen spielen sie über bloße Familienfreundlichkeit hinaus jedoch gegenwärtig noch keine große Rolle. Und für die anderen Merkmale neben Geschlecht und Behinderung fehlt es bislang auch erkennbar an Ideen, wie überhaupt angesetzt werden könnte. Andererseits hat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aber auch nicht zum Abbau bestehenden freiwilligen Engagements beigetragen, wie Kritiker des Gesetzes anfangs unkten.

 

Endnoten

1 Rechtsprechungsnachweise zum Schutzpflichtkonzept siehe Raasch, Sibylle in: Rust, Ursula; Falke, Josef (Hrsg.): Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, § 5 Rn. 25 Fn. 45.
2 Zum Schutz des ungeborenen Lebens verlangte das BVerfG anfangs eine Strafnorm, später eine Beratung Schwangerer zugunsten des werdenden Lebens, also eine Positive Maßnahme, zu deren Flankierung zudem noch weitere Verbesserungen der Situation von Müttern/Eltern und Kindern postuliert wurden.
3 Vgl. Schiek, Dagmar: Gleichbehandlungsrichtlinien der EU – Umsetzung im deutschen Arbeitsrecht, in: NZA 2004, S. 873 ff., S. 875; ebenso für Diskriminierung durch „Andersartigkeit“ beim Unterlassen angemessener Vorkehrungen: Forschungskonsortium University of Bradford u.a.: Internationale Sichtweisen zu positiven Maßnahmen, Europäische Kommission (Hrsg.), Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften 2009, S. 32 f.
4 Einzelheiten siehe Raasch, Sibylle: Frauenquoten und Männerrechte, Baden-Baden 1991, S. 85 ff.
5 Ausführlicher Raasch, Sibylle, in: Rust, Ursula; Falke, Josef: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Berlin 2007, § 5 Rn. 25.
6 Vgl. BVerfGE 52/369, 376 (Hausarbeitstag).
7 Vgl. BVerfGE 85/76, 210 (Nachtarbeit).
8 Entwurf siehe Pfarr, Heide (Hrsg): Ein Gesetz zur Gleichstellung der Geschlechter in der Privatwirtschaft, Düsseldorf 2001.
9 Einzelheiten siehe Krell, Gertraude: Diversity Management, in: dieselbe (Hrsg.): Chancengleichheit durch Personalpolitik, 5. Aufl. Wiesbaden 2008 S. 63 ff.
10 Vgl. EuGH Slg 1995 I-3051 Rn. 21 (Kalanke).
11 Vgl. EuGH Slg 1995 I-3051 (Kalanke) und Slg 1997 I-6363 (Marschall).
12 Vgl. EuGH Slg 1997 I-6363 Rn. 35 (Marschall).
13 Vgl. EuGH Slg. 2000 I-1875 Rn. 50 f. (Badeck).
14 Vgl. EuGH Slg 2000 I-5539 Rn. 62 (Abrahamsson).
15 Nachweise in Rechtsprechung und Literatur siehe Raasch, Sibylle in: Rust, Ursula; Falke, Josef: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Berlin 2007, § 5 Rn. 20 f., 68 f.
16 Vgl. Bauer, Jobst-Hubertus; Göpfert, Burkard; Krieger, Steffen: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2. Aufl. München 2008, § 5 Rn. 7.
17 Ebenso Hinrichs, Oda, in: Däubler, Wolfgang; Bertzbach, Martin: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2. Aufl. Baden-Baden 2008, § 5 Rn. 16 f.
18 Ausführlich von Wahl, Angelika: Gleichstellungsregime, Opladen 1999, S. 128 ff.
19 Vgl. BT-Drs 16/1780 S. 35.
20 Vgl. Raasch, Sibylle; Rastetter, Daniela: Die Anwendung des AGG in der betrieblichen Praxis, Projektbericht Universität Hamburg, März 2009, S. 24 ff.; Dieselben: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG): Gesetzliche Regelungen und Umsetzung im Betrieb, in: Badura, Bernhard u.a. (Hrsg.): Fehlzeitenreport 2010. Vielfalt managen: Gesundheit fördern – Potentiale nutzen, Berlin, Heidelberg 2010 S. 11 ff., S. 19.

 

Bild entfernt.

Sibylle Raasch ist Professorin für Öffentliches Recht und Legal Gender Studies an der Universität Hamburg in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Aktuelle Forschungsgebiete: Gleichstellungspolitik im Erwerbsleben, Zeitpolitik.