Kolonialität, Dekolonialität und Decolonial Aesthetics

Serge Alain Nigeketa Black Subjects I: “…And Walk In My Shoes.” 2011 Paint and oil on wood Two panels, 182 x 223cm total Image courtesy STEVENSON Johannesburg and Cape Town

von Alex Schlenker


Kolonialität, Dekolonialität

Debatten um die Folgen des Kolonialismus in Lateinamerika bekamen Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Dynamik: Der peruanische Sozialwissenschaftler Aníbal Quijano führte die verschiedenen identitätsbezogenen Diskussionsstränge, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert in Lateinamerika entwickelt worden waren, Anfang der 1990er Jahre entscheidend weiter. 500 Jahre nachdem Kolumbus auf amerikanischem Boden gelandet war, schlug Quijano (1992) das innovative Konzept der “Kolonialität der Macht” (colonialidad del poder) vor.

Ausschlaggebend für Quijanos Überlegungen war die Tatsache, dass die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsprozesse keine Veränderung der sozialen Zustände hatten auslösen können. Ganz im Gegenteil. Die rassistischen Machtstrukturen der spanischen Kolonialzeit waren vollständig übernommen und sogar juristisch legitimiert worden. Die lokalen weißen Führungsschichten konnten die auf ethnischer Differenz basierende Klassenaufteilung nun mit Hilfe der frisch erstellten Staatsverfassungen gewährleisten.

Quijano identifizierte in diesem Zusammenhang eine Kontinuität zwischen inter- und intrastaatlichem Kolonialismus, den er Kolonialität nannte. In Texten wie „Kolonialität der Macht und soziale Einteilung“ (Quijano, 2000: 344) beschreibt der Autor, wie die Kolonialität das Muster bestimmt, das die moderne/koloniale kapitalistische globale Herrschaftsform strukturiert. Quijano und andere Autor_innen wie zum Beispiel Enrique Dussel (UNAM-Mexiko) waren die Ersten in Lateinamerika, die Kapitalismus als globales Projekt begriffen.

Quijano erörterte verschiedene Aspekte der europäisch-lateinamerikanischen intersubjektiven Beziehungen zum Thema Wissen. Er wies darauf hin, dass das zivilisatorische Projekt der europäischen (und europäisierenden) Moderne zu einer „heterogenen Strukturabhängigkeit und des damit verbundenen eurozentrischen Denkens“ führte (Quijano, 1999). Um der universellen Rhetorik etwas entgegen zu setzen, sei also wieder auf lokale, ortsspezifische Erfahrungen zu achten, die einem anderen beziehungsweise einem nicht-westlichen Erleben von Zeit und Raum entspringen. Laut Quijano werden diese Lebenserfahrungen vom westlichen Denken als „diskontinuierlich, inkonsequent und sogar widersprüchlich“ (Quijano, 2000: 345) empfunden.

Verschiedene lateinamerikanische Denker_innen nahmen Quijanos Beiträge in den folgenden Jahren auf und entwickelten den Ansatz weiter. Mitte der 1990er Jahre trafen dann Aníbal Quijano, Walter Mignolo, Arturo Escobar, Ramón Grosfoguel, Catherine Walsh, Edgardo Lander u.a. zum ersten Mal zusammen, um die Forschungsgruppe „Moderne-Kolonialität/Dekolonialität“ zu gründen. In den darauffolgenden Jahren produzierten sie mehrere gemeinsame Publikationen, organisierten internationale Treffen und beeinflussten diverse Studiengänge an lateinamerikanischen Universitäten. 2009 startete der in den USA lebende Walter Mignolo und der kolumbianische Kunsttheoretiker Pedro Pablo Gómez das dekoloniale Kunstprojekt Decolonial Aesthetics.

