Chancengleichheit im Öffentlichen Dienst: Keine Utopie mehr? Die Kampagne „Berlin braucht dich!“

Baustelle in Berlin

 

von Dragica Horvat und Agnese Papadia

Die 2006 vom Berliner Integrationsbeauftragten ins Leben gerufene Kampagne „Berlin braucht dich!“ sendet zwei integrationspolitische Signale an die Öffentlichkeit: Erstens wird die interkulturelle Öffnung des Öffentlichen Dienstes für einen großen Bevölkerungsteil – die EinwohnerInnen mit Migrationshintergrund - als notwendig und zeitgemäß propagiert, womit ein klares Bekenntnis zu ihnen erfolgt. Zweitens trägt die Kampagne zur beruflichen Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei; diese möchte das Land Berlin für eine Ausbildung gewinnen und ihnen damit bessere berufliche Chancen eröffnen.

Insofern handelt es sich bei der Kampagne auch um eine sogenannte „Positive Maßnahme“ nach § 5 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Der Paragraf erlaubt eine unterschiedliche Behandlung, wenn dadurch bestehende Nachteile, die z.B. aufgrund ethnischer Herkunft bestehen, ausgeglichen oder verhindert werden sollen. Da das Vorhaben nicht an den Defiziten, sondern Potenzialen der Jugendlichen ansetzt, erfahren sie eine kollektive Wertschätzung in der Öffentlichkeit, was einen großen Motivationsschub auslösen kann. Das ist sicherlich einer der Gründe, warum sich die Zahl der Auszubildenden mit Migrationshintergrund im Öffentlichen Dienst seit dem Start der Kampagne in 2006 bis 2009 verdoppelt hat.

Warum „Berlin braucht dich!“?

Der neueste Bildungsbericht der Bundesregierung bestätigt erneut, dass der Bildungserfolg in Deutschland immer noch von der sozialen Herkunft abhängig ist. Die Statistik zeigt zweierlei: Im Jahr 2008 schlossen von den männlichen Jugendlichen mit deutschem Pass 77,9 % einen Ausbildungsvertrag ab; bei denen mit ausländischem Pass waren es dagegen nur 35,4 %. Auch bei den ausländischen Frauen war der Anteil mit 28,9 % nur halb so hoch wie bei den deutschen (58 %) Frauen. (Vgl. Schlechte Chancen für Migranten, Süddeutsche Zeitung)

Dem Bericht zufolge führen offensichtlich selbst gute formale Voraussetzungen nicht im gleichen Maße in anspruchsvolle Ausbildungsgänge wie bei gleichqualifizierten BewerberInnen ohne Migrationshintergrund. Unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 18 und 21 Jahren befanden sich 2006 36,4 % der Männer und 47,6 % der Frauen weder in einer Ausbildung noch hatten sie eine Ausbildung abgeschlossen. Bei Deutschen ohne Migrationshintergrund waren nur 26 % der Frauen und 12 % der Männer in der gleichen Lage (BAMF 2009). Zum anderen ist festzustellen, dass die ethnische Herkunft die Berufswahl stark beeinflusst. Jugendliche mit Migrationshintergrund konzentrieren sich auf wenige, gering qualifizierte Ausbildungsberufe. Hier sind die Frauen am stärksten eingeengt: 51 % der jungen Frauen mit Migrationshintergrund konzentrieren sich auf lediglich vier Ausbildungsberufe, während das nur für 30 % der Frauen ohne Migrationshintergrund gilt. (Granato 2004)

Die geringe Ausbildungsquote von Jugendlichen mit Migrationshintergrund besteht nicht nur in der Privatwirtschaft, sondern in einem viel größeren Maße auch im Öffentlichen Dienst, vor allem in der Verwaltung. Da hier die Politik die Beschäftigung steuern kann, ist sie in gleicher Weise gefordert wie ermächtigt, Chancengleichheit in öffentlichen Unternehmen herzustellen. Zu Beginn der Berliner Kampagne betrug der Anteil Auszubildender mit Migrationshintergrund im Öffentlichen Dienst nur 8,6 %, während sich der Anteil junger MigrantInnen an der Bevölkerung inzwischen den 40 % annähert. Dazu kommt bei Jugendlichen die allgemeine Tendenz hinzu, die Berufsausbildung als keine attraktive Zukunftsperspektive zu sehen. Und bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist diese Tendenz von der demotivierenden Annahme und zum Teil auch von der Erfahrung gestärkt, dass sie nur geringe Chancen haben, einen qualifizierten Ausbildungsplatz zu finden.

