von Stephan Lanz
Seien es Imaginationen über „Ghettos“ oder „Parallelgesellschaften“, symbolisiert durch Kreuzberg und Neukölln, seien es Bilder der multikulturellen Stadt, festgemacht am Mega-Event „Karneval der Kulturen“ – Berlin bildet seit den 1970er Jahren die Folie für zentrale Diskurse und Politiken, die das thematische Feld „Stadt und Migration“ in der Bundesrepublik bearbeiteten. An Berlin lässt sich paradigmatisch das Zusammenspiel zwischen alltäglichen Realitäten einer Einwanderungsstadt und den ausländer- und integrationspolitischen Diskursen und Strategien debattieren.
Während noch vor Kurzem eine Wahrnehmung vorherrschte, die Einwander_innen auf Gastarbeiter- oder Flüchtlingsmilieus mit vermeintlich fremden ethno-nationalen „Kulturen“ reduzierte, besitzt Berlin heute das Image einer kosmopolitischen Metropole. Dieses Bild korreliert mit Alltagserfahrungen, wonach öffentliche Räume in Innenstadtvierteln wie Mitte, Kreuzberg oder Neukölln eine, wenn man so will, babylonische Vielfalt von Sprachen oder Zeichen aufweisen, die bisher nur mit Weltstädten wie New York oder London verbunden wurde.
Der Text diskutiert am Beispiel von Berlin, auf welche Weise sich die Imagination einer Stadt, in der Einwander_innen als Fremdkörper galten oder als vermeintlich „Andere“ auf Distanz gehalten wurden, in das Bild einer ethnisch und kulturell vielfältigen Metropole verwandelte und mit welchen Transformationen einwanderungspolitischer Strategien diese Entwicklung einherging.
Ghettodiskurse in der Gastarbeiterstadt
Im Verlauf der 1970er Jahre geriet der ideologische Konsens der westdeutschen Ausländerpolitik, deren strukturelle Muster sich seit der Gründung des deutschen Reiches kaum verändert hatten, in einen Widerspruch zu dauerhaften Einwanderungsprozessen und entsprechenden Alltagserfahrungen im innerstädtischen West-Berlin. Im urbanen Alltag wurden bestimmte „Fremde“ kaum mehr als solche wahrgenommen, andere, wie die zunehmenden außereuropäischen Asylsuchenden, aber umso mehr. Bis dahin waren Migrant_innen als temporäre Gastarbeiter_innen definiert und als einheitliche Kategorie „fremder Volksangehöriger“ verstanden worden. Im städtischen Raum hatte sich als zentrale Metapher für „den Ausländer“ als Fremdkörper, der sich vorsätzlich von „den Deutschen“ separieren wolle, die Diskursfigur des „Ghettos“ etabliert. Gerade Kreuzberg diente bundesweit als Symbol für die ideologischen Schlachten um den Immigrationskomplex und galt als von Ausländer_innen und Aussteiger_innen be-wohntes „entsetzliches“ Ghetto (FAZ 13.06.75). Um die „räumliche Ballung“ der „Gastarbeiter_innen“ zu verringern, erließ die Stadtregierung eine bis Ende der 1980er Jahre geltende Zuzugssperre für das Arbeiterviertel Kreuzberg und zwei weitere Bezirke. In Ostberlin wiederum waren Kontakte zwischen den „Vertragsarbeiter_innen“, die in verbündeten sozialistischen Staaten angeworben wurden und bis zum Zusammenbruch der DDR in abgeschotteten Heimen leben mussten, und den Einheimischen generell unerwünscht.
Neben der Ausländerpolitik war auch die sozialdemokratische Stadtentwicklungspolitik West-Berlins, die durch zentralistische Planung einen homogenen städtischen Raum sowie standardisierte Lebensverhältnisse angestrebt hatte, in den späten 1970er Jahren in die Krise geraten. Gesellschaftliche Umbauprozesse sprengten „das System sozialdemokratischer Vergesellschaftung“ (Homuth 1987: 101) und brachten 1981 erstmals die CDU an die Macht, welche die Berliner Politik fast zwei Jahrzehnte lang dominieren sollte.
Assimilativer Multikulturalismus: Die Imagination der Kulturmetropole
Als erstes Bundesland führte Ber¬lin nun das Amt eines „Ausländerbeauftragten“ ein, das ausländerpolitische Maßnahmen konzipieren und koordinieren sollte. Bis dahin als „Problem staatlicher Planung“ verstanden, etablierte sich Ausländerpolitik nun als „Beauftragtenpolitik“(Schwarz 2001). Die Ausländerbeauftragte verfolgte eine zwiespäl-tige Strategie: Zum einen suchte sie im Gleichklang mit der konservativen Bundesregierung die Ausländerzahlen zu verringern. Zum anderen setzte sie auf die Weltoffenheit der Berliner_innen und warb um Akzeptanz „anderer Kulturen“. Hatten migrantische Selbstorganisationen bis dahin als ghettofördernde Instanzen gegolten, wurde nun eine temporäre „Betonung der eigenen ethnischen Identität“ nicht mehr per se als integrationshemmend interpretiert. Vielmehr förderte der Selbsthilfetopf des Sozialsenats eine an konservative Traditionen anknüpfende „Honoratiorenpolitik“ (ebd.), die Migrant_innen nicht als bedürftige Opfer, sondern als selbständige Subjekte wahrnahm. Dabei ging es um soziale Probleme wie ihre durch Deindustrialisierung steigende Arbeitslosigkeit oder die mangelhafte Ausbildungssituation der Jugendlichen. Diese Senatspolitik, die gesellschaftliche Aktivitäten der Einwanderer_innen nicht zuletzt förderte, um deren Ausschluss aus dem politischen System zu kompensieren, veränderte die organisierten Communities. Ursprünglich politische Initiativen gründeten jetzt Nachbarschaftsheime oder Jugendprojekte, um die Förderkriterien zu erfüllen.
Mitte der 1980er Jahre wurde die Auszehrung West-Berlins durch einen Rückgang der Bevölkerung, hohe Arbeitslosigkeit und steigende Bundessubventionen immer offen-sichtlicher. Gleichwohl deutete der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen Berlin als Kulturmetropole, die sich mit Paris, London und New York messen könne. Das Versprechen kultureller Toleranz und Vielfalt sollte Milieus symbolisch integrieren, die im sozioökonomischen Umbauprozess auseinander drifteten. Entsprechend zielt der In-tegrationsbegriff des Senats auf Wohlfühlaspekte und Kultur, nicht aber auf soziale Rechte: Integration bedeutete „ein möglichst spannungsfreies Zusammenleben, […] miteinander wohl- und zuhause fühlen“. Erstmals galt, dass „das Nebeneinander verschiedener Bräuche und Kulturen […] als eine Bereicherung durch Vielfalt erlebt wer-den [kann]. Der Berliner Senat bevorzugt deshalb Integrationsprogramme, die der kulturellen Eigenständigkeit der Ausländer breiten Raum lassen“ (Der Senator für Ge-sundheit 1982: 6f.). Diepgen betonte, dass eine „Metropole wie Berlin von der Vielfältigkeit [lebt], von der Verschiedenheit, von Zuwanderern“ (Presse- und Informationsamt 1985: 30). Er rühmte einerseits den Rückgang türkischer Einwander_innen als Ergebnis der CDU-Politik und verknüpfte andererseits die Anwesenheit von Einwander_innen nicht mehr mit ihrem ökonomischen, sondern mit ihrem Beitrag zur kulturellen Vielfalt der Stadt.
Während Sozialsenat und Ausländerbeauftragte in dieser zwiespältigen Politik für Integration zuständig waren, verantworteten die rechtskonservativen Innensenatoren die repressiven Aspekte, die aus der bis Ende der 1970er Jahre politisch dominanten Idee der national homogenen Großstadt übernommen waren. Sie erschwerten den Fami-liennachzug, forcierten Ausweisungen und erhoben repressive Assimilationsansprüche. Insgesamt war die Berliner Ausländerpolitik der 1980er Jahre durch einen assimilativen Multikulturalismus geprägt. Dieser duldete, förderte und nutzte zwar kulturelle Vielfalt, fasste diese aber in ein hierarchisches Verhältnis zwischen einer die Norm repräsentierenden Mehrheitsgesellschaft und eingewanderten Gemeinschaften, die sich an vorgegebene Normen anzupassen haben. Das geltende Klassifizierungs¬system der Einwander_innen gründete dabei auf kulturellen und ethnischen Differenzen. Ähnlich der Abstammung galten diese als „geistig und seelisch angeboren“ (Morgenstern 2002: 315).
Fremdheit zwischen Ost und West abbauen
In den frühen 1990er Jahren galten integrationspolitische Fragen angesichts der Aufgabe, Berlin wiederzuvereinigen und infrastrukturell auf den vermeintlichen Boom vor-zubereiten, als nachrangig: Berlin, so konstatierte Diepgens Regierungserklärung 1991, könne in der Situation des Umbruchs keine Einwanderungsstadt werden. Auch der SPD, die in der Großen Koalition nun mitregierte, ging es vorrangig darum, „Fremdheit zwischen Ost und West [-Berlin] abzubauen“ (SPD-Berlin 1991). Zu dieser Zeit gingen irrwitzige Boom-Phantasien – Politik und Expert_innen prophezeiten einen Bedeutungssprung Berlins zu einer Global City mit sechs Millionen Einwohner_innen - mit einer (traditionellen) Politik der Abschottung gegenüber einer osteuropäischen Zuwanderung einher, die in einem antislawisch-rassistischen Diskurs als drohende Springflut imaginiert wurde. Während repressive Maßnahmen des Innensenats darauf zielten, Zuwanderung – etwa mithilfe von Massenabschiebungen von Polen - zurück-zudrängen, vertiefte die Ausländerbeauftragte einen Multikulturalismus, der Migrant_innen die Repräsentation ihrer „kulturellen Identitäten“ ebenso ermöglichte wie er sozialpolitisch auf ihre Selbsthilfe zielte. Um „ein konkretes Zeichen zu setzen für die wachsende kulturelle Vielfalt“ (John 2005: 9) Berlins, gründete sie eine „Werkstatt der Kulturen“, die seit 1996 einen schnell zum touristischen Mega-Event angewachsenen „Karneval der Kulturen“ veranstaltet. Im Rahmen des historischen deutschen Kulturbegriffs, der Kulturen als ethnisch-nationale Einheiten definiert, folgte dieses „Identitätsspektakel“ (Levent Soysal) in der öffentlichen Wahrnehmung einer Logik der „Völker-schau“ (Barbara John), in der sich „fremde“ Ethnokulturen der Mehrheitsgesellschaft darstellen.
Während der “Karneval der Kulturen“ zum allseits geschätzten Symbol für einen gelebten Multikulturalismus heranwuchs, gewannen in Berlin sozio-ökonomische Krisensze-narien an Raum. Denn die Boom-Träume waren schnell geplatzt und zwei Drittel der Industriearbeitsplätze verschwunden. Die Arbeitslosigkeit pendelte sich zwischen 15 und 20 Prozent ein, Berlin steuerte in eine dramatische Schuldenkrise hinein und die Große Koalition kürzte und privatisierte kommunale Leistungen. (Im öffentlichen Diskurs setzten sich ab 1997 düstere Krisenszenarien durch, die Berlin sozio-ökonomisch niedergehen sahen. Insofern gerade Einwandererviertel eine hohe Arbeitslosigkeit und Verarmungsrate aufwiesen, lebte ein historisch eingeübter Ghetto-Diskurs wieder auf, der sich mit Kreuzberg und später Neukölln auf dieselben Stadträume richtete wie seine historischen Vorläufer aus den 1920er, 1930er und 1970er Jahren. Wieder ging es um die vorgeblich freiwillige Abschottung der Einwander_innen von „den Deutschen“, ihre fehlende Bereitschaft, sich zu integrieren, und um eine bedrohliche Verslumung. Gleichwohl setzte sich als politische Strategie einer „urbanen Integration“ Ende der 1990er Jahre schließlich das Programm der „Sozialen Stadt“ durch, das bis heute mithilfe von präventiven, auf Selbsthilfe und Partizipation zielenden Sozialpolitiken in benachteiligte Einwandererviertel interveniert.
Diversitärer Multikulturalismus: Die Imagination der kosmopolitischen Metropole
Im Kontext der politischen Philosophie der rot-grünen Bundesregierung und ihres Umzugs nach Berlin wandelte sich dessen mediales Bild, das noch 1998 von Verfallssze-narien dominiert war, fundamental. Schon 1999 jubelte die „Spiegel“-Nummer „New Berlin – Aufbruch zur Weltstadt“ (H. 36/99) Berlin in der Nachfolge New Yorks zur paradigmatischen Weltmetropole des neuen Jahrhunderts hoch. Gerade neue Einwanderergruppen, die als besonders dynamisch galten, wurden dabei als Pionier_innen eines neoliberalen, auf individuelle Selbstverantwortung setzenden gesellschaftlichen Umbaus gedeutet.
Auch international wurde Berlin verstärkt als „spannende“ Metropole mit dynamischen Kulturszenen, gesellschaftlicher Liberalität und der Verfügbarkeit kommerziell nicht verwerteter Räume wahrgenommen. Neben dem Tourismus begannen temporäre Zuwanderungsformen junger Erwachsener zu boomen, die als Studierende, Künst-ler_innen oder Langzeit-Reisende einreisten und zunächst einmal blieben. Auch die Stadtregierung verpasste Berlin nun die Attribute kosmopolitisch und vielfältig. Wie in den „„Goldenen 20ern“, als die Metropolenkultur Berlins weltweit ausstrahlte, und in den 1980ern wurde die Bedeutung der Stadt um ihre kulturelle Vielfalt und ihre vermeintliche Jugendlichkeit herum konstruiert, um einen Ausweg aus einer tiefen sozio-ökonomischen Krise zu finden. Spätestens als neue Formen internationaler Mobilität und kultureller Hybridisierung im urbanen Alltag erfahrbar wurden, zerbröselte das überkommene Modell der multikulturellen Stadt, das Kulturen als nebeneinander her existierende ethno-nationale Blöcke verstand. Auch urbane Verfallserzählungen, deren Ghetto-Diskurse den alltäglich erlebbaren kulturellen Dynamiken gerade in Kreuzberg diametral widersprachen, konnten keine ausreichende Überzeugungskraft mehr entfalten. Während in den 1970er Jahren „Ausländer_innen“ noch als suspekte Fremdkörper galten und bis in die 1990er Jahre hinein als ethnisch-kulturell „Andere“ auf Abstand gehalten wurden, erstarkte nun erstmals ein Diskurs, der kein „natio-ethno-kulturelles Eigenes“ (Paul Mecheril, ehr von einem „Anderen“ abspaltet, sondern nationale, kulturelle und ethnische Diversität positiv deutet.
Gerade aus einem ökonomischen Blickwinkel wurde nun auf die Dynamik kultureller Hybridisierungsprozesse gesetzt: „Der positive Umgang mit Vielfalt“, so heißt es im ersten Integrationskonzept Berlins, das der rot-rote Senat 2005 verabschiedete, „fördert die interkulturelle Kompetenz, die Lebendigkeit und Handlungsfähigkeit der Stadt und führt zu Vorteilen im internationalen Wettbewerb um Attraktivität“ (Abgeordnetenhaus 2005: 71). Erstmals ersetzt dieses offizielle Dokument den essentialistischen deutschen Kulturbegriff durch ein Konzept, das Kulturen als dynamische, sich vermischende und gegenseitig beeinflussende Sets alltäglicher Praktiken und Diskurse versteht. Eine weitere Verschiebung gegenüber dem traditionellen Multikulturalismus zeigt sich darin, dass nun primär ökonomische Potentiale von Einwander_innen für die global konkurrierende Metropole betont werden.
Dieser neuartige, diversitäre Multikulturalismus schlägt sich auch in veränderten Raumbildern nieder. In seinem Fokus stehen nicht mehr Räume, die in einem defizitären Sinne von der vermeintlichen Normalität abweichen („Ghettos“), sondern als kosmopolitisch imaginierte Stadtteile, deren hochgradig fluide Internationalität weder im Sinne einer Arbeitsmigration noch einer dauerhaften Einwanderung an das klassische deutsche Bild von „Migration“ gekoppelt ist. Die Stadt gilt hier nur als „zukunftsfähig“, wenn sie sich als kosmopolitisch genug erweist, um für globale mobile Milieus attraktiv und offen zu sein. Gerade das jüngst noch als „Ghetto“ geschmähte Kreuzberg gilt hier als modellhaftes Labor einer erfolgreichen Einwanderungsstadt. So bezeichnete die Sozialsenatorin mit Verweis auf das Jahresgutachten des nationalen „Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration“ von 2004 die Kreuzberger Vielfalt als wertschöpfenden Standortfaktor, der den Zuzug von Kreativen und Medienunternehmen bewirke.
Ökonomisierung der Integrationspolitik
In diesem Kontext hat sich der regierungsamtliche Integrationsbegriff, der bis dahin von einer einseitigen Aufforderung an „Migrant_innen“ geprägt war, sich in die Mehrheitsgesellschaft einzufügen, deutlich verschoben. Als Grundlage für das erste Integrationskonzept des Senats konstruieren die „12 Essentials der Berliner Integrationspolitik“ Integration nicht mehr als eine Form von „Restriktion“ (Axel Schulte), sondern enthalten eine Aufforderung an die Aufnahmegesellschaft, „Institutionen und Verfahren interkulturell zu öffnen“ (Abgeordnetenhaus 2005: 9). Integrationspolitik ist hier als dauerhafter, alle Bevölkerungsgruppen einbeziehender Prozess konzipiert und soll die soziale, ökonomische, rechtliche und kulturelle Dimension von Integration umfassen.
Das politische Ziel der Diversität, das an eine Gleichstellung unterschiedlichster sozialer Milieus und Lebensweisen in der Stadt gekoppelt ist, hat jedoch noch eine andere Seite, die an das von der rot-grünen Bundesregierung durchgesetzte Modell des aktivierenden Sozialstaats andockt: Der traditionell sozialpolitische Charakter kommunaler Integrationspolitik – den das Multikulturkonzept der 1980er Jahre durch soziokulturelle Identitätsangebote ergänzte – wich mit dem „neoliberal turn“ einer „Ökonomisierung des Sozialen“ (Lemke 1997). Gerade an Einwander_innen, deren Arbeitslosenquote in Berlin im letzten Jahrzehnt um die 40 Prozent herum pendelte, geht ein fordernder Appell, ihr ökonomisches Potential auszuschöpfen. Integration bedeutet hier ihr gelingendes „Anrufen“ als ohne Sozialleistungen auskommende Subjekte, die eigeninitiativ an der städtischen Gesellschaft partizipieren. In das Zentrum von Integrationspolitik rücken Bildung und „Aktivierung“ der Individuen, während soziale Bedingungen wie ein institutioneller Rassismus, der auch qualifizierte Einwanderer_innen am Arbeitsmarkt benachteiligt, tendenziell ausgeblendet werden.
Dem heute vorherrschenden Image von Berlin als kosmopolitischer Metropole liegt so eine Vorstellung von Diversität zugrunde, die kulturelle, soziale und ethnische Vielfalt der Stadtbewohner_innen als gesellschaftlich bereichernd und ökonomisch nützlich versteht. Sie nimmt aber soziale Ungleichheiten in Kauf und adressiert die Individuen als unternehmerische, für ihre materielle Existenz selbst verantwortliche Subjekte. Dieses für Deutschland neuartige Bild einer diversitären Metropole bedeutet nun keineswegs, dass die früher vorherrschenden Modelle einer national homogenen Großstadt oder einer multikulturellen Stadt völlig verschwunden wären.
Auch in Berlin erstarkten in Folge der New Yorker Anschläge vom 11. September 2001 politische Positionen, die basierend auf dem historischen Archiv des deutschen Einwanderungsdiskurses einen Clash of Cultures herbeireden und insbesondere Muslime zu „Anderen“ rassifizieren. Wieder erstarkte dabei ein mit stigmatisierenden Interventionsvorschlägen einhergehender, rassistischer Ghetto-Diskurs), der sich diesmal auf Neukölln richtete: Dieses symbolisierte nicht nur die Probleme der Einwanderungsstadt, sondern den gesellschaftlichen Unort par excellence, an dem sich alle vermeintlichen Bedrohungen – Desintegration, Armut, Ausgrenzung, verrohende Jugend, Religionskonflikt, Gewalt – räumlich zu einem gewaltigen Sprengstoff verdichten. Gleichwohl entfalten derartige Vorstellungen keine ausreichende Überzeugungskraft mehr, um das Konzept der kosmopolitischen Metropole zu überlagern. Davon zeugt nicht zuletzt der Imagewandel, den Neukölln in den letzten Jahren erlebte: Infolge des Zuzugs aller möglichen internationalen studentischen und künstlerischen Milieus und der Entstehung einer ihren Bedürfnissen dienenden Infrastruktur, wird Neukölln ähnlich wie Kreuzberg immer öfter nicht mehr als abgehängtes „Ghetto“, sondern als urbanes Labor gedeutet, dessen zentrale Zukunftsressource die kulturelle und ethnische Diversität seiner Bevölkerung darstellt.
Literatur
- Abgeordnetenhaus von Berlin 2005: Ein Integrationskonzept für Berlin. Drucksache 15/4208. Berlin
- Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie 1982: Miteinander Leben. Ausländerpolitik in Berlin. Berlin
- Homuth, Karl 1987: Identität und soziale Ordnung. Zum Verhältnis städtischer Kultur und gesellschaftlicher Hegemonie. In: Prokla 68, 17. Jg., H. 3, S. 90-112
- John, Barbara 2005: Noch eine Berliner Pflanze. Der Karneval der Kulturen. In: Michi Knecht/ Levent Soysal (Hg.): Plausible Vielfalt. Wie der Karneval der Kultu-ren denkt, lernt und Kultur schafft, S. 7-12
- Lemke, Thomas 1997: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Berlin/Hamburg
- Morgenstern, Christine 2002: Rassismus – Konturen einer Ideologie. Einwanderung im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Berlin
- Presse- und Informationsamt des Landes Berlin (Hg.) 1985: Stadt der Chancen. Die Regierungserklärung vom 25. April 1985 des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Eberhard Diepgen. Berlin
- Schwarz, Thomas 2001: Integrationspolitik als Beauftragtenpolitik: Die Ausländerbeauftragte des Berliner Senats: In: Frank Gesemann (Hg.): Migration und Integra-tion in Berlin. Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven. Opladen, S. 127-144
- SPD Berlin 1991: Wortprotokoll des Landesparteitags vom 23.11.1991. Berlin
Stephan Lanz, Dr. phil., lehrt und forscht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zu Stadtentwicklung, Stadtpolitik und urbanen Kulturen in Metropolen wie Berlin, Rio de Janeiro und Istanbul. Gegenwärtig ist er wissenschaftlicher Leiter des internationalen Forschungsprojekts „Global Prayers: Erlösung und Befreiung in der Stadt“. Lanz ist Gründungsmitglied von metroZones – Center for Urban Affairs und zusammen mit Jochen Becker Herausgeber der Buchreihe metroZones (b_books). Er publizierte u.a. die Bücher Transnationalism and Urbanism (mit S. Krätke und K. Wildner, 2012), „Berlin aufgemischt“ (2007), „Self Service City: Istanbul“ (mit O. Esen, 2005) und „City of COOP“ (2004).
Dr. Stephan Lanz, lehrt und forscht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zu Stadtentwicklung, Stadtpolitik und urbanen Kul-turen. Gegenwärtig ist er Leiter des Forschungsprojekts „Global Prayers: Erlösung und Befreiung in der Stadt“.