von Martina Priessner
Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal den Film „E 5 - Die Gastarbeiterstraße“ von Tuncel Kurtiz (1) aus dem Jahr 1978 sah, war ich überrascht, wie wenig ich über die Bedeutung und die Geschichte dieser Straße wusste.
Endlich waren die Sommerferien gekommen. Sommerferien bedeuteten für uns, so wie für Millionen andere Gastarbeiter auch, ab in einen Ford Transit, den Kühlschrank aufs Dach geschnallt und los geht es. (Yılmaz 2004)
Mit Beginn der Arbeitsmigration aus Südosteuropa wurde die E 5 für viele Menschen zur wichtigsten Verbindung zwischen dem „Gastland“ und der alten Heimat. Jedes Jahr, wenn die Ferienzeit nahte oder endete, fuhren Hunderttausende in Kolonnen durch die steilen Serpentinen der österreichischen Alpen, jagten durch Slowenien und rollten auf dem „Autoput“ (serbisch für Autobahn) durch Jugoslawien. In Jugoslawien verlief die Strecke von der Grenze nach Maribor und über Ljubljana weiter nach Zagreb und Niš. Dort teilte sich die Route und führte südwärts über Skopje und Evzoni nach Thessaloniki in Griechenland und ostwärts über Bulgarien nach Edirne und weiter nach Istanbul. Mit den Reisenden machten sich auch Briefe, Geld und Geschenke aller Art auf den Weg. Auf dem Rückweg wurden die Autos mit Lebensmitteln vollgeladen, die in Deutschland nicht zu finden waren. Die „Gastarbeiterroute“ wurde zur Nabelschnur nach Hause.
Quelle: Theussel Chr./Pritz: Die A9 Pyhrnautobahn, Gastarbeiterroute durch die Steiermark.
Durch den Transitverkehr veränderten sich aber auch ganze Regionen entlang der Strecke. Vor allem im Grenzgebiet Deutschland-Österreich war eine regelrechte Geschäftsmeile entstanden. Der Historiker Peter Payer zitiert in einem Artikel den Leiter der Grenzstation Spielfeld, Franz Tscherner:
Die Kaufhäuser sind aus dem Boden geschossen und hatten rund um die Uhr geöffnet, auch zur Nachtzeit. Viele Gastarbeiter wollten ja noch schnell einen großen Einkauf tätigen und für ihre Angehörigen etwas mitbringen. Und so haben eigentlich alle Geschäfte in Grenznähe geboomt. Wirtschaftlich war es sicher für die ganze Region ein Gewinn. (Payer, Die Presse)
Als 1991 der Jugoslawien-Krieg begann, wurde die E 5 zur Sackgasse, und eine neue Route über Wien, Ungarn und Rumänien entstand. Heute ist die Strecke ein Mythos und ein Erinnerungsort: Unzählige Geschichten voller Sehnsucht und Stolz ranken sich um sie - tragische und nostalgisch verklärte, aber auch lustige. Auch wenn sie in ihrer ursprünglichen Form kaum mehr anzutreffen ist, erlebt die Strecke seit einigen Jahren eine Renaissance. Familien packen ihre Autos wieder voll – wie damals in den 1970er und 80er Jahren. Die Staus an den Grenzübergängen und Maut-Stationen – von denen es inzwischen mehr gibt als vor zwanzig Jahren – werden wieder länger.
Während die Strecke in zahlreiche Filme und Literatur Eingang gefunden hat, fängt die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit gerade erst an. Zwar hat sich die BRD inzwischen in eine multiethnische Gesellschaft transformiert und begeht in diesem Jahr das Jubiläum des Anwerbeabkommens, das die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei vor 50 Jahren miteinander schlossen, aber Bilder, die Einwanderung als etwas Positives entwerfen, gibt es kaum.
Kino kann Prozesse der Migration sichtbar machen und Bewegung in das Feld der Darstellung bringen. Die Bilder, die Tuncel Kurtiz 1978 für seinen Dokumentarfilm fand, faszinierten und berührten mich sehr. 34 Jahre nachdem sich Kurtiz von Schweden aus, wo er im Exil lebte, mit der Kamera auf den Weg machte, um das Geschehen auf der als „Gastarbeiterstrecke“ verspotteten Route einzufangen, will ich diesen europäischen Migrationsweg erneut in den Mittelpunkt einer filmischen Spurensuche stellen und versuchen, eine Tür zum „Archiv der Migration“ (Deniz Utlu) aufzustoßen. Dabei begreife ich die Bilder, Geschichten und Biografien, auf die ich treffe, nicht allein als die Geschichte der MigrantInnen, sondern auch als die Geschichte der Mehrheitsgesellschaft, besser: als unsere gemeinsame Geschichte.
„Unser einziges Ziel ist: dort ankommen.“
In den ersten Jahren nach der Ankunft in Deutschland dachten die „Gastarbeiter“ nicht an Urlaub. Zwei, höchstens drei Jahre, wollten sie in Deutschland arbeiten und dann in die Türkei zurückkehren. Es kam anders. Die Rückkehr wurde von Jahr zu Jahr aufgeschoben; stattdessen hielt die jährliche Fahrt in die Heimat Einzug ins Leben der ArbeitsmigrantInnen. Zunächst mit der Bahn und dem Bus, aber spätestens seit Anfang der 70er Jahre, als die meisten bereits ein Auto besaßen, wurde die Fahrt zