Transnationalisierung der sozialen Welt als Herausforderung und Chance

Lukas Podolski und Mesut Özil

 

von Ludger Pries

Millionen von Jahre lebten die Menschen als JägerInnen und SammlerInnen hauptsächlich nomadisch, indem sie von Ort zu Ort zogen und ihren jeweiligen Nahrungsquellen folgten. Die sesshafte Lebensweise ist eine recht neuartige Erfindung, die erst seit einigen Tausend Jahren mit den verbesserten Methoden von Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht ermöglicht wurde. Aber überall auf der Welt führten technische Entwicklungen, klimatische Veränderungen und soziale Innovationen immer wieder zu räumlicher Mobilität einzelner Menschen, Sippen oder ganzer Völkerstämme. Vor allem mit der Industrialisierung, Urbanisierung und Individualisierung der menschlichen Lebensräume seit dem 18. Jahrhundert gingen enorme Wanderungsbewegungen von Millionen Menschen einher – vom Land in die Stadt, aus der alten in die neue Welt etc.

Gleichzeitig vermittelte der aufkommende Nationalismus den Eindruck, alle Menschen seien mehr oder weniger eindeutig und dauerhaft jeweils einem nationalstaatlichen ‚Container‛ zuzuordnen. Im Namen von Nationen und Staaten wurden Weltkriege geführt, und die meisten Menschen der Welt können sich noch heute ziemlich klar als einer Nationalgesellschaft zugehörig einordnen. Inzwischen ist die ganze Welt vermessen und in nationalstaatliche Territorien aufgeteilt. Die Anzahl der unabhängigen Staaten, die Teil der ‚Vereinten Nationen‘ (sic: es heißt nicht ‚Vereinte Menschheit‘ oder ‚Vereinte Stämme‘ oder ‚Vereinte Völker‘!) sind, wuchs in den letzten dreißig Jahren von etwa 150 auf knapp 200 an. Alle Menschen scheinen – russischen Puppen gleich – jeweils zunächst in lokale (Gemeinden), dann nationale (Staaten und Gesellschaften) und schließlich globale (menschheitliche) Sozialräume eingebunden zu sein.

Allerdings machen verschiedene weitere Entwicklungen die Dinge weitaus komplizierter. Dies gilt speziell für die Tendenz einer Transnationalisierung von Lebenspraktiken und Lebensräumen. Damit ist eine Lebensweise gemeint, die durchaus in nationalstaatliche ‚Containerräume‘ eingewoben ist, allerdings über Grenzen hinweg in mehrere lokale und nationalgesellschaftliche Lebensräume gleichzeitig. Die Transnationalisierung der sozialen Welt von Menschen zeigt sich daran, dass sich diese nicht entweder dem einen oder dem anderen ‚Containerraum‘ zugehörig fühlen, sondern in ihrem transnationalen Sozialraum zu Hause fühlen. Dass solche transnationalen Lebensweisen von großer und wachsender Bedeutung sind, zeigen anschaulich einige Beispiele aus dem öffentlichen Leben.

Diese werden im Folgenden zunächst dargestellt (Abschnitt 1), um anschließend nach einem kurzen Rückbezug auf die klassischen Formen der Migration (Abschnitt 2) das spezifisch Neue transnationaler Wanderungsprozesse herauszuarbeiten (Abschnitt 3). Dies wird zunächst am Beispiel der Geldrücküberweisungen von MigrantInnen gezeigt, die seit den 1990er Jahren sehr stark an Bedeutung zugenommen haben und auf transnationale Haushaltsstrategien hinweisen (Abschnitt 4). Eine Analyse des migrationsrechtlichen Status von Einreisenden in den wichtigsten OECD-Ländern lässt sich ebenfalls als Beleg dafür interpretieren, dass grenzüberschreitende familiäre Netzwerkbeziehungen einen Großteil des Migrationsgeschehens insgesamt bestimmen (Abschnitt 5). Vor diesem Hintergrund realgesellschaftlicher Entwicklungen muss – so wird abschließend argumentiert – ein erweitertes Verständnis der Internationalisierung von Vergesellschaftungsprozessen entwickelt werden (Abschnitt 6).(1)

Transnationale Migration und Fußball

Bei der Fußballeuropameisterschaft 2008 schoss im Spiel Deutschland gegen Polen der in Polen geborene und inzwischen in Deutschland eingebürgerte Lukas Podolski das entscheidende Tor für die deutsche Mannschaft – und kickte damit Polen aus dem Turnier. Nach dem Spiel ging er zum polnischen Fanblock und begrüßte dort den polnischen Teil seiner Familie. Dann feierte er mit seinen deutschen Mannschaftskollegen den Sieg.

Umgekehrt kämpfte der in Deutschland geborene und normalerweise für Schalke 04 spielende Hamit Altıntop bei diesem Wettbewerb für die Türkei, das Land seiner Vorfahren und seiner Staatsbürgerschaft. Durch seinen Einsatz im Spiel gegen die Tschechische Republik wurde er zum türkischen Nationalhelden. Nach der Niederlage der türkischen gegen die deutsche Mannschaft beglückwünschte er seine deutschen Fußballerkollegen. Große internationale Sportereignisse mobilisieren Leidenschaften und Gefühle, die offensichtlich nicht mehr ganz einfach in nationale Schachteln zu verpacken sind. Zu vielfältig sind inzwischen die Lebenswege und Lebensorientierungen vieler Menschen.

Internationale Migration ist ein Schlüssel für das Verständnis dieser tief greifenden Veränderungsprozesse, die häufig mit dem Schlagwort Globalisierung belegt werden. Etwa 200 Mio. Menschen leben und arbeiten gegenwärtig – wie Lukas Podolski – in einem anderen als ihrem Geburtsland. Sie sind also nach der klassischen Definition internationale MigrantInnen. Mindestens doppelt so viele dürften – wie Hamit Altıntop – in einem anderen Land als dem Geburtsland ihrer Eltern leben, ohne offiziell als MigrantInnen gezählt zu werden.

