Die Aufklärung muss weiter gehen - ein Zwischenbericht zum NSU-Prozess

Demonstration zum NSU Prozess München-8

von Lena Kampf

Eine halbe Stunde pro Zeuge hatte das Gericht eingeplant in seiner ersten Ladungsverfügung für das Verfahren gegen Beate Zschäpe u.a., Aktenzeichen 6 St 3/12 (10).

Als würde in München ein Ladendiebstahl verhandelt und nicht ein Angriff auf die deutsche Einwanderungsgesellschaft.

Und an einem der ersten Verhandlungstage stand Ismail Yozgat von seinem Platz auf der engen Bank der Nebenkläger auf. Er ist der Vater des in Kassel ermordeten Halit Yozgat, es war ihm offenbar ein Bedürfnis, etwas zu der Entschuldigung zu sagen, die der Angeklagte Holger G. an die Opfer und Hinterbliebenen gerichtet hatte. Doch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl blaffte ihn an: „Herr Yozgat, Sie sind jetzt nicht an der Reihe.“

Sorge darüber, ob der deutsche Rechtsstaat im Münchner Oberlandesgericht sein Versagen beim NSU-Komplex wieder gut machen würde, waren also - nicht nur nach dem verpatzten Prozessstart - angebracht.

Seit drei Monaten wird nun in Saal A101 verhandelt und der Verfahren ist längst im Klein-Klein eines Indizienprozesses angekommen. Da werden fast 800 Fotos aus der Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße an die gelben Wände des fensterlosen Raums projiziert, ein Brandermittler spricht von „schlagartigem Flächenbrand“, von einer „Flammenwand“, und „thermischer Beaufschlagung“ – das Ziel: Beate Zschäpe die Brandstiftung im Terrorversteck nachzuweisen. Wenn sie dabei gezielt Beweise vernichtet hat, spricht das für ihre tragende Rolle im NSU-Gefüge, die die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklage herausgearbeitet hat.

Weil die Hauptangeklagte weiterhin schweigt werden da auch BKA-Beamte gehört, die über ihre Festnahme und die Fahrten nach Jena berichten, wo sie sich auf einen Schwatz mit ihrer Begleitung einließ. Dass sie ein „Omakind“ sei, und eine, die „zu ihren Taten stehe“, soll sie gesagt haben. Aber unter welchen Umständen sind diese Gespräche zustande gekommen? Die Verteidiger Zschäpes prüfen das genau, denn Zschäpes Recht zu schweigen darf nicht durch „Verbotene Vernehmungsmethoden“ ausgehöhlt werden. Und wie sind die Vernehmungen vom Mitangeklagten Holger G. protokolliert worden, der Zschäpe schwer belastet? Wurde auch Entlastendes aufgeschrieben? Wurde das Ermittlungsinteresse der Bundesanwaltschaft nicht allzu deutlich? In ihrer Befragung der Beamten schafft es die Verteidigerin Anja Sturm, den Erfolgsdruck der Behörden nach Auffliegen des NSU zu entlarven. Dass sich Rechtsstaatlichkeit auch in Extremsituationen bewähren muss, darauf pochen die Verteidiger_innen.

Auch der Richter Manfred Götzl lässt daran nun keinen Zweifel mehr: Die Beweisaufnahme wird mit Präzision geführt, die angesichts der monströsen Tatvorwürfe und der gesellschaftlichen Wunden, die die Mordserie hinterlassen hat, jedes kleinste Indiz auf seine Beweiskraft intensiv prüft – das Urteil darf nicht unter Vorbehalt stehen.

Die Nüchternheit ist manchmal schwer erträglich schon für die Beobachter_innen des Prozesses. Undenkbar, wie die schlicht als „Beweismittel“ betitelten Tatortbilder auf die Angehörigen wirken, die auch im Gerichtsaal sitzen. Die zerschossenen Körper der Toten, die Polizeizeug_innen, die von „professionellen Hinrichtungen“ sprechen, die Feststellung, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt immer gezielter, kälter und geübter vorgingen von Mord zu Mord. Das unbeschreibliche Bekennervideo, das der Richter Götzl plötzlich in einer Prozesspause abspielen ließ: Tatort für Tatort wird das Grauen des NSU in die Hauptverhandlung eingeführt: Die Zeug_innen der einzelnen Tatorte werden gehört, Nachbarinnen und Nachbarn, Passant_innen, die die NSU-Mörder teilweise direkt davor, während oder direkt nach den Taten gesehen haben. Sie sahen, an fast allen Tatorten: Zwei schlaksige junge Männer in schwarzer Radfahrerkleidung, meist mit Käppi, manchmal mit Rucksack, immer mit Rädern. Warum man nach diesen Männern nicht ebenso intensiv gefahndet hat wie nach dem „Mulatten“, den sich eine Zeugin aus München herbeifantasierte? „Haben Sie schon einmal Neonazis auf Fahrrädern gesehen?“ sagte der Leiter der Mordkommission vor dem Bayrischen NSU-Untersuchungsausschuss. Im Gerichtssaal sagte er: „Wir hatten keine Hinweise darauf, dass das die Täter sein könnten.“ Eine Zeugin aus Nürnberg erkannte die Männer 2006 sogar auf einem Überwachungsvideo vom Kölner Nagelbombenanschlag aus der Keupstraße 2004, das schildert sie im Gerichtsaal. Der Hinweis wurde jedoch zu den Akten gelegt.

An diesen Stellen wird die rassistische Grundtendenz der damaligen Ermittlungen deutlich, auch im Gerichtssaal. Mit der Befragung eines leitenden Beamten der BAO Bosporus, der über Jahre den Mörder_innen in der Opferfamilie Simsek suchte, zum Beispiel. Warum er das tat? „80 Prozent der Mordtaten sind Beziehungstaten“, sagte er. Ein Nebenklageanwalt machte diese scheinbar wissenschaftlich unterfütterte Rechtfertigung mit einer Frage zunichte: „Haben Sie auch Erkenntnisse darüber, wie viele Beziehungstaten in Serie geschehen?“

Die Bundesanwaltschaft jedoch ist sichtlich bemüht, das Behördenversagen, mögliche weitere Kenntnisse des Verfassungsschutzes und das Unterstützernetzwerk aus dem Prozess herauszuhalten. Der Staat stehe in Saal A101 nicht vor Gericht, dass es allein um die „Schuld- und Rechtsfolgenfrage“ ginge, werden die vier Ankläger in rot nicht müde zu betonen.

Bei Angeklagten in Haft gibt es das Beschleunigungsgebot und für die Aufklärung vier Untersuchungsausschüsse, die zum Teil bereits beachtliche Ergebnisse vorgelegt haben. Doch letztlich wird der wohl größte Geheimdienstskandal der Bundesrepublik in München verhandelt. Der ist größer als fünf Angeklagte und acht weitere Beschuldigte.

Zumal die Verteidigung zumindest von Zschäpe und Wohlleben durchaus ein Interesse daran hat, zu erfahren, ob Taten von Behörden hätten verhindert werden können, oder gar unter den Augen von Diensten geschahen. Diese Fragen wirken sich strafmildernd auswirken. Doch bisher hat die Zschäpe-Verteidigung geschredderte Akten und V-Leute im Umfeld des NSU bloß in einem Einstellungsantrag zu Beginn des Verfahrens problematisiert.

Was von der Verteidigung Wohllebens noch zu erwarten ist, wird sich zeigen. Die beiden Szene-Anwälte, die zumindest im Fall von Nicole Schneiders selbst eine Karriere in Neonazi-Kameradschaften und Beobachtung durch den Verfassungsschutz vorweisen können, sind bisher durch Verschwörungstheorien aufgefallen. Sie gehen wohl davon aus, dass der NSU ein „Inside-Job“ war. Allerdings haben sie sich auch als hartnäckige Vernehmer_innen gezeigt, die die Schwachstellen der Anklage gnadenlos ausnutzen werden. Ein Umgang mit den Szene-Anwälten muss sowohl durch die anderen Verteidiger-Teams, die keinerlei Nähe zum Rechtsextremismus haben, als auch durch die Nebenklage gefunden werden.

Denn bisher ist es an den Vertretern der Opferseite, das Gericht zu zwingen, Strukturen und Zusammenhänge umfassend aufzuklären. Sie tun das mit Verve: Einige führen die menschenverachtenden und brutalen Neonazi-Liedtexte ins Verfahren ein, die die Angeklagten in den 1990er Jahren in Jena grölten. Andere fragen immer wieder nach Kenntnissen des Verfassungsschutzes, und arbeiten in der Befragung von Carsten S. heraus, dass der NSU viel mehr Unterstützer_innen gehabt hat, als die, die hier mit Beate Zschäpe in München auf der Anklagebank sitzen.

Ohnehin hat seine tagelang andauernde Befragung neue Erkenntnisse gebracht: Als er sich plötzlich daran erinnert, dass die beiden Uwes vor ihm mit einer "Taschenlampe" geprahlt haben - und sich herausstellt, dass dies ein Hinweis auf weitere Anschläge des NSU sein könnte. Wenn er seine Jugend in Jena der Nachwendezeit beschreibt, wirft das ein Schlaglicht darauf, wie Rechtsextremismus die Gesellschaft zersetzt. Als er bedauert, dass er nach seinem Ausstieg aus der rechten Szene nie wieder von Verfassungsschutz oder Polizei zu dem Verbleib des untergetauchten Trios befragt wird - ausgerechnet er, der die Mordwaffe überbracht hat. "Leider", sagt er und fasst damit die großen Versäumnisse der Dienste in einem Wort zusammen.

In den kommenden Wochen werden mehrere Angehörige von Mordopfern in den Zeugenstand treten. An sie werden Fragen gerichtet werden, von denen man nur hoffen kann, dass sie ein Bewusstsein dafür widerspiegeln, was diese Familien bereits haben durchleiden mussten. Einmal ging das schon schief, als die Witwe des in München ermordeten Habil Kilic aussagte, hatte man sie schlecht vorbereitet, es wurde ihr viel zu spät ein Übersetzer zur Seite gestellt.

Dieser Strafprozess kann den Opfergeschichten Raum geben. Das ist hier anders als in den Untersuchungsausschüssen, die sich vornehmlich auf strukturelle und politische Fehler beschränkt haben. Der Bundestagsuntersuchungsausschuss hat in seinem beachtlichen Abschlussbericht das Netzwerk des NSU zum Beispiel präzise beschrieben. Bei der Abschlussdebatte im Bundestag Anfang September jedoch, scheuten sich viele der engagierten Abgeordnete, das Wort „Rassismus“ zu benutzen. Immer noch wurde von einigen von „Pannen“ gesprochen. Dass Recht und Gerechtigkeit, Sicherheit und Schutz in Deutschland stark von der eigenen Herkunft bedingt wird, scheint selbst nach dem NSU-Skandal für große Teile der Mehrheitsgesellschaft immer noch schwierig fassbar, „institutionellen Rassismus“ der Behörden anzuerkennen unmöglich.

Der Richter Manfred Götzl hat bereits Fragen erlaubt, die wichtig sind für die Hinterbliebenen. So durfte Semiya Simsek, die Tochter des ersten NSU-Opfers Enver Simsek, von genau dem Polizisten, der jahrelang Ermittlungen gegen ihre Familie führte, hören: „Die Verdächtigungen werden nicht aufrecht erhalten."

Anfang Oktober ist dann Ismail Yozgat endlich „an der Reihe.“ Ihn quält die Frage, warum ein Verfassungsschützer beim Mord seines Sohnes Halit in seinem Internetcafé anwesend war.
Götzl hat in seiner Ladungsverfügung für die kommenden Monate immerhin schon deutlich mehr Zeit für die Zeugenbefragungen vorgesehen.

 

 

Bild entfernt.

 

Lena Kampf, geb. 1984, arbeitet im Investigativ-Team des stern und berichtet über den NSU-Prozess auf stern.de/nsuprozess