„Berlin braucht dich!“ als integrationspolitisches Leitprojekt

Mit der Kampagne „Berlin braucht dich!“ hat die Integrationspolitik offensiv die Verantwortung und die Vorreiterrolle für die Förderung der Ausbildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Bereich übernommen. Damit soll der strukturellen Diskriminierung, die im Bildungssystem besteht und sich auf die Chancen der MigrantInnen auf dem Ausbildungsmarkt auswirkt, begegnet werden.

Die Öffentlichen Behörden und Betriebe richten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf leistungsstarke SchülerInnen. Allerdings wenden sich diese - ob mit oder ohne Migrationshintergrund - verstärkt weiteren schulischen Bildungswegen zu und entscheiden sich gegen die duale Ausbildung. Deshalb ist die Stoßrichtung von „Berlin braucht dich!“ auch vor dem Hintergrund eines drohenden Nachwuchsmangels in Ausbildungsberufen im Öffentlichen Dienst zu betrachten. Die demografische Entwicklung und Fragen der vorausschauenden Fachkräfte- und Standortpolitik erfordern neue integrationspolitische Akzente. Die Verschiebung des integrationspolitischen Akzents vom sozialpolitischen Blickwinkel hin zu einer strukturell verankerten Integrationspolitik, erfordert eine kooperative Beleuchtung der Standort- und der Bildungspolitik sowie der Fachkräftepolitik unter dem Blickwinkel Integration/Migration. (Kruse 2010) Mit der Entwicklung von Konzepten zu mittel- und längerfristiger Fachkräftesicherung begibt sich die Integrationspolitik aus dem sozial- und ordnungspolitischen Winkel heraus in den Fokus Zukunftsgestaltung und –fähigkeit der Stadt.

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Pιnar, 22 Jahre, in Berlin geboren, türkische Eltern, deutsche Staatsangehörigkeit, Polizeimeisteranwärterin: „Ich fühle mich nicht als Migrantin, sondern als Deutsch-Türkin“.

Die Kampagne „Berlin braucht dich!“ startete 2006, doch wurde bald deutlich, dass die beachtlichen Erfolge vorwiegend auf einem sogenannten „Creaming-Effekt“ basierten. Die Kampagne „schöpfte nur diejenigen ab“, die sich bereits mit dem Thema Ausbildung befasst hatten. Daraus erkannte man, dass eine Kampagne allein keine strukturellen Veränderungen bewirken kann. Integrationspolitisch ist aber eine breite und nachhaltige Öffnung der dualen Ausbildung im Öffentlichen Dienst für Jugendliche mit Migrationshintergrund intendiert. Hier galt es umzusteuern, um aus der Ressource „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ Fachkräfte akquirieren zu können. Diese Jugendlichen werden allerdings nur dann erfolgreich eingebunden, wenn die Attraktivität von Berufsausbildung wächst und die Berufsorientierung unter qualitativen Aspekten sowie interkulturell sensibel gestaltet wird. Die Berufsausbildung wird für leistungsstarke Jugendliche mit Migrationshintergrund nur dann zu einer ernsthaften Option, wenn sie sich als attraktiv erweist, ihre berufliche Verwertung effektiv ist, und durch sie Aufstiegschancen ermöglicht werden.

Aus der Kampagne „Berlin braucht dich!“ ist mittlerweile ein zentrales integrationspolitisches Vorhaben im Übergang Schule-Berufsausbildung entstanden. Dabei hat das Berufliche Qualifizierungsnetzwerk für Migrantinnen und Migranten (BQN) Berlin als Intermediär im Auftrag des Berliner Integrations- und Migrationsbeauftragten die konzeptionelle Federführung übernommen. Um Nachhaltigkeit und Qualität zu sichern, wurde ein Konsortium als Kompetenzzentrum aufgebaut. Hierbei handelt es sich um ein breit gespanntes Netzwerk, in dem integrationspolitisch gewichtige EntscheidungsträgerInnen und ExpertInnen für die Ausbildung im Öffentlichen Dienst und den Landesbetrieben sowie für den berufsvorbereitenden Unterricht vereint sind. Durch die Konsortialarbeit entsteht eine verbindliche und fruchtbare Zusammenarbeit, wodurch die gestaltende Rolle der Integrationspolitik und ihr Fokus auf Kooperation hervorgehoben werden.