Neben dieser internationalen Migration von etwa einer halben Milliarde Menschen, die direkt oder in der Elterngeneration ihren dauerhaften Wohnsitz über Ländergrenzen hinweg veränderten, ist auch die interne Migration von großer Bedeutung. Denn die Abgrenzung zwischen internationaler und Binnenmigration sagt häufig wenig über den tatsächlichen Wechsel von Sozialräumen aus: Die Ärztin oder Professorin, die 75 Kilometer von Freiburg nach Basel zieht, gilt als internationale Migrantin – auch wenn sich an ihrem lebensweltlichen Umfeld, ihrem Freundeskreis und ihren Gewohnheiten vielleicht nicht viel ändert. Dagegen zählt der Verkaufsmanager oder Techniker, der 5.000 Kilometer von Boston in Massachusetts nach San Diego in Kalifornien wechselt, als interner Migrant – obwohl er wahrscheinlich einen einschneidenden Wechsel seiner Arbeits- und Lebensgewohnheiten erfährt. In China und Indien hat die Binnenmigration inzwischen die Größenordnung von Hunderten von Millionen erreicht.

Dauerhafte Veränderungen des Wohnsitzes und des Sozialraums betreffen gegenwärtig mehr als eine Milliarde Menschen. Das sind weitaus mehr, als die Vereinten Nationen als internationale MigrantInnen ausweisen. Aber nicht nur zahlenmäßig gewinnt Migration im Zusammenhang mit Globalisierung an Bedeutung. Auch die Formen der grenzüberschreitenden Wanderungen und die daraus entstehenden Lebensweisen der Menschen ändern sich, werden komplexer. Podolksi und Altıntop sind nicht die Einzigen, die sich sehr differenziert und vielleicht auch mit inneren Widersprüchen in und zwischen verschiedenen Nationalgesellschaften verorten.

Über die letzten Jahrhunderte wurde Migration als eine Ausnahmeerscheinung im Leben der Menschen aufgefasst. Als das Typische sah man ein sesshaftes Leben an einem Wohnort und die subjektive Zugehörigkeit zu einer (nationalen) Gesellschaft an. Interne Migration wurde als notwendiger vorübergehender Tribut eingeschätzt, den Industrialisierung und Urbanisierung forderten. Internationale Migration war demzufolge vor allem demographischen und gesellschaftlichen Verwerfungen geschuldet, die im Modernisierungsprozess der Nationalgesellschaften als unvermeidlich erachtet wurden.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts nun zeigt sich, dass immer mehr Menschen auf sehr komplexe Weise ihre Lebensbezüge über viele verschiedene Orte, häufig auch Landesgrenzen hinweg aufspannen. Sie migrieren real zwischen verschiedenen Plätzen hin und her. Sie arbeiten mittels Internet und anderer Kommunikationsmedien mit Menschen an beliebigen Orten auf dem Globus zusammen. Durch Urlaubsreisen, Ausbildung oder Arbeitsaufenthalte knüpfen sie soziale Beziehungen über Ländergrenzen hinweg. Familiennetzwerke erstrecken sich verstärkt über viele Orte und Länder. Die Zukunftspläne und Lebensstrategien vieler, vor allem junger Menschen sind nicht mehr auf eine Nationalgesellschaft beschränkt. Wie die Beispiele von Podolski und Altıntop zeigen, können auch die Identitäten und subjektiven Selbstverortungen vielschichtig und pluri-lokal sein.

All dies sind Ausdrucksformen einer zunehmenden Internationalisierung und Transnationalisierung der sozialen Lebenswelten von Menschen. Globalisierung erschöpft sich eben nicht auf multinationale Konzerne oder auf internationale Waren- und Kapitalströme. Die Internationalisierung von Gesellschaftszusammenhängen betrifft im 21. Jahrhundert tatsächlich viel mehr als nur die Wirtschaft und die Bedrohungen des Klimawandels. Gäbe es nur dies, so wären alle Appelle an kosmopolitische Verantwortung naives Wunschdenken.

Die frohe oder zumindest hoffnungsschwangere Botschaft ist: Neben und mit der wirtschaftlichen Globalisierung intensivieren sich auch Grenzen überschreitende soziale und kulturelle Lebenswelten und transnationale Sozialräume. Die globalen politischen Gestaltungsmöglichkeiten lassen sich realistisch nur ermessen, wenn die verschiedenen Formen und Dimensionen der gegenwärtigen Internationalisierungsprozesse beachtet und ausgeleuchtet werden. Dies lässt sich an den Veränderungen in den Formen internationaler Migration verdeutlichen.

Klassische Formen und Vorstellungen von internationaler Migration

Migration ist so alt wie die Menschheit. Nimmt man etwa nur die letzten 150.000 Jahre der Entwicklung des homo sapiens sapiens, dann machte die nomadische Daseinsweise mehr als neun Zehntel dieser Geschichte aus. Erst mit der Erfindung des Ackerbaus konnten Menschen über sehr viele Generationen an ein und demselben ‚Platz’ sesshaft werden. Aber selbst in den letzten Jahrtausenden haben Naturkatastrophen, Epidemien und kriegerische Auseinandersetzungen immer wieder große Menschengruppen zur Migration getrieben.

Neben diesen ‚push‘-Faktoren waren zu allen Zeiten auch ‚pull‘-Faktoren wirksam, die Menschen einem Magneten gleich aus ihrer Herkunftsregion weggezogen haben. Abenteuerlust spielte hier ebenso eine Rolle wie die Verheißung des schnellen Glücks etwa im kalifornischen Goldgräberrausch der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Fernwanderungen über die Grenzen von Feudalreichen, Nationalgesellschaften oder Kontinenten hinweg nahmen bis ins 20. Jahrhundert vor allem die Form von Auswanderung oder von Rückkehr-Wanderung an. Diese internationale Migration war in der Regel teuer (viele Monats- oder gar Jahreslöhne), langwierig (viele Wochen etwa von Europa nach Amerika) und nicht ungefährlich (wegen Krankheiten und Überfällen). Mit dem Aufkommen der modernen Nationalstaaten wurden seit dem 17. Jahrhundert nach und nach – für viele Länder erst im 19. oder 20. Jahrhundert – auch systematische Zugangskontrollen zum Staatsterritorium und entsprechende Reisepässe entwickelt, die die grenzüberschreitende Migration weiter erschwerten.