Decolonial Aesthetics

Decolonial Aesthetics bezeichnet ein Denk- und Aktionsprojekt künstlerischer Natur, das sich die Frage des de-linking („Ausklinken“) stellt. Walter Mignolo definiert dies als die Herausforderung, kolonial/moderne Denkmuster kritisch zu hinterfragen und zu demontieren: „Ausklinken bedeutet die Suche nach der allgemeingültigen/universellen Wahrheit (Aletheia) aufzugeben, um andere mögliche Wege wahrzunehmen; einer dieser Wege führt zum kolonialen Gedächtnis, Ausgangspunkt um dekoloniales Denken zu verflechten“ (Mignolo, 2005: 4-5).

Zwischen 2008 und 2009 trafen sich im Rahmen der Doktorand_innenseminare der Anden Universität in Quito mehrere Promotionsstudent_innen mit kunstschaffendem Hintergrund, um die dekolonialen Diskussionen mit künstlerischen/ästhetischen Debatten und Praxen zu verbinden. Ende 2009 fand das erste große Treffen zum Thema Decolonial Aesthetics statt. Künstler_innen und Theoretiker_innen aus verschiedenen Gebieten Lateinamerikas tauschten Erfahrungen zum Thema aus. Im Mittelpunkt der Vorträge stand die Herausforderung, die lokale, spezifische Lebenserfahrung der modernen Universalität entgegenzustellen. Decolonial Aesthetics wurden somit nicht als Aussage, sondern als Frage verstanden: Wie kann der symbolische/metaphorische Umgang mit der 500 Jahre alten kolonialen Rhetorik angegangen werden?
Decolonial Aesthetics zeigten sich dabei nicht als einheitliches Projekt, sondern als eine gleichzeitige Suche verschiedener sozialer Akteur_innen nach Überlebensstrategien. Diese sollten nicht nur auf biologisch/physischem Terrain stattfinden, sondern auch im Bereich des Wissens, der Verbindung zur Natur, des Umgangs mit dem Anderen.

Decolonial Aesthetics forderten somit bestimmte moderne Behauptungen heraus: Die Vernunft ist nicht die einzige Form, die Welt zu verstehen und zu beschreiben; es gibt keine Trennung zwischen Mensch und Natur – Geist und Materie; Fortschritt darf nicht erzwungen und niemandem aufgezwungen werden; Sinn des Lebens ist nicht Profitstreben; das Geistige muss nicht vom Politischen/Sozialen getrennt erlebt werden; die (westliche) Demokratie ist nicht die einzige, auch nicht die am wenigsten schlechte und schon gar nicht die beste politische Organisationsform.

Frontera hablada, die „Wortgrenze“

Nachdem die USA jahrzehntelang das bevorzugte Ziel von Millionen lateinamerikanischer Migrant_innen gewesen war, wurde Ende der 1980er Jahre Spanien zum Hauptziel der lateinamerikanischen Emigration. Im Jahr 2007 befanden sich knapp 1,8 Millionen Menschen mit lateinamerikanischem Migrationshintergrund in Spanien (Tedesco, 2008: 3). Die Begegnung zweier verschiedener und doch gleichsprachiger Kulturen ergab eine besondere Art der Koexistenz. Spanischen Unternehmen standen plötzlich massenhaft billige und willige Arbeitskräfte aus dem spanisch sprechenden Teil Lateinamerikas zur Verfügung. Religiöse Differenzen wie zum Beispiel mit nordafrikanischen, nichtchristlichen Migrant_innen schienen als Quelle von Konflikten im alltäglichen Zusammenleben ebenfalls auszuscheiden.
Und doch war für Spanier_innen und Latinoamericanos der Umgang mit Sprache und Religion nicht der gleiche. Ziemlich rasch behaupteten viele Spanier_innen, dass das lateinamerikanische Spanisch mit seinen eigenen Rede- und Dialektformen eine Unterform des in Spanien gängigen „Hochspanisch“ sei. Die sogenannte Kolonialität des Sein - eine spezifische, auf das Sein bezogene Form der Kolonialität der Macht (Colonialidad del ser), von der Nelson Maldonado-Torres (2007) spricht, - führte zu einer ontologischen Verneinung: Bestimmte Gruppen dürfen sein und andere nicht. Nicht-Anerkennung und Entmenschlichung treten als Grundformen der Kolonialität des Sein hervor. Dieser Form von Annullierung müsse entgegengehalten werden: „Dekolonialität erscheint, um dem Tod [sei dieser physisch oder symbolisch] zu entgehen” (Maldonado-Torres, 2007: 147).

Das Kollektiv Plataforma-SUR aus Quito, Ecuador, ging dieser Form von Kolonialität in seinem Kunstklangprojekt „Frontera hablada“ nach. Im Rahmen des Projektes wurden zwischen 2008 und 2012 lateinamerikanische Migrant_innen, die zu diesem Zeitpunkt in der spanischen Hauptstadt Madrid lebten, eingeladen, ihre persönlichen Erlebnisse zu schildern. Im Mittelpunkt dieser Gespräche stand aus dekolonialer Perspektive immer die gleiche Frage: Welche Rolle spielt in der lateinamerikanischen Migrationserfahrung die gemeinsame spanische Sprache? „Frontera hablada“ brachte ein Geflecht von Erfahrungen der sozialen Klassifizierung an die Oberfläche. Die gemeinsame Sprache bildete gleichzeitig ein Spannungsfeld, in dem die einen den zivilisatorischen Fortschritt forderten und die anderen Strategien des Überlebens einübten. So meinte ein Migrant aus Bolivien: „Entweder lernst du hier wieder Spanisch oder dir wird es schlecht gehen“ (Plataforma-SUR: 2009). An einem Punkt waren die beiden Enden des gemeinsamen Sprachfadens eng verknotet: distanziertes Miteinander-Leben in sprachlicher Nähe.
 

Literatur

  • Nelson Maldonado-Torres, (2007): Sobre la colonialidad del ser: contribuciones al desarrollo de un concepto, in “El giro Decolonial. Reflexiones para una diversidad epistémica más allá del capitalismo global”, Santiago Castro Gómez y Ramón Grosfoguel Editores. Siglo del Hombre editores, Bogotá.
  • Mignolo, Walter, (2005): El pensamiento des-colonial, desprendimiento y apertura: un manifiesto,  documento digital disponible en http://tristestopicos.blogspot.de/
  • Plataforma-SUR, (2009): La frontera hablada, Proyecto sonoro sobre la(s) frontera(s) en el lenguaje. BECA CEDIC, Quito.
  • Quijano, Aníbal, (2000): Colonialidad del poder y clasificación social, in: Immanuel Wallerstein, Special Issue; Part I, Journal of World-Systems Research, VI, 2, Summer/Fall, Center for Global International & Regional Studies and the Division of Social Sciences at the University of California, Santa Cruz.
    -------------------, (1999): Colonialidad del poder, cultura y conocimiento en América Latina, in Santiago Castro –Gómez, O. Guardiola –Rivera, C. Millán(editores). Pensar (en) los intersticios. Teoría y práctica de la crítica poscolonial. Bogotá: Colecciones Pensar/ Pontificia Universidad Javeriana, 99-109.
    -------------------, (1992): Colonialidad y Modernidad/Racionalidad, in Perú Indígena, Vol. 13, Nr. 29, 11-20.
  • Tedesco, Laura, (2008): Inmigrantes latinoamericanos en España, en Real Instituto Elcano, Anuario 2008 América Latina, Elcano, Madrid.

 


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Alex Schlenker Sportstudium (Köln/Leipzig), Magister und Promotion in Lateinamerikanistik (Quito, Ecuador); Ausbildung zum Drehbuchautor und Kameramann (Berlin/Köln). Seit 2009 in Quito Professor an der Katholischen (PUCE) und der Anden Universität (UASB)

 

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