Wie agiert das Konsortium?

Mit umfassender Unterstützung von BQN Berlin und unter wissenschaftlicher Anleitung entwickeln, planen und erproben Schulen und Betriebe des Konsortiums in Planungsworkshops innovative und attraktive Instrumente der Berufsorientierung für SchülerInnen mit Migrationshintergrund verschiedener Klassenstufen. In den Workshops verständigen sich Schulen und Betriebe zunächst über gegenseitige Erwartungen und Erfolgsfaktoren einer interkulturell sensiblen Erkundung der Arbeitswelt. Auf dieser Grundlage entwickeln sie Konzepte für die Neugestaltung von Betriebskontakten von der siebten bis zu der zehnten Klasse:

  • Betrieblicher Erstkontakt in der 7. Klasse
  • Einwöchiges Schnupperpraktikum in der 8. Klasse
  • Dreiwöchiges Betriebspraktikum in der 9. Klasse
  • Bewerbungstraining in der 10. Klasse

Die schul- und betriebsübergreifende Zusammenarbeit in den Planungsworkshops eröffnet neue Dimensionen der Kontaktmöglichkeiten zwischen Schulen und der Arbeitswelt: Erstens kann sich die Kooperation zwischen Schulen und Betrieben auf die solide und nachhaltige Basis des Konsortiums stützen. Zweitens erweitert sich dadurch das Berufsspektrum für SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Die Berufswahlentscheidung der SchülerInnen wird bewusster und kompetenter. Drittens erhalten die Betriebe den Kontakt zu einem großen Potenzial an künftigen Nachwuchskräften, das sie bis jetzt nicht im Fokus hatten.

Die Kampagne „Berlin braucht dich!“ – inzwischen zu einem integrationspolitischen Leitprojekt angewachsen - trägt zur strukturellen Verbesserung und Optimierung des Übergangssystems zwischen Schule und Berufsausbildung bei.

Eine zentrale Rolle für den Erfolg von „Berlin braucht dich!“ spielt neben der Kooperation im Konsortium die gezielte Verbreitung der Botschaft in die Fachöffentlichkeit, die Schulen, die Betriebe und die Migrantencommunities hinein. Die Tatsache, dass sich die öffentlichen Arbeitgeber als Träger von „Berlin braucht dich!“ immer stärker mit dieser Botschaft identifizieren, markiert das Umdenken im integrationspolitischen Diskurs in der Öffentlichkeit. Zum ersten Mal wurden in einer Arbeitgeberkampagne Potenziale und Kompetenzen der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Vordergrund gestellt. Dadurch wird der in der Öffentlichkeit sowie bei vielen privaten und öffentlichen Arbeitgebern weit verbreiteten Meinung entgegengewirkt, die Benachteiligung Jugendlicher mit Migrationshintergrund begründe sich aus ihren Sprach- und Integrationsdefiziten und sei nicht strukturell bedingt. 

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Cemhan, 29, in Istanbul geboren, deutsche Staatsangehörigkeit, bis Anfang 2008 Auszubildender im Bürgeramt Reinickendorf als Fachangestellter für Bürokommunikation: „Deutschland ist mein Bezugsland“.

Ein wichtiges Mittel zur Kommunikation und für die Verbreitung von „Berlin braucht dich!“ ist die Website des Projekts, die Informationen für die unterschiedlichen Zielgruppen – SchülerInnen, LehrerInnen und öffentliche Arbeitgeber – enthält und somit für den Wissenstransfer genutzt wird: SchülerInnen, LehrerInnen und öffentliche Arbeitgeber. Bei der Informationsweitergabe wird auf Vorbilder Bezug genommen. Erfolgreiche Auszubildende mit Migrationshintergrund werden als BotschafterInnen von „Berlin braucht dich!“ mit Fotos, Videos und Zitaten eingesetzt. Die Zielgruppe der Jugendlichen wird außerdem immer stärker über soziale Netzwerke und informelle Kanäle erreicht.