Die großen Wanderungsbewegungen etwa im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Europa nach Amerika waren überwiegend Auswanderungen im Sinne eines einmaligen und endgültigen Wechsels von einem Land in ein anderes. Ein nicht unerheblicher Teil dieser MigrantInnen kehrte allerdings auch wieder in das Herkunftsland zurück – in Italien oder Schweden beispielsweise ein Fünftel bis ein Drittel (vgl. z.B. Bade 1992; Smith 1997).

All dies führte zu einem Verständnis der räumlichen Mobilität von Menschen in konzentrischen Kreisen. Russischen Puppen ähnlich gibt es demnach eine lokale Ortsmobilität innerhalb von Gemeinden, eine landesinterne Wanderung und eine internationale Fernmigration. Es verfestigte sich ein Denken in ‚nationalen Containergesellschaften‘: Die Menschen verbringen normalerweise ihr ganzes Leben in Gemeinden; sie wechseln aufgrund äußerer Zwänge (Arbeitslosigkeit etc.) durch interne Migration eventuell zwischen verschiedenen Gemeinden oder Städten; sie migrieren nur unter Ausnahmebedingungen international. Verbunden mit diesem Verständnis war auch die Vorstellung relativ dauerhafter und homogener Identitäten: die Menschen entwickeln eine Lokal- und Regionalidentität (z.B. als Hamburgerin oder Bayer) und fühlen sich einer Nation und Nationalgesellschaft kulturell zugehörig (vgl. Pries 2008).

Fast alle sozialwissenschaftlichen Theorien des 20. Jahrhunderts gehen von einer solchen vorherrschenden und einheitlichen Bindungswirkung von Gesellschaften als Nationalgesellschaften aus. Podolskis und Altıntops haben da keinen Platz. Sie werden als Ausnahme- und Problemfälle eingestuft, die spätestens nach einigen weiteren Generationen ihren festen Platz in einem ‚Nationalcontainer‘ gefunden haben werden. Von ihnen wird erwartet, dass sie irgendwann angeben können, ‚wo sie eigentlich hingehören‘, welchem Nationalstaat gegenüber sie letztlich loyal sein wollen.

Dieses Modell des nationalgesellschaftlichen Containerdenkens ist nun keineswegs völlig falsch. Es beschreibt gut die Lebenserfahrungen und die Lebenspläne der meisten Menschen dieser Welt. Es kann auch die Typen der Auswandernden und der Rückkehr-MigrantInnen angemessen charakterisieren: Erstere wechseln dauerhaft und verbindlich von einer Nationalgesellschaft in eine andere, Letztere kehren dauerhaft und verbindlich wieder in ihre Herkunftsgesellschaft zurück.

Wie aber soll man diejenigen MigrantInnen bezeichnen, die sehr häufig auch über große Entfernungen und über viele Generationen zwischen verschiedenen Nationalstaaten hin- und herpendeln? Wie soll man Migrationswirklichkeiten charakterisieren, in denen sich Netzwerke von Großfamilien über viele Generationen und mehrere Länder aufspannen? Wie würde man die Podolskis und die Altıntops typisieren, wenn sie auf die Frage „Fühlst Du Dich nun als Deutscher oder als Pole bzw. Türke?“ antworten: „Ich fühle mich teils/teils und ich möchte nicht gezwungen werden, nur eine nationale Identität, nur einen Pass zu haben. Ich wurde mit 18 Jahren ja auch nicht gezwungen, mich zwischen meinem Vater und meiner Mutter zu entscheiden. Warum muss ich mich zwischen Deutschland und Polen bzw. der Türkei entscheiden?“ Hier reicht das Modell der Emigration und der Rückkehr-Migration nicht mehr aus (vgl. Pries 2006 und 2007).

Neue Formen transnationaler Migration

Im 21. Jahrhundert werden internationale Migrationsprozesse immer komplexer. Schnelle und relativ preiswerte Kommunikationsmöglichkeiten lassen die Entfernungen schrumpfen. Sie tragen die Bilder vom guten und satten Leben ebenso um den Globus wie die Zeugnisse von Krieg, Elend und Hunger. Es entsteht eine ‚gefühlte Nähe‘ privater wie auch öffentlicher Ereignisse, die sich Tausende von Kilometern entfernt ereignen.

Das verbesserte Wissen um die Möglichkeiten und Ressourcen in anderen Ländern und die bestehenden persönlichen Netzwerke machen grenzüberschreitende Migration wahrscheinlicher. Erschwingliche und relativ sichere Transportmöglichkeiten (inklusive gut organisierter Schlepperbanden) machen Wanderungen auch über große Entfernungen vergleichsweise kalkulierbar. Neben diesen ‚pull‘-Faktoren wirken gewaltsam ausgetragene ethnische Konflikte, die fortschreitende Auflösung traditioneller ländlicher Sozialmilieus sowie ökologische Faktoren wie Bodenerosion und Wasserknappheit als ‚push‘-Faktoren für Migration.

Neben die Emigration und die Rückkehr-Migration tritt immer stärker eine Form von transnationaler Migration (vgl. Pries 1998). Diese ist idealtypisch dadurch gekennzeichnet, dass sich die Lebenspraxis und die Lebensprojekte der ‚TransmigrantInnen’, also ihre ‚sozialen Räume’, zwischen Wohnorten bzw. ‚geographischen Räumen’ in verschiedenen Ländern aufspannen. Es entstehen neue Formen der Grenzziehung von sozialen Räumen, die nicht mehr mit den Schneidungen der territorialen bzw. geographischen Räume übereinstimmen. Solche transnationalen Familien wurden für die Migrationsräume Mexiko-USA und Polen-Deutschland nachgewiesen. Dabei wechseln verschiedene Familienmitglieder ihre Rollen und Wohnorte, ohne den Sozialraum ihrer transnationalen Familie zu verlassen.

So kehrt z.B. der zunächst aus Mexiko migrierte Familienvater zum Hausausbau und zur Agrararbeit nach Mexiko zurück; die Mutter bereits etwas größerer Kinder verlässt anschließend den Haushalt im mexikanischen Dorf zur Haushaltsarbeit in den USA. Nicht selten migrieren auch beide Elternteile und überantworten die Kindererziehung und Haushaltsführung in Mexiko den (Groß-)Eltern; später migriert eventuell das älteste Kind und trägt durch Geldrücküberweisungen den Hauptteil der Haushaltsausgaben auch für den mexikanischen Teil der Familie. Das Kind kann aber auch zum Studium oder zum Gelderwerb nach Mexiko zurückkommen, und sein Großvater kann erneut aufbrechen, um als Gärtner in den USA zu arbeiten.(2)

Im Falle der traditionellen Emigration werden die Geldrücküberweisungen in das Herkunftsland mit der Zeit immer geringer: Zunächst unterstützt man eventuell die Eltern oder Geschwister im Herkunftsland; spätestens beim eigenen Hausbau oder in der nächsten Generation hören die regelmäßigen Geldüberweisungen der Ausgewanderten auf. In der transnationalen Migration dagegen spielen Geldrücküberweisungen eine dauerhafte und bedeutende Rolle; sie sind Teil transnationaler Familienstrategien, in denen über mehrere Generationen hinweg Geldüberweisungen etwa zur Kindererziehung oder Universitätsausbildung über Ländergrenzen hinweg getätigt werden.

Zunehmende transnationale Haushaltsstrategien

Weltweit lässt sich seit den 1970er Jahren eine sehr starke Zunahme der Geldrücküberweisungen aus Migration feststellen. Sie haben sich seitdem auf knapp 100 Mrd. US-Dollar verzehnfacht. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der weltweiten MigrantInnen nur etwas mehr als verdoppelt. Natürlich muss man die vorliegenden Daten vorsichtig interpretieren. Sie beruhen allesamt auf Schätzungen, weil die Geldrücküberweisungen nicht eindeutig erfasst werden können. In Absolutwerten führt Mexiko die Liste der Empfängerländer mit etwa 14 Mrd. US-Dollar im Jahre 2004 an. In Ländern wie Lesotho, Jordanien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Nicaragua, Jemen, Moldawische Republik, El Salvador und Jamaika repräsentieren die Migrantenüberweisungen mehr als ein Zehntel des gesamten Bruttosozialproduktes.

Für viele dieser Länder rangieren die Arbeitsmigrationsüberweisungen unter den drei wichtigsten Quellen für die Einnahme ausländischer Devisen überhaupt. Selbst für ein touristisch so entwickeltes und mit über 100 Mio. EinwohnerInnen sehr großes Land wie Mexiko rangieren die Deviseneinnahmen aus Migrantenüberweisungen in ihrer Bedeutung vor den Einnahmen aus dem Tourismus! Große Entwicklungs- und Schwellenländer wie Albanien, Bangladesh, Brasilien, Kolumbien, Kroatien, Dominikanische Republik, Indien, Mexiko oder Marokko nehmen aus Arbeitsmigration mindestens das Doppelte, manche sogar mehr als das Zehnfache im Vergleich zu den Nettozuflüssen aus Entwicklungshilfe ein (vgl. World Bank 2006).

Schwierigkeiten bei der Erfassung der Geldüberweisungen aus Arbeitsmigration ergeben sich unter anderem dadurch, dass diese vielfach informell erfolgen. In Indien und Pakistan spielt z.B. das sogenannte Hawala-System eine große Rolle. Hierbei wird allein auf Vertrauen und persönliche Bekanntschaft beruhend ein bestimmter Geldbetrag in einer bestimmten Währung an einem beliebigen Ort der Erde einer/m Hawala-Beauftragten gegeben, und dieses Geld wird wesentlich zeitnäher als offizielle Banktransfers in einer anderen (oder auch derselben) Währung an einem beliebigen anderen Ort des Globus mit vergleichsweise geringen Gebühren durch eine/n andere/n Hawala-Beauftragte/n der angegebenen Person ausgezahlt. Neben diesem Hawala-System gibt es andere informelle Geld- und Warentransportnetze, die z.B. im kulturellen Zusammenhang der chinesischen Guanxi-Verwandtschafts- und Personenbeziehungen oder des lateinamerikanischen compadrazgo-Patensystems organisiert werden.

Diese vielfältigen Transportmechanismen für Waren, Kapital und Dienstleistungen bewegen sich zwischen legaler Formalität (z.B. übliche Banküberweisungen), legitimer Informalität (z.B. Hawala-System) und klandestiner Illegalität (z.B. Geldwäsche aus illegalen Schlepper- oder Drogengeschäften). Von den auf Vertrauen basierenden Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen einfacher ArbeitsmigrantInnen bis zu den auf Macht fußenden Anweisungsstrukturen der organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus bilden sich vielfältige und hochgradig ausdifferenzierte transnationale ökonomische Austauschstrukturen heraus. Effiziente Kontrollen aller dieser Transportmechanismen sind unmöglich. Je umfangreicher die informellen und die illegalen Transferformen werden, desto stärker wird das Prinzip staatlicher Souveränität und Hoheit ausgehöhlt. Neben den Nationalstaaten sind auch die internationalen Wirtschaftsunternehmen in diese komplexen Austauschstrukturen eingewoben.

So hat z.B. die Western Union Bank durch hohe Gebühren für Migrantenüberweisungen von den USA nach Lateinamerika profitiert – nicht zuletzt, weil auch irreguläre MigrantInnen hier Überweisungen tätigen können, ohne ein eigenes Bankkonto in den USA zu haben. Traditionelle familiär-verwandtschaftliche Netzwerkstrukturen wie die chinesischen Guanxi können zum Fundament für durchaus beachtliche transnationale Handelsketten und Wirtschaftsorganisationen werden. Umgekehrt können internationale Konzerne durchaus mit Absicht und strategischem Kalkül die transnationalen Strukturen organisierter Kriminalität z.B. für den Absatz und Vertrieb von (unversteuerten) Zigaretten oder die Be- bzw. Entsorgung umweltschädlicher Materialen benutzen. Konzerne werden umgekehrt auch Opfer von Bestechungs- und Schutzgeldforderungen.

Die Bedeutung transnationaler Migration zeigt sich schließlich auch für politische Parteien, Nationalregierungen und Kommunalverwaltungen in den Herkunftsländern. So führen Präsidentschaftskandidaten in Mexiko ihren Wahlkampf nicht nur zu Hause, sondern auch in den USA. Sie machen Werbetouren für Landentwicklungsprojekte in mexikanischen Kommunen bei den ArbeitsmigrantInnen in New York und werben dort für Stimmen. Ähnlich gehen senegalesische PolitikerInnen vor, die nach Paris reisen, um die dortigen ArbeitsmigrantInnen für sich und zur Beeinflussung der WählerInnen in den Herkunftsgemeinden zu gewinnen.

Transnationale Familien- und Haushaltsstrategien im Zusammenhang mit Arbeitsmigration bauen einerseits auf bereits bestehenden transnationalen Organisationen, Kommunikationsmöglichkeiten, etablierten Kanälen für Geld-, Waren- und Personenverkehr sowie auf bestehenden traditionellen sozialen Institutionen (wie der Hawala, den Guanxi oder dem compadrazgo) auf. Andererseits entwickeln sie diese auch weiter, tragen zu ihrer Stabilisierung und zu ihrem Formwandel bei.

Ohne globale Kommunikations- und Transportmöglichkeiten gäbe es wesentlich weniger transnationale Migration. Aber ohne transnationale Migration würde auch wesentlich weniger ‚Funktionsmasse’ für die Stabilisierung globaler Kommunikations- und Transportmöglichkeiten bestehen. Gleichzeitig gilt, dass internationale Migration schon immer in erster Linie familiäre Migration war.

Familien in Migration – Migration in Familien

„Für eine lange Zeit war die Familie die vergessene Form der Migration.“ (3) Internationale Migrationsprozesse wurden und werden vorwiegend als die Bewegung von Individuen über nationalstaatliche Grenzen hinweg untersucht. Berücksichtigt man, dass sehr viele Migrationstheorien auf der Grundlage ökonomischer Betrachtungsweisen entwickelt wurden, so ist dieser Umstand nicht verwunderlich. Denn die meisten ökonomischen Theorien basieren auf einem Menschenbild des homo oeconomicus und modellieren individuelle Entscheidungen. Die Dominanz individualistischer Erklärungsansätze wird auch verständlich angesichts der Tatsache, dass der allergrößte Teil der weltweiten internationalen MigrantInnen – je nach Definition etwa drei Viertel bis vier Fünftel – ArbeitsmigrantInnen sind. Diese wandern tatsächlich häufig zunächst allein für befristete Arbeitsaufenthalte in ein anderes Land mit der Absicht, später in ihr Herkunftsland zurückzukehren oder aber die Familie nachzuholen.

Auch wenn also ein Großteil der internationalen Migration oberflächlich betrachtet individuell erfolgt, so ist aus soziologischer Perspektive doch immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Entscheidungen zur Wanderung meistens kollektiv und im Familienverband getroffen werden und dass grenzüberschreitende Migration in ihrer Dynamik eng mit Familienzyklen (Geburt von Kindern, Versorgung der Elterngeneration, Einkommensgenerierung etc.) analysiert werden muss.(4) In einer wesentlich erweiterten Perspektive wird die Migrantenfamilie heute „als fließend und ständig neu zusammengesetzt und ausgehandelt, als über Raum und Zeit sich anpassende“ verstanden (IOM 2008: 154). Bei genauerer Betrachtung unterstützen die Zahlen zum internationalen Migrationsgeschehen diese Sichtweise.

Von den insgesamt etwa 200 Mio. internationalen MigrantInnen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht in dem Land lebten, in dem sie geboren wurden, ist nur eine Minderheit als jenseits familiärer Zusammenhänge wandernd zu verstehen. Solche individuelle Arbeitsmigration kommt vor allem dort vor, wo – wie etwa im Rahmen von ‚Gastarbeiter’-Migration oder zirkulärer Migration – befristete Arbeitsaufenthalte ohne längerfristige Verwurzelung in der Ankunftsregion von den Migrierenden gewünscht und von der Ankunftsregion erwartet werden (wie etwa bei der traditionellen Gastarbeitsmigration in Deutschland, im Nahen Osten oder in südostasiatischen Ländern).

Aber der allergrößte Teil selbst solch befristeter und restringierter, formal individuellen Wanderungsbewegungen erfolgt im Rahmen von familiären Reproduktionsstrategien. Vor allem dort, wo Länder aktiv qualifizierte Arbeitskräfte anwerben, wird die Mitwanderung von ‚begleitenden Familienmitgliedern’ ausdrücklich geduldet. Dies gilt auch für die Auslandsentsendung von Führungskräften durch Unternehmen oder von Fachkräften im Rahmen technischer Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern.

Überall dort, wo Menschen in Paarbeziehungen, in Kleinfamilien oder großfamiliären Strukturen leben, werden die Entscheidungen zur Migration eines Mitglieds dieser Familien fast immer von mehreren Familienmitgliedern beeinflusst bzw. getroffen; diese Entscheidungen orientieren sich nicht nur an den Interessen des Migrierenden, sondern an den Präferenzen und Notwendigkeiten des gesamten Familienverbandes. In dieser erweiterten Perspektive ist auch die sogenannte Gastarbeiter-Migration nach Deutschland oder etwa die polnische Arbeitsmigration nach England während der 1990er Jahre und die mexikanische Arbeitswanderung in die USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast immer familiäre Migration, insofern die Wanderung Einzelner nur im familiären Kontext verstehbar und erklärbar ist.

Benutzt man solch eine breite Definition von ‚Migration im Familienkontext’, so ist nur ein geringer Teil der internationalen Migration nicht unmittelbar familiär bestimmt. Hierzu zählt z.B. die hauptsächlich individuelle Abenteurer-Migration oder die von religiösen Verbänden stimulierte Missions-Migration. Letztere ist zwar vielleicht nicht familiär, allerdings auch nicht individuell, sondern durch Organisationen bestimmt – so wie auch die Auslandsentsendung von Führungskräften (vgl. Minssen 2009).

Berücksichtigt man, dass generell fast alle grenzüberschreitenden Wanderungsprozesse in familiäre Lebensstrategien und Entscheidungsstrukturen eingebunden sind, so lassen sich bei näherer Betrachtung vor dem Hintergrund der neueren Forschung zumindest fünf spezifische Typen der familiären Migration unterscheiden (vgl. auch IOM 2008: 155ff).

Der erste und in seiner qualitativen wie quantitativen Bedeutung herausragende Typus lässt sich als individuelle Migration aus familiären Gründen bezeichnen. Hierbei wandern ein oder mehrere Familienmitglieder aus Gründen und auf der Grundlage von Entscheidungen, die im Wesentlichen familiärer Natur sind. Beispiele sind die klassische Gastarbeiter-Migration zum Zwecke des zusätzlichen Gelderwerbs für den Familienhaushalt im Herkunftsland oder die von der Familie beschlossene Ausbildungsmigration eines Jugendlichen.

Eine zweite Form familiärer Migration ist die sogenannte Familienzusammenführung. In Deutschland wurde sie vor allem ab den 1980er Jahren ermöglicht, nachdem deutlich wurde, dass aus vielen ‚GastarbeiterInnen’ dauerhafte EinwandererInnen geworden waren. Wie Tabelle 1 verdeutlicht, ist der Nachzug von Familienmitgliedern in fast allen Einwanderungsländern quantitativ von sehr großer Bedeutung.(5) Sie macht für viele OECD-Länder ein Drittel oder sogar mehr als die Hälfte der gesamten dauerhaften Einwanderung (also jenseits von Tourismus) aus.

Ein dritter Typus familiärer Migration bezieht sich auf die sogenannten mitreisenden Familienangehörigen. Dieser Migrationstypus ist zahlenmäßig nicht so bedeutsam wie die bisher vorgestellten. Er tritt in der Regel bei der Migration qualifizierter Fachkräfte auf, die aufgrund ihrer Arbeitsmarktposition als Bedingung für ihre eigene Wanderung die Mitreise ihrer Familienangehörigen aushandeln können. Dieser Migrationstypus spielt in klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada oder Australien eine beachtliche Rolle. Hier ist der Anteil mitreisender Familienangehöriger fast genauso groß wie der Anteil der ArbeitsmigrantInnen selbst (vgl. Tabelle 1). Mitreisende Familienangehörige fallen dagegen für die meisten EU-Mitgliedsländer kaum ins Gewicht. Dies gilt im Übrigen auch für die Kategorie der dauerhaften (individuellen) Einwanderung wegen Arbeit, in der weitgehend die erstgenannte Kategorie der individuellen Migration aus familiären Gründen enthalten sein dürfte.(6)

Tabelle 1: Dauerhafte EinwandererInnen nach Einwanderungskategorie 2006

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Ein vierter Typus familiärer Migration lässt sich als Migration zur Familienbildung bezeichnen. Hierzu zählen etwa die Heiraten von ArbeitsmigrantInnen mit PartnerInnen (in der Regel Ehefrauen) aus dem Herkunftsland. In diesen etwa für die Türkei und nordafrikanische Länder als Herkunftsregionen sehr wichtigen Formen familiärer Migration wechseln EhepartnerInnen aus der Herkunftsregion bzw. aus verwandtschaftlichen Netzwerken der ArbeitsmigrantInnen in das Ankunftsland (etwa Deutschland oder Frankreich) (Nauck 2001). Seit den 1990er Jahren haben auch Heiraten von Deutschen mit PartnerInnen aus südostasiatischen Ländern oder etwa der Karibik an Bedeutung gewonnen (Ruenkaew 2003; Lauser 2005). Da die einwandernden Menschen häufig ohne genauere Kenntnisse der Sprache und Besonderheiten des Ankunftslandes ankommen, ergeben sich nicht selten starke psychische Spannungen und innerfamiliäre Abhängigkeitsprobleme.

Eine andere Form der ‚Migration zur Familienbildung’ entsteht, wenn TouristInnen, ArbeitsmigrantInnen oder StudentInnen bei Auslandsaufenthalten neue PartnerInnen kennen lernen und sich hieraus neue dauerhafte Beziehungen mit veränderten Migrationsabsichten ergeben. Diese Form der Migration zur Familienbildung sollte nicht unterschätzt werden. Für bestimmte kleinere Herkunftsländer und Ankunftsregionen kann sie durchaus von großem Gewicht sein. So wird berichtet, dass seit 1990 etwa 100.000 vietnamesische Frauen taiwanesische Männer geheiratet haben (IOM 2008: 156). Schätzungsweise mehr als 10.000 russische Frauen migrieren jährlich zur Heirat in die USA (ebd.).

Ein fünfter Typus familiärer Migration lässt sich als Migration unterstützter Verwandter bezeichnen. Sie kommt vor allem in Einwanderungsländern zum Tragen, in denen die bereits länger angesiedelten Eingewanderten Verwandte zur Einwanderung vorschlagen können (etwa Geschwister oder volljährige Kinder). Dieser Typus von familiärer Migration dürfte in Zukunft für diejenigen (OECD-)Länder von größerer Bedeutung werden, die aufgrund demographischen Wandels oder anderer Faktoren dringend auf aktive Zuwanderung angewiesen sind.

Zusammengefasst zeigt sich, dass familiäre Migration insgesamt die weitaus dominante Form von grenzüberschreitender Wanderung überhaupt ist. Je nach Migrationsbedingungen und -politiken der Herkunfts- und Ankunftsländer sowie der persönlichen Lebensstrategien sind die skizzierten Typen familiärer Migration jeweils von unterschiedlicher Bedeutung. Auch in Zukunft dürfte grenzüberschreitende Migration vor allem im familiären Zusammenhang erfolgen. Deshalb ist Migrationspolitik auch immer Familienpolitik, und die Familienpolitik beeinflusst die Bedingungen und Dynamiken von Migration.

Vor diesem Hintergrund erschließt sich die potentielle zukünftige Entwicklungsdynamik von transnationaler Migration. Diese kann im 21. Jahrhundert auf seit Generationen gewachsene grenzüberschreitende familiäre (und organisationale) Netzwerkstrukturen und neuerdings auch auf qualitativ und quantitativ erweiterte Transport- und Kommunikationstechnologien aufbauen. Hierdurch erweitern sich die Strukturen und Dynamiken der Internationalisierung von Vergesellschaftungsprozessen ganz erheblich.

Internationalisierung als mehrdimensionales und Mehrebenenmodell

Transnationale Migration und transnationale Familien- und Haushaltsstrategien sind eng miteinander verbunden und verstärken sich wechselseitig. Sie stehen in enger Wechselbeziehung zur Internationalisierung von Finanzströmen und Wirtschaftsorganisationen – auch wenn sie weniger sichtbar und schwieriger messbar sind. Für ein tieferes Verständnis der gegenwärtigen Internationalisierungsprozesse insgesamt muss diese ‚Transnationalisierung von unten‘ einbezogen werden. Die ökonomische Dimension von Internationalisierung – etwa in Form von Finanzkapitalflüssen – hängt eng mit der sozialen Dimension alltäglicher transnationaler Lebenswelten und Geldrücküberweisungen zusammen. Die politische Dynamik in einzelnen Nationalstaaten ist direkt verknüpft mit transnationalen sozialen und ökonomischen Faktoren wie etwa Migrantenwählerstimmen und Deviseneinnahmen aus Migration.

Schließlich bestehen in aller Regel auch Wechselwirkungen zwischen der ökonomischen, der politischen, der sozialen und der kulturellen Dimension von Internationalisierung, wie die ausgeführten Beispiele der Hawala, der Guanxi und des compadrazgo, aber auch transnationale Musik- und Kleidungsmoden zeigen. Gerade weil die ökonomische, die politische, die soziale und die kulturelle Dimension von Internationalisierungsprozessen eng miteinander verwoben sind, können auch deren Gefährdungen und Chancen nur in einer mehrdimensionalen Perspektive angemessen erörtert werden.

Neben der Differenzierung und dem Zusammendenken der ökonomischen, der politischen, der sozialen und der kulturellen Dimension von Internationalisierung ist die Unterscheidung der vielfältigen Raumbezüge von Internationalisierung wichtig. Denn selbst bei zunehmender Internationalisierung sind die konkreten alltäglichen Lebenswelten der Menschen doch immer an konkrete Orte und Regionen gebunden – sie sind nicht ‚de-lokalisiert‘, wie einige Globalisierungstheoretiker glauben machen wollen. Für viele Aspekte von Internationalisierung (z.B. für die rechtliche Rahmenordnung und die wohlfahrtsstaatlichen Teilhaberechte der Menschen) hat der ‚Containerraum’ des Nationalstaates noch immer eine erhebliche und zum Teil sogar noch wachsende Bedeutung.

Jenseits der Nationalstaaten bilden sich mehr oder weniger verbindliche supranationale Kooperationsstrukturen heraus, die aber meistens nur eine der erwähnten Dimensionen von Internationalisierung betreffen. Hierzu zählen etwa die Organisation Afrikanischer Staaten (vorwiegend politische Dimension), der Nordamerikanische Freihandelspakt (vorwiegend ökonomische Dimension) und die Europäische Union (alle vier Dimensionen). Der umfassendste Raumbezug schließlich betrifft den gesamten Globus. Phänomene wie die Erderwärmung oder die Menschenrechte können sinnvoll nur auf dieser Ebene betrachtet werden.

Diese bisher betrachteten Raumbezüge der Internationalisierung (lokal, regional, national, supranational und global) repräsentieren ein Modell absoluter Containerräume, in dem Zwiebelringen oder den Russischen Puppen gleich kleinere Räume in größere eingeschachtelt und aufgehoben sind. In der Internationalisierungsforschung wurden aber auch noch drei Idealtypen von Raumbezügen nachgewiesen, die – beruhend auf relationalen Raumvorstellungen – gleichsam quer zu den Zwiebelringen bzw. ineinander verschachtelten Puppen gedacht werden. Unter dem Stichwort der Glokalisierung werden Phänomene betrachtet, die einen direkten Bezug von spezifischen Orten oder Regionen zu globalen Prozessen betreffen – etwa die Auswirkung der globalen Erderwärmung auf die Lebensbedingungen im Ganges-Flussdelta.

Als Diaspora-Internationalisierung wird die Ausbreitung und Intensivierung der Bezüge zwischen einem ‚Mutterland’ und seinen räumlich weit verteilten lokalen ‚Dependancen‘ bezeichnet. Religiöse Organisationen, diplomatische Korps oder die Beziehungen politischer Flüchtlinge zu ihrem Herkunftsland entsprechen in der Regel solchen Diaspora-Beziehungen. Schließlich beschreibt Transnationalisierung eine idealtypische Internationalisierungsform, bei der sich ein relativ stabiler und verdichteter Sozialraum über mehrere Flächenräume (z.B. nationalstaatliche Territorien) hinweg erstreckt, ohne – wie im Falle der Diaspora – ein steuerndes Zentrum aufzuweisen. Transnationale Sozialräume können im Rahmen internationaler Migrationsprozesse, aber auch aus anderen Formen internationaler Profit- oder Non-Profit-Organisationen entstehen.

Diese Beispiele zeigen: Sozialräume können sich – wie im Falle transnationaler Familien – über mehrere geographische Räume hinweg aufspannen, sie können aber auch – wie im Falle von Nationalgesellschaften in Nationalstaaten – den Russischen Puppen gleich passgenau ineinander verschachtelt sein. Im 19. und 20. Jahrhundert herrschte ein absolutes Raumdenken vor. Danach sind geographisch-physische Flächenräume (als souveräne und geschlossene nationalstaatliche Territorien) und Sozialräume menschlicher Verflechtungsbeziehungen ‚doppelt exklusiv ineinander verschachtelt‘: In einem Flächenraum (als nationalstaatlichem Territorium) kann es nur einen und genau einen Sozialraum (als sozial, kulturell und politisch homogen verfasste Nationalgesellschaft) geben. Umgekehrt benötigen dieser Anschauung zufolge dauerhafte Sozialräume immer genau einen kohärenten Flächenraum.

Wenn sich die Beziehungen zwischen solchen nationalgesellschaftlichen Containerräumen intensivieren (ohne dass sich die Grenzen der nationalen Container auflösen), so kann man vom Idealtypus einer Inter-Nationalisierung sprechen (z.B. im Fall der UNO oder OECD). Dehnt sich der geographische und sozialräumliche Bezugshorizont einfach nur aus (ohne dass es zu einer ‚Entbettung’ von Sozialraum und Flächenraum käme), so kann man idealtypisch von der Internationalisierungsebene der Supranationalisierung sprechen (wie z.B. im Falle der EU).

Bezieht sich diese flächen- und sozialräumliche Ausdehnung auf die gesamte Welt, so kann man dies als Idealtypus Globalisierung bezeichnen. Reklamieren regionalistische Bewegungen innerhalb bestehender Containerstaaten den nationalstaatlich-nationalgesellschaftlichen Raumbezug für sich, so entspricht dies dem Idealtypus einer Re-Nationalisierung (solche Tendenzen sind auch im 21. Jahrhundert und bei der Gleichzeitigkeit von Globalisierungsprozessen zu beobachten, wie die Beispiele des Irak oder die Spannungen zwischen der VR China und Taiwan zeigen).

In der Perspektive eines relationalen Raumkonzeptes müssen Flächenräume und Sozialräume nicht unbedingt in einer doppelten Ausschließlichkeit ineinander verschachtelt sein. Vielmehr kann sich ein Sozialraum über mehrere Flächenräume hinweg erstrecken, oder es können in einem Flächenraum mehrere Sozialräume ‚aufgeschichtet’ sein. Als Idealtypen der Internationalisierung lassen sich die bereits erwähnten Formen der Glokalisierung, Diaspora-Internationalisierung und Transnationalisierung nennen.

Betrachtet man Internationalisierung tatsächlich als mehrdimensionales und Mehrebenenmodell, so zeigen sich vielfältige und häufig auch widersprüchliche Muster grenzüberschreitender Verflechtungsbeziehungen. Supranationale, globale, inter-nationale, re-nationalisierte, glokale, diasporische und transnationale Beziehungen bestehen nebeneinander und sind ineinander verwoben. Nimmt man dieses pluridimensionale Mehrebenensystem ernst, so wird die weitere Internationalisierung wahrscheinlich weder zu einer Weltregierung nach dem nationalstaatlichen Muster noch zum gesetzeslosen Dschungelkapitalismus führen.

Ihre Konturen wird diese Governance der Internationalisierung nicht zuletzt aus den Visionen und Strategien der unterschiedlichen international vernetzten Akteursgruppen gewinnen.(7) Die damit geforderte soziale Innovation ist die vielleicht größte Herausforderung für das 21. Jahrhundert. Transnationale Migration wird dabei eine wichtige Triebkraft sein.

 


Endnoten

(1) Teile der folgenden Ausführungen wurden in gekürzter Form veröffentlicht in: Le Monde Diplomatique, No. 4/2008, 20-25; ich danke Patricia Pielage für Hilfe bei der Literaturrecherche.
(2) Für die Migration zwischen Polen und Deutschland vgl. z.B. Palenga-Möllenbeck 2005.
(3) IOM 2008: 153; Übersetzung L.P.; vgl. auch Pflegerl/Trnka 2005.
(4) Vgl. in klassischer Weise schon Thomas/Znaniecki 1958; neuerdings Boyd 1989; Nauck/Settles 2001.
(5) In sehr vielen Verfassungen von Nationalstaaten und durch die Menschenrechte (Artikel 12) ist die Familie als eine wesentliche Grundeinheit von Gesellschaften besonders geschützt. Deshalb ist das Recht auf Familienzusammenführung nur in äußerst restriktiven ‚Gastarbeiter’-Ländern wie im Nahen Osten oder in Südostasien gegenwärtig (noch) stark eingeschränkt.
(6) Allerdings sind hier auch die Fälle der individuellen Migration ohne familiäre Gründe einbezogen, weil diese Unterscheidung zwar für den hier interessierenden Zusammenhang von Familie und Migration relevant ist, aber keine Entsprechung in den OECD-Kategorien hat; vgl. OECD 2008: 35ff.
(7) Für den Bereich der grenzüberschreitenden Regulierung von Arbeit, Beschäftigung und Partizipation vgl. Pries 2010.

 

Literatur

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Ludger Pries, Professor für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum, forschte und lehrte in (Latein-) Amerika und Spanien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Organisations-, Arbeits- u. Erwerbssoziologie, Transnationalisierung u. Migrationssoziologie.