Die Tinte unter den Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Ländern wie Italien, Griechenland, Spanien und der Türkei ist schon lange getrocknet. Frisch hingegen erblüht immer wieder aufs Neue die Debatte um Integration und Integrationsverweigerung, Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit, Zugehörigkeit und Loyalität der MigrantInnen.
Seit mehr als 50 Jahren leben MigrantInnen in erster, zweiter und mittlerweile auch dritter Generation in Deutschland. Vor allem die türkische Community, mit knapp 3 Millionen Zugewanderter die größte migrantische Bevölkerungsgruppe, ist Gegenstand öffentlich-medialer Auseinandersetzungen und pauschaler Urteile. Auf diese Weise haben zuletzt Thilo Sarrazin und Alice Schwarzer dieser Gruppe Integrationsunwilligkeit und –unfähigkeit vorgeworfen. Solche öffentliche Polemik und Stigmatisierung erfüllt viele Funktionen: sie liefert Sündenböcke für gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder sie will einen Alleinvertretungsanspruch für kopftuchfreie Emanzipation und Aufklärung durchsetzen, selbst wenn er auf Kosten von Minderheitenrechten geht.
Konkrete Probleme aufzeigen und zu deren Lösung beitragen, will solche Polemik ganz zuletzt. Deshalb kann sie auch nur schwer durch bessere und umfassendere Informationen von Wissenschaft und ExpertInnenwelt widerlegt werden.
Bessere Information gibt es indessen durchaus. Eine Vielzahl gut fundierter Studien gibt uns differenzierte Einblicke in Integrationsfortschritte und -probleme der ersten und zweiten Migrantengeneration und zeigt Wege auf, wie der Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe Schritt für Schritt überwunden werden kann. Von dieser Qualität ist etwa das unlängst veröffentlichte Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen zur Integration und Migration (SVR), das für viele Bereiche einen zufriedenstellenden Integrationsfortschritt attestiert. Doch an solchen wissenschaftlich fundierten nüchternen Analysen hat kein Interesse, wer mit Pauschalisierung Ängste vor und Stimmung gegen gesellschaftliche Gruppen hervorrufen will.
Jenseits der aufgeheizten Debatte will sich dieses Dossier der Lebensrealität junger Menschen mit Migrationshintergrund annähern. Wir fragen, wie junge Menschen mit Migrationshintergrund im Anschluss an und in Abgrenzung zu den Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern ihr Leben wahrnehmen und gestalten. Wie sehen sie ihre Zukunftsaussichten auf sozialen Aufstieg, wie wirken sich ihre Erfahrungen von Ausgrenzung in einem aussondernden Bildungssystem oder von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt auf ihre Handlungsstrategien aus? Und wie kann man sie unterstützen, um ihre Fähigkeiten und Potentiale besser zu fördern?
Das Dossier stellt auch Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt. Das beginnt bereits beim Titel „Bis in die dritte Generation?“ Über diese Generation, die Enkelkinder der in den 1960er und 1970er Jahren angeworbenen und zugewanderten GastarbeiterInnen, wissen wir so gut wie nichts: Es gibt kaum statistische Daten, quantitative und qualitative Studien über Bildungsabschlüsse, Arbeitsmarktintegration, ihre Berufsbiografien und die Selbstwahrnehmung dieser Generation. Aber ist es überhaupt sinnvoll, die dritte Generation in der Bevölkerungs- und Sozialstatistik zu erfassen?
Diese Frage wird im Schwerpunkt Generationen & Lebenswelten diskutiert: Ist der Verzicht auf das „ethnische Monitoring“ bis in die dritte Generation gerechtfertigt, weil die Menschen dieser Gruppe sich den unterschiedlichen Milieus einer ausdifferenzierten Gesellschaft zuordnen und ethnische Zuschreibungen für sie nur eine untergeordnete Rolle spielen? Oder ist dies eher ein Zeichen für wissenschaftliche und politische Ignoranz gegenüber besonderen Lebenslagen und Bedürfnissen?
Im Schwerpunkt Potentiale & Projekte werden die Erfahrungen aus unterschiedlichen Schul- und Jugendprojekten vorgestellt. Ihre praktische Arbeit mit Jugendlichen birgt einen reichen Erfahrungsschatz und bietet eine Vielzahl kreativer Ansätze, ihre Leistungsmotivation, ihren Glauben an ihre Fähigkeiten zu stärken, den sozialen Aufstieg zu schaffen. Damit verbunden ist ein Perspektivenwechsel: der Blick verharrt nicht bei den Defiziten und Problemen, sondern richtet sich auf die Potenziale, auf das, was diese Jugendliche motiviert und wie sie unterstützt werden können, ihr Leben in die eigene Hände zu nehmen.
Das Dossier wurde konzipiert und redigiert von der Politologin Giuseppina Lettieri.
Endreaktion: Olga Drossou, MID-Redaktion, Heinrich Böll Stiftung