Die Kampagne wirkt

Neben der großen Anerkennung in der Öffentlichkeit und Politik kann die Kampagne auch auf Ergebnisse verweisen, die direkt der besseren Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund dienen. Die Zahl der Schulen, die im Konsortium mitarbeiten, ist von 10 auf 35 gestiegen. Immer mehr Betriebe mit Landesbeteiligung unterstützen das Ziel von „Berlin braucht dich!“. Mit den nunmehr insgesamt 5.000 Ausbildungsplätzen in über 100 Ausbildungs- und Studienberufen wird Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein breites Spektrum an attraktiven Ausbildungsmöglichkeiten eröffnet. Als Ergebnis der ersten vier Jahre hat sich der Anteil Auszubildender mit Migrationshintergrund bei den neuen Ausbildungsverträgen im Öffentlichen Dienst mehr als verdoppelt und lag 2009 bei 19,5 %. Der Erfolg belegt die Richtigkeit der Strategie von „Berlin braucht dich!“, doch der Weg zu einem gleichberechtigten Zugang zu qualifizierter Ausbildung für MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen ist noch lang.

Ausblick

Das Vorhaben „Berlin braucht dich!“ wird bis 2013 kontinuierlich weiterentwickelt. Ziel ist es, bis zum Jahr 2013 den Anteil Jugendlicher mit Migrationshintergrund in der Ausbildung im Öffentlichen Dienst und bei den Landesbetrieben auf 25 % zu erhöhen. Diese „Positive Maßnahme“ begegnet so einerseits dem drohenden Fachkräftemangel und erweist sich andererseits als ein wichtiges Instrument zum Abbau struktureller Diskriminierungen. Sie lenkt den Blick auch auf ökonomische Chancen, die sich bieten, wenn man bisher unterrepräsentierte Gruppen in den Arbeitsmarkt integriert.

2010 liegt der Schwerpunkt der Aktionen auf dem Aufbau der Konsortialstrukturen als Grundlage zur Erarbeitung und Erprobung von zielgruppengerechten Modellen der Arbeitswelterkundung in 12 Berufsfeldern von der 7. bis 10. Klasse. Im weiteren Verlauf sollen die erfolgreichen Modelle auf alle Schulen und Betriebe des Konsortiums transferiert und verbreitet werden.

„Berlin braucht dich!“ ist ein innovatives Vorhaben, das völlig neue Formen von Integrationspraxis entwickelt. Da mit der Modellentwicklung in einzelnen Schulen und Betrieben allein die Nachhaltigkeit nicht gesichert ist, kommt dem Transfer eine besondere Bedeutung zu. Die neuen Ansätze müssen ihr Problemlösungspotenzial durch Weiterentwicklung und Verbreitung auf weitere Schulen und Betriebe entfalten. Die Nachhaltigkeit der entwickelten Innovationen wird sich ohne konzeptionelle Gestaltung von gezielten Transferaktivitäten nicht einstellen. Auf der Tagesordnung steht somit die Entwicklung von Strategien und Methoden zur Übertragung erfolgreich entwickelter Instrumente der Arbeitswelterkundung in die Routinepraxis. Hierzu ist es erforderlich, Strategien zur Übertragung der Modelle auf Schulen und Betriebe zu entwickeln, die bislang in den Planungsworkshops nicht beteiligt waren. Diese Vorgehensweise setzt eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit herkömmlichen als auch neuen Konzepten und deren Weiterentwicklungsperspektiven in Gang.

Der integrationspolitische Erfolg von „Berlin braucht dich!“ wird sich 2013 ganz konkret an der verstärkten Ausbildungsbeteiligung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund messen lassen müssen. Nicht messen lassen wird sich hingegen die Auswirkung der Kampagne auf das Bild von MigrantInnen in der Öffentlichkeit - ein positiver Effekt der Fokussierung auf die Potenziale der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, der bereits jetzt sichtbar wird.

 

Literatur

  • BAMF 2009: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2009): Berufliche und akademische Ausbildung von Migranten in Deutschland. Working Paper 22 der Forschungsgruppe des Bundesamtes.
  • Granato, Mona (2004): Feminisierung der Migration – Chancengleichheit für (junge) Frauen mit Migrationshintergrund in Ausbildung und Beruf. Bonn: BIBB.
  • Kruse, Wilfried (2010): Recherche zu Optionen für ungeförderte Berufsausbildung außerhalb des Öffentlichen Dienstes für MigrantInnen. Dortmund.

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BQN Berlin, ein integrationspolitisches Projekt zur strukturellen Verbesserung der Situation junger MigrantInnen im Übergang Schule-Beruf, entwickelt Ansätze und Initiativen zur wirksamen Umsetzung der Berliner Integrationspolitik.