Die Kunst der Migration

Bild: Marie-Hélène Gutberlet, Emmanuel Bakary Daou und Amadou Sow im Gespräch vor dem Shoe Shop Space, Ausst. Shoe Shop, Johannesburg Mai 2012, Foto Guy Woueté.

von Marie-Hélène Gutberlet

Zukunftsmaschine Migration

Es gibt die Tendenz - nicht nur reaktionärer Stimmen, sondern auch in den Humanwissenschaften -, Migration als eine die Ordnung verstörende Erscheinung zu betrachten, als ein „Problem“, das gelöst werden muss. Nun ist umgekehrt unumstritten, dass Migration und Mobilität die Motoren des Zeitalters der globalisierten Ökonomien aller Lebensbereiche sind und dass sie das Verständnis von Gesellschaft als nationaler, monokultureller Entität alt aussehen lassen. Migration und Mobilität setzen Innovationen frei, relativieren, neutralisieren und verschieben neuralgische Stellen, schaffen Vielfalt und haben nicht zuletzt dazu beigetragen, den deutsch-nationalen Alp zu verdünnen.
Im Projekt Migration & Media haben Sissy Helff und ich eine Plattform erschaffen wollen, welche die mit Migration verbundenen Kräfte anerkennt, wissenschaftlich umsetzt und kuratorisch sichtbar macht. Dabei ist seit der Gründung des Projekts 2006 über die Jahre ein translokaler Raum entstanden, in dem Veränderungen, Innovationen, neue Perspektiven, Erfindungen und Haltungen aus der Migrationserfahrung in Form von Filmen, Texten, Bildern und anderen Gestaltungs- und Denkformen etc. wahrnehembar werden. Auf diese Weise werden mit den Akteur_innen die durch diese Arbeit veränderte Denk- und Handlungspraxis ausgekundschaftet. Die ersten Workshops fanden 2007 und 2008 zu Kino, Kunst und Literatur in Frankfurt am Main statt und brachten Künstler_innen und Wissenschaftler_innen und ihre Forschungs- und Rechercheansätze zusammen.

Fotografie der Migration

Die Erfahrungen dieser ersten Plattformen haben uns die geopolitischen Begrenzungen des wissenschaftlichen Austragungsortes im Diskurs und die westlich-eurozentrische Prägung desselben bewusst gemacht. Um weitergehende kritische und ästhetische Fragen zu stellen und Praxen jenseits der diskursiven Kritik zu finden und zu begreifen, mussten auch wir uns aus diesem Setting bewegen, unseren geostrategischen Ort wechseln und uns auf ein Terrain außerhalb des Schengengebiets begeben. Die nächste Station, das Symposium und die Ausstellung „Rester et Partir/ Bleiben und Gehen/Staying and Leaving/Toso any ka taka - Fotografie und die Repräsentation afrikanischer Migration“ Symposium und Ausstellung: Point Sud und Musée de Bamako (8.2.-10.3.2011), fanden in Malis Hauptstadt Bamako statt, das in seiner zentralen Position auf dem westafrikanischen Subkontinent Kreuzungspunkt einer Vielzahl von Migrationsrouten innerhalb Afrikas und aus Afrika heraus ist. Dazu ist Bamako eines der Zentren afrikanischer Fotografie im 20. und 21. Jahrhunderts (vgl. die Fotografie-Biennale Rencontres Africaines de la Photographie seit 1994). Auch bestand der Kontakt der Universität Frankfurt am Main zum Forschungszentrum Point Sud. Es hätte keinen besseren Ort geben können, um über Fotografie und Migration nachzudenken und in Zusammenarbeit mit den malischen Fotograf_innen ästhetische und inhaltliche Fragestellungen zu formulieren, die neue Bildthemen hervorbringen. Diese Arbeit erfolgte mit Amadou Sow (Maison Africaine de la Photographie), selbst Fotograf und Kurator, und gemeinsam mit den Fotograf_innen Halima Diop, Sokona Diabaté, Emmanuel Bakary Daou, Bounama Magassa und Mamadi Koité. Hinzu kamen die Video-Installation von Brigitta Kuster und Moise Merlin Mabouna, Rien ne vaut que la vie, mais la vie même ne vaut rien (2006), die bereits zuvor in Frankfurt gezeigt worden war, sowie Arbeiten der Filmemacherin und mit Fotografie arbeitenden österreichischen Künstlerin Lisl Ponger und eine Videoarbeit der Britin Roshini Kempadoo.

