von Kathrin Kissau und Uwe Hunger
Internet und Migration
Das Internet spielt für MigrantInnen eine immer wichtigere Rolle. Die modernen Informationstechnologien ermöglichen es ebenso wie die Massentransportmittel, dass MigrantInnen heute einfacher und schneller Kontakt zu ihrem Herkunftsland aufnehmen und bewahren können, und durch die Migration nicht mehr alle Brücken abgebrochen werden müssen. Daher führen heutige MigrantInnen oftmals ein Leben zwischen zwei Polen: Sie sprechen in der Regel mehrere Sprachen, bewegen sich zwischen verschiedenen Kulturen, fühlen sich dadurch mehreren Kontexten zugehörig und verfolgen oft politische, wirtschaftliche und kulturelle Interessen in zwei oder mehr Ländern.
Dem Internet kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu, da es Informations- und Kommunikationsmittel zugleich ist. Über das Internet können sich MigrantInnen über verschiedene Online-Quellen, beispielsweise durch Online-Zeitungen, Weblogs und Newsgroups, über politische Ereignisse in ihrem Herkunftsland informieren und durch E-Mails, Foren oder Chats mit anderen Interessierten diskutieren. Dadurch können sie eine lebendige Verbindung zu ihren Verwandten und Freunden im Herkunftsland aufrechterhalten. Dabei schließen sich MigrantInnen nicht selten größeren Organisationen an, finden sich mit Gleichgesinnten, die sie über das Internet kennen gelernt haben, zu Online-Gemeinschaften zusammen oder gründen Interessensgruppen (vgl. In der Smitten 2007).
Aber nicht nur der transnationale Meinungs- und Informationsaustausch wird durch das Internet vereinfacht, auch die Organisation von bürgerschaftlichem Engagement und politischen Aktionen kann über das Internet erfolgen. So bietet das Internet stärker als die traditionellen Print- und audiovisuellen Medien denjenigen MigrantInnen, die Oppositionelle sind oder aus einer politisch aktiven Bildungselite stammen, die Möglichkeit, durch Beiträge, Artikel und Kommentare im Netz auf die Meinungsbildung im Heimatland einzuwirken und politischen Protest zu organisieren. Gerade wenn Positionen vertreten und Diskussionen geführt werden, die innerhalb der Grenzen von autoritären Staaten wie dem Iran, China oder Russland Gefahr laufen, einer politisch motivierten Online-Zensur zum Opfer zu fallen, kommt dieser Form der politischen Aktivität eine große Bedeutung zu. Die Bildung einer solchen alternativen öffentlichen politischen Sphäre birgt das Potential in sich, die öffentliche Meinung im Herkunftsland zu beeinflussen und gesellschaftliche Veränderungen zu unterstützen.
Aber auch im Hinblick auf die Beziehungen zum Aufnahmeland spielt das Internet eine immer größere Rolle. So kann das Internet dazu genutzt werden, sich über die Verhältnisse und Geschehnisse im Einwanderungsland zu informieren und an gesellschaftlichen Prozessen zu partizipieren (vgl. Kissau 2008). Gleichzeitig wird aber auch die Gefahr gesehen, dass sich MigrantInnen, eben durch die Möglichkeit der neuen Medien, im engen Kontakt mit ihrem Herkunftsland zu bleiben, weniger stark dem Einwanderungsland zuwenden und quasi in einer virtuellen Parallelwelt verhaftet bleiben (vgl. Schneider/Arnold 2004).
In dem Forschungsprojekt „Politische Potentiale des Internet: Die virtuelle Diaspora der Migranten aus Russland und der Türkei in Deutschland“ haben wir die politischen Aktivitäten untersucht, die MigrantInnen in Deutschland im Internet entfalten. Dabei galt das Forschungsinteresse der Vernetzung und Selbstorganisation im Aufnahmeland ebenso wie der Online-Beteiligung an politischen Prozessen im Herkunftsland der MigrantInnen. Exemplarisch wurde dies anhand der Einwandernden aus Russland und der Türkei in Deutschland untersucht. Wir haben dabei insgesamt drei prototypische Entwicklungslinien vorgefunden, wie MigrantInnen das Internet insbesondere in Bezug auf ihre politischen Interessen und Aktivitäten nutzen und sich zwischen Herkunftsland und Aufnahmeland (virtuell) bewegen. Wir unterscheiden dabei zwischen politischem Transnationalismus, virtuellen Diasporas und ‚ethnischen‛ Online-Öffentlichkeiten (vgl. Kissau/Hunger 2009). Nachfolgend wollen wir die wichtigsten Charakteristika dieser Dimensionen der Internetnutzung kurz darstellen.
Drei Dimensionen der Internetnutzung von MigrantInnen
Internet und (politischer) Transnationalismus
Die erste Entwicklungstendenz in Bezug auf die politische Internetnutzung von MigrantInnen betrifft vor allem MigrantInnen aus Russland bzw. der ehemaligen Sowjetunion und die vorrangig von ihnen genutzten Internetangebote. Viele dieser InternetnutzerInnen in Deutschland waren sowohl an der Politik in Deutschland als auch in den jeweiligen Herkunftsländern interessiert. Das Thema „Politik“ war dabei auf Internetseiten nicht unbedingt dominant, sondern stellte nur einen Teil einer größeren, auf der gemeinsamen russischen Sprache und Kultur aufgebauten Internet-Sphäre dar. Die Internetseiten dieser Sphäre waren eng mit Angeboten aus Russland vernetzt, was wir als Ausdruck des Interesses und der Orientierung gewertet haben. Diese Nutzergruppe tauschte sich online vorrangig mit EinwohnerInnen der Herkunftsländer sowie anderen russischsprachigen MigrantInnen aus und verwendete im Internet auch vorrangig die russische Sprache.
Das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Online-Gemeinschaft basierte auf den von den Mitgliedern geteilten Werten, der Bindung zur Herkunftskultur sowie den Erfahrungen von politischer Transformation und Migration (vgl. Navarrete/Huerta 2006: 5f.). Die unterschiedlichen Aufenthaltsländer der NutzerInnen (z.B. Deutschland, USA, Russland, Israel) spielten dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die postsowjetischen NutzerInnen und die von ihnen geschaffene russischsprachige Online-Sphäre wiesen Bezüge zu verschiedenen sozialen Systemen auf, die dauerhaft nationalstaatliche Grenzen überwinden (vgl. Bommes 2003: 101). Diese Charakteristika kann man einer sogenannten transnationalen Gemeinschaft zuschreiben, die als Reaktion auf Globalisierungsprozesse entstanden ist: „What common people have done in response to the process of globalization is to create communities that sit astride political borders and that, in a very real sense, are `neither here nor there´ but in both places simultaneously” (Portes 1998: 3).
Im Falle der postsowjetischen politischen Sphäre bestand dieser Transnationalismus vorrangig in dem Informationsaustausch und der Kommunikation. Dagegen waren konkrete politische Aktivitäten wie Unterschriftensammlungen, Abstimmungen oder die Organisation von Demonstrationen oder Veranstaltungen, die Grenzen überspannten, selten. Die transnationale Nutzung des Internets durch MigrantInnen war jedoch nicht Ausdruck einer grundlegenden Ablehnung des Aufnahmelandes, sondern eher die Ausnutzung des kommunikativen Vorteils, der durch die gemeinsame kulturelle Herkunft erwächst und sich in ähnlichen politischen Ansichten, Interessen und Erfahrungen äußert (Kissau 2008).
Internet und Diaspora
Im Gegensatz dazu nutzten kurdische MigrantInnen (aus der Türkei) das Internet sehr stark politisch zur Stärkung ihrer Identität und Rolle als Diaspora, was als zweite Entwicklungsrichtung bezeichnet werden kann. Dabei haben wir eine „Diaspora" als eine geographisch verstreut lebende Minderheit verstanden, die eine gemeinsame und identitätsstiftende Vision der zu einem günstigen Zeitpunkt erfolgenden Rückkehr ins Heimatland aufrechterhält und die sich deshalb für das Ziel einsetzt, das Herkunftsland (wieder)aufzubauen (Safran 1991: 83). So wurde das Internet von KurdInnen sehr ausgeprägt für diese Bindung zum Herkunftsland instrumentalisiert. Die politischen Interessen dieser MigrantInnengruppe waren auf die kurdische „Sache“ ausgerichtet.
Die Auswertung der Internetangebote und die Befragung der NutzerInnen zeigten gleichermaßen, dass sie nur peripher am politischen Prozess im Aufnahmeland teilnahmen, es sei denn, es bestand eine Beziehung der deutschen Politik zu den kurdischen Regionen im Nahen Osten. Eine mögliche Rückkehr in kurdische Gebiete und deren Entwicklung waren von übergeordneter Bedeutung für die Internetnutzungsweise und das zentrale politische Interesse der kurdischen NutzerInnen. Eine Diaspora-Identität wurde so durch die Online-Kommunikation mit anderen kurdischen MigrantInnen weltweit verstärkt. Dies unterschied die kurdischen Internetangebote deutlich von den postsowjetischen oder etwa deutsch-türkischen Seiten, auf die wir gleich noch näher eingehen. Ein kurdischer Nationalismus war auf fast allen Seiten evident, und Politik war das überragende Thema dieser Sphäre. Das Leben und die Rechte dieser MigrantInnengruppe in den Aufnahmeländern oder Themen wie Integration spielten hier kaum eine Rolle.
Dem Internet kam in diesem politischen Kontext eine besondere Bedeutung zu, da es, wie oben erwähnt, Informations- und Kommunikationsmittel zugleich ist. So nutzten kurdische MigrantInnen Online-Zeitungen, Weblogs, Foren oder Facebook, um sich Detailwissen über politische Ereignisse und die öffentliche Meinung in ihrem Herkunftsland zu verschaffen und mit anderen Interessierten zu diskutieren. Darüber hinaus bot das Internet den MigrantInnen auch die Möglichkeit, ihre eigene Meinung durch Beiträge, Artikel und Kommentare im Netz zu veröffentlichen und somit zur Meinungsbildung in der Herkunftsregion und dem Aufnahmeland beizutragen. Außerdem wurden in der kurdischen Diaspora häufig Protestkundgebungen, E-Mail-Aktionen, Informationsveranstaltungen, Lobbyarbeit etc. über das Internet organisiert.
Diese Aktivitäten sind deshalb von großer Bedeutung für die kurdischen Gebiete im Nahen Osten, da aus dem Ausland über das Internet bestimmte Informationen geliefert, Positionen vertreten und Diskussionen geführt werden können, die innerhalb der Grenzen des Iraks, des Irans oder der Türkei Gefahr liefen, einer Online-Zensur zum Opfer zu fallen (Gladney 2005). Die Diaspora ist dadurch manchmal schneller als die einheimische Bevölkerung über aktuelle Ereignisse informiert und kann bei Bedarf ohne zeitliche Verzögerung aktiv werden. Diese Aktivitäten dienen oftmals der Bevölkerung im Herkunftsland als Vorbild für politisches Engagement und können anregen, selbst die Initiative zu ergreifen.
Diese Möglichkeiten der Diaspora werden, wie derzeit etwa in Nordafrika, immer stärker genutzt, um auf einzelne politische Themen oder die generelle Entwicklung des politischen Systems, z.B. durch die Stärkung oppositioneller Kräfte, Einfluss zu nehmen (Brainard/Brinkerhoff 2003; Siapera 2005). Somit erweitert die Diaspora nationale politische Themen um eine transnationale globalisierte Dimension (Laguerre 2002; Pries 2006).
Internet und ‚ethnische‛ Öffentlichkeit im Aufnahmeland
Eine dritte Entwicklungsrichtung zeigte die politische Nutzung des Internets durch türkische MigrantInnen auf. Ihre Beziehung zu ihrem Herkunftsland haben wir als interessiert, jedoch vorrangig beobachtend beschrieben. Eine (politische) Online-Kommunikation zwischen TürkInnen in Deutschland und TürkInnen in der Türkei fand eher selten statt. Das politische Engagement dieser InternetnutzerInnen galt vielmehr Deutschland, und vielfach fand auch der politische Austausch im Netz mit deutschen InternetnutzerInnen ohne Migrationshintergrund statt. Trotzdem zogen es viele der deutschtürkischen NutzerInnen vor, politische Themen innerhalb einer Art ‚ethnischen‛ Teilöffentlichkeit zu diskutieren (Hunger 2004), die sich durch die ergänzende Nutzung der türkischen Sprache und einem Einfluss der türkischen Kultur von der deutschen Mainstream-Öffentlichkeit abgrenzte. Vergleichbar mit Frasers Konzept der ‚subaltern publics‛ (vgl. Fraser 1992: 124) ist diese Öffentlichkeit vorrangig offen für bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die dort in einem geschützten Raum ohne den Druck der deutschen Öffentlichkeit agieren können.
Diese Form der Öffentlichkeit war aber nicht als ethnische Enklave zu verstehen, denn es gab sowohl inhaltliche Bezüge als auch kommunikative Kontakte zur dominanten inländischen Öffentlichkeit (Themen, KommunikationspartnerInnen, Vernetzung). Vielmehr wurde deutlich, dass sich mehr und mehr eine eigene, aber auf Deutschland bezogene nationale Internetsphäre von Deutschtürken herausbildet. Obwohl deutsch-türkische NutzerInnen durchaus auch deutsche Internetangebote nutzten und sich dort politisch beteiligten, und auch die Angebote enger mit deutschen Angeboten vernetzt waren als bei postsowjetischen MigrantInnen, war ihre politische Gemeinschaft doch eher türkisch bzw. deutsch-türkisch geprägt. Die DeutschtürkInnen bildeten im Internet eine Gemeinschaft, die untereinander mehr verband als die Einzelnen mit der Türkei (vgl. Breidenbach/Zukrigl 2000: 284). Dabei war die Motivation für und der Charakter der Online-Sphäre im Vergleich zu der postsowjetischen weniger auf gemeinsame kulturelle Werte und Emotionen und viel stärker auf den Willen zur Auseinandersetzung mit der politischen Realität in Deutschland und des Abwägens verschiedener Standpunkte ausgerichtet.
Motive der unterschiedlichen Internetnutzung
Was die Motive der MigrantInnen zur transnationalen Nutzung des Internets betrifft, so sahen etwa postsowjetische NutzerInnen im Gegensatz zu den beiden anderen Gruppen den Vorteil des Internets darin, dass dort Themen mit besonderer Relevanz für MigrantInnen angesprochen wurden, was sonst nicht getan wird. Dagegen spielte für kurdische und, in abgeschwächter Form, auch für deutsch-türkische NutzerInnen der Zugang zu alternativen Informationen eine größere Rolle.
Insgesamt wurde deutlich, dass sich die Mehrheit aller Gruppen von den klassischen Massenmedien in Deutschland tendentiell ausgeschlossen fühlte. Offensichtlich gehen „deutsche" Medien zu wenig auf Themen ein, die MigrantInnen interessieren oder stellen MigrantInnen selbst tendenziös dar (Kissau 2010). Ein von uns befragter deutsch-türkischer Blogger beschrieb dies so:
Solange sich die Mainstream-Medien nicht öffnen, wird das Internet das einzige Forum für Migranten bleiben […] Oftmals habe ich das Bedürfnis verspürt, gegen die Verbreitung von falschen/ einseitigen/ verzerrten Meldungen etwas zu unternehmen. (vgl. Kissau/Hunger 2009).
Gleichzeitig haben diese Gruppen ein ausgeprägtes Informationsbedürfnis, insbesondere was politische Ereignisse in den Herkunftsländern/-regionen betrifft, das jedoch ebenfalls von den klassischen Medien nicht befriedigt wird.
Die politischen Aktivitäten von InternetnutzerInnen mit Migrationshintergrund kann daher zum Teil auch als Reaktion auf Abgrenzungserfahrungen durch die Aufnahmegesellschaft verstanden werden, da Identitäten nicht nur auf innere Ressourcen aufbauen. So ist nach Ansicht von Robins und Aksoy „‚Turkishness' heute keine ausschließlich türkische Angelegenheit – die Haltung der Europäer gegenüber kulturellen Entwicklungen innerhalb der türkischen ‚Minoritäten’ hat einen bedeutenden Einfluß“ (2001: 96).
Gerade das verzerrte oder falsche Bild von ‚Deutschtürken’ wurde von WebseitenbetreiberInnen und InternetnutzerInnen als ein Auslöser ihres Online-Engagements genannt und als Grund für die Nutzung einer eigenen, ‚ethnischen’ Online-Sphäre angegeben, denn dort würden NutzerInnen keine Ablehnung aufgrund von Schreibfehlern oder bestimmter Ansichten erfahren. Gleichzeitig wird diese Ausgrenzung und Falschdarstellung von den NutzerInnen nicht mehr nur passiv hingenommen. Sie beteiligen sich vielmehr auch in Diskussionsforen von „Meinungsmachern“ wie spiegel-online.de, zeit.de, stern.de und focus.de, um an dieser Situation etwas zu verändern und berichten gleichzeitig auf anderen Internet-Seiten über diese Erfahrungen.
Das Internet stellt in diesem Zusammenhang zunehmend eine Möglichkeit dar, Bedürfnisse von MigrantInnen zu befriedigen, die weder von Politik und Medien noch von MigrantInnenorganisationen aufgegriffen werden. Laut einer Studie von Münsteraner StudentInnen nutzen MigrantInnen das Netz, weil sie
[…] dort [...] als Produzenten nicht nur selbst die Themen setzen [können], sondern auch untereinander und gleichberechtigt mit der Mehrheitsgesellschaft kommunizieren. […] Knotenpunkte (Multiplikatoren) dieser internetvermittelten Kommunikation sind so genannte Online-Meinungsführer, die sich durch ihre Expertise, ihre Vernetzung und eine große Reichweite auszeichnen. (Kunstreich/Kücük/Strippel 2008)
Tabelle 1: Motive der Internet-Nutzung von MigrantInnen (in Prozent)
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Fazit
Wie wir gezeigt haben, sind die Nutzungsmöglichkeiten des Internets durch MigrantInnen vielfältig. Es können sich gleichermaßen transnationale Online-Gemeinschaften, virtuelle Diasporas oder ethnische Online-Öffentlichkeiten herausbilden, ohne dass es eine feste Tendenz in die eine oder andere Richtung gibt. Dabei ist es auch möglich, dass diese drei aufgezeigten Entwicklungsrichtungen sogar innerhalb einer MigrantInnengruppe vertreten sind. So zeigten etwa kasachische und weißrussische Internetangebote und -nutzerInnen innerhalb der Untersuchungsgruppe der postsowjetischen InternetnutzerInnen und –betreiberInnen von Webseiten eher eine Diasporaorientierung, wie wir sie bei den KurdInnen gesehen haben. Auch Beispiele aus Großbritannien zeigen, dass MigrantInnengruppen bei ihren Internetseiten sowohl einen Fokus auf das Herkunftsland als auch auf die Lebenssituation im Aufnahmeland legen können (vgl. Parker/Song 2006: 580).
Diese Entwicklungsrichtungen sollen daher keine hohe Homogenität der Gruppen implizieren, denn auch zwischen MigrantInnen eines Herkunftslandes bestehen große Unterschiede in den politischen Interessen überhaupt, den daraus resultierenden Aktivitäten und den Formen, die sie annehmen (vgl. Hunger/Kissau 2009). Ebenso sollten diese Differenzen auch nicht als dauerhaft und stabil angesehen werden. Veränderungen hängen zudem sehr stark von den politischen, sozialen, ökonomischen und religiösen Entwicklungen in den Herkunftsländern, dem Aufnahmeland sowie möglicherweise in einflussreichen Drittstaaten ab.
Wie sich die aufgezeigten drei Entwicklungslinien weiter ausprägen, muss in Zukunft beobachtet werden. Zum einen hat die Dauer des Aufenthaltes der MigrantInnen im Aufnahmeland sicherlich einen Einfluss, zum anderen spielt auch die die generelle Entwicklung des Internets eine Rolle. Da das Internet erst seit etwa einem Jahrzehnt ein wirkliches Massenmedium ist, muss sich noch zeigen, welche langfristigen Effekte das Internet entfaltet, insbesondere bei den nächsten Generationen, die mit dem Internet als Selbstverständlichkeit aufwachsen (sog. digital natives). Auch spielt die Verbreitung des Internet in manchen Herkunftsstaaten eine Rolle. Ein Grund für die geringen politischen Online-Kontakte der untersuchten deutsch-türkischen NutzerInnen zur Türkei könnte die noch relativ geringe Verbreitung des Internets in manchen Regionen der Türkei sein. Hier läuft der Kontakt zum Herkunftsland vielfach noch über das Telefon und den Rundfunk ab (vgl. hierzu Robins/Aksoy 2009). Dies, und auch die noch kommenden technischen Weiterentwicklungen, werden in Zukunft die Rolle des Internets für MigrantInnen mitbestimmen.
Die Tatsache aber, dass viele MigrantInnen angeben, sich gleichermaßen für Aufnahmeland und Herkunftsland zu interessieren – gerade auch für die internationalen Beziehungen zueinander (Kissau/Hunger 2009) – spricht dafür, dass die Unterscheidung „between participation in a host state polity and practices directed towards transforming the home state“ künstlich ist (Adamson 2001: 155). Vielmehr hat sich gezeigt, dass MigrantInnen häufig selektiv in einige transnationale Aktivitäten in Bezug auf das Herkunftsland eingebunden sind, ebenso wie sie sich selektiv dem Aufnahmeland zuwenden.
Transnationale MigrantInnen sind also je nach persönlicher Möglichkeit und von ihnen vermutetem Nutzen in mehreren Ländern in verschiedenen Teilbereichen des Lebens aktiv und integriert, was sich auch in ihrer Internetnutzung widerspiegelt. Dabei kann dieses Interesse auch Schwankungen unterliegen, abhängig von den jeweiligen politischen Situationen in den Staaten oder der persönlichen Situation. Wofür sich MigrantInnen auch entscheiden, d.h. ob sie sich nun mehr dem Herkunftsland zuwenden, neue transnationale Gemeinschaften bilden oder das Internet zu Austausch und Kontaktaufnahme zum Aufnahmeland nutzen, in allen Fällen hilft ihnen das Internet heute, nationale Begrenzungen zu überwinden.
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Kathrin Kissau ist wiss. Mitarbeiterin am Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften in Lausanne. Uwe Hunger, PD, vertritt z.Z. eine Professur für Methodenforschung am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.