Die Verknüpfung von Symposium und Ausstellung mit internationalen Gästen und malischen Fotograf_innen und Wissenschaftler_innen bildete das Kernstück unseres Konzepts und Anliegens, sowohl wissenschaftliche Positionen aus Europa und Mali an einen Tisch zu bringen als auch die wissenschaftliche und künstlerische Arbeit als gleich wichtige Ansätze der Herstellung des Diskurses und des Bildes von Migration ernst zunehmen. So wurde die Ausstellung Ort der theoretischen Diskussion und das Symposium Ort der Begegnung mit Bild-Praktiker_innen, ihren Erfahrungen, Strategien und ihrer Sicht auf das komplexe Feld der Repräsentation. Ziel war es gleichsam auch, die Auseinandersetzungen mit Migration ästhetisch zu führen und nach künstlerisch-formalen Gesichtspunkten Ausschau zu halten, die das Bild aus Sicht der malischen Fotograf_innen konstituieren. Leitmotiv war hier, dass ein verändertes Bild den inhaltlichen Zugang und auch den Diskurs verändert.

Ins Museum oder raus aus dem Museum

Die Ausstellung im Musée de Bamako auszurichten, dem Stadtmuseum, sollte die Verschiebung der Auseinandersetzung mit Migration und mit Fotografie von einem ausschließlich sozial marginalisierten und sozialpolitischen zu einem künstlerischen und institutionell gestützten Interesse markieren. Auch sollte durch die Ausstellung mit der These experimentiert werden, dass der Begriff “Migration” keinen sozialen Zustand bezeichnet, sondern das so Bezeichnete erst durch einen Aktionsmodus sichtbar wird, der eine bestimmte Art des sich Bewegens in der Welt generiert, eine bestimmte Art des Zugangs und Verarbeitens von Wissensformen, Strategien der Aneignens, Ablegens und Vernetzens, eine bestimmte Art des Gestaltens neuer Determinanten impliziert. Migration ist insofern selbst eine Wissenschaft, als dass sie ein Modus der Beobachtung, Strukturierung und Anwendung von Vorgehensweisen ist, und eine Kunst, insofern sie ein Modus der Erforschung und Gestaltgebung neuer Sichtweisen auf die Welt ist.

In Bamako wurde die fotografische Auseinandersetzung mit Migration aus der Warte der Zurückbleibenden in der migrantischen Erfahrung, so wie sie in Mali vielfach besteht, formuliert und ins Museum hineingetragen und dort ästhetisch verortet.

Im Kontext des Ausstellungsprojekts in Johannesburg, Shoe Shop, der im Mai 2012 durchgeführten Station des Projekts, wurde umgekehrt verfahren und die Ausstellung in den öffentlichen Raum hinausgetragen, um sowohl eine Auseinandersetzung mit Ein- und Ausschlussmechanismen der Kunstwelt zu provozieren als auch den urbanen Bewegungsradius zum Ausstellungsmedium zu machen.

Beide Bewegungsrichtungen, die erstmalige Präsentation afrikanischer Fotografie zum Thema im Ausstellungskontext und die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum und öffentlichen Diskurs haben mit den ständigen Entgrenzungsprozessen und Verschiebungen – auch dieses Effekte der zunehmenden Mobilität – zu tun, die weltweit Wissenschaft- und Kunstszenen auseinandertreibt und aber auch punktuell zusammenführt. Die unterschiedlichen Wissens-, Wissenschafts- und Kunstökonomien mögen auf internationalen Biennalen, Messen und Konferenzen aufeinandertreffen, sie regeln indes in ihrem jeweiligen lokalen Orbit die Vorgänge und Bedeutungen von Kunst und Wissenschaft. Wie Heterotopien sind diese nicht ineinander überführbar, kompatibel, universalisierbar. Sie sind vielmehr gleichzeitig und ungleich und den technischen und ästhetischen Kriterien der Marktgesetze nach ungleich viel wert. Das Projekt Migration & Media hat mit seiner translokalen Praxis etwas von den „Übersetzungsschwierigkeiten“ der wissenschaftlichen und künstlerischen Praxen an verschiedenen Orten aussprechen und vermitteln wollen. Lokale Erfahrungen und Praxen sind kaum vollständig in die Erfahrungs- und Praxiswelt eines anderen Ortes überführbar und verständlich. Auch Begriffe und Sprache erliegen Entgrenzungs- und Verschiebungsprozessen und ihre Bedeutung ist kontextabhängig. So sind auch Kunst und Wissenschaft. Eine ständige Infragestellung und Anpassung der semantischen Möglichkeiten ist wohl unumgänglich und macht Kommunikation zum Kerngeschäft eines solchen Projekts.

Die Kunst der Migration

Das Buch "Die Kunst der Migration. Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs" Material – Gestaltung - Kritik (2011) entstand als Bestandsaufnahme der Ansätze, so wie sie sich aus dem Begriff der Migration als Sichtbarwerdung eines spezifischen mobilen Aktionsmodus entwickeln lassen. Das Buch entstand parallel zur Bamako-Plattform, zu einem Zeitpunkt also, als wir darum kämpften, nicht bloß Kritik an der eurozentrischen Perspektive und Medialisierung von Migration im Wissenschafts- und Bilddiskurs üben zu müssen. Wir wollten weiter und mehr. Wir wollten politische und ästhetische Fragestellungen kreuzen, Filme sehen, die von den Entgrenzungen und Verschiebungen der Perspektiven handelten und daraus neue Werkzeuge der Beschreibung und Analyse machen. Wir wollten über visuelle und architektonische Hybride nachdenken und pluriperspektivisch arbeiten, experimentieren, neue Ansätze finden, Erfahrungen sprechen lassen, semiotische Revision betreiben. Wir wollten an der deutschen Sprache feilen und versuchen, sie geschmeidiger zu machen, weniger kalt, definierend und fixierend und etwas mehr den Dynamiken des Gegenstands entsprechend. Wir wollten der Migrationserfahrung einen Ort in der deutschen Sprache und Zeichenlogik geben. Wir wollten Kontaktzonen und Kommunikationsöffnungen einbauen und uns anstecken lassen von den Narrativen des Mobilen, den Visionen und den neuen Räumen des Denkens und Gestaltens und dem Drei-Schritte-voraus-Sein.

Entstanden ist dabei eine Sammlung verschiedener Textformen, wissenschaftlicher Beiträge, Analysen, Arbeitsskizzen, autobiografischer und künstlerischer Statements, die den Migrationsdiskurs von seiner Dynamik und Innovation her formulieren und betrachten. Wichtiger Impuls bei der Arbeit an diesem Band war das Zusammenführen dieser vielen verschiedenen Textformen, aber auch das Bedürfnis, die zur Verfügung stehenden akademisch disziplinären Formate und Begriffe aufzuweichen und auszuweiten und auch Bilder in eine wissenschaftliche Publikation aufzunehmen. Es ging auch darum, „theoretische Reflexion auch mit Bildern zu betreiben“ (Nanna Heidenreich in ihrer Besprechung, 2011, 168) und zu ermöglichen.

Literatur

  • Marie-Hélène Gutberlet und Sissy Helff (Hg.): Die Kunst der Migration. Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs. Material – Gestaltung - Kritik, Bielefeld: transcript 2011.
    Mit Beiträgen von Rasheed Aareen, Annett Busch, Julien Enoka-Ayemba, Petra Kassler, Bärbel Küster, Brigitta Kuster, Jacob Emmanuel Mabé, Moïse Merlin Mabouna, Idrissou Mora-Kpai, Dirk Naguschewski, Uche Nduka, Kerstin Pinther, Eva Ulrike Pirker, Florian Schneider, Thorsten Schüller, Doreen Strauhs, Ulf Vierke, Jan Wilm, Soenke Zehle und den Herausgeberinnen.
  • Nanna Heidenreich: „Bilder, die die Körper bewegen. Neue Perspektiven auf Migration“, in: zfm, Zeitschrift für Medienwissenschaft 2/2011, 168-172.

 

Marie-Hélène Gutberlet (Dr. Phil.) studierte Kunstgeschichte und Philosophie, sie ist freie Kuratorin und Autorin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen zwischen Kunst, Kino, Wissenschaft und Kritik, Europa und Afrika. http://mhgutberlet.tumblr.com/

 

 


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Marie-Hélène Gutberlet (Dr. Phil.) studierte Kunstgeschichte und Philosophie, sie ist freie Kuratorin und Autorin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen zwischen Kunst, Kino, Wissenschaft und Kritik, Europa und Afrika. www.mhgutberlet.tumblr.com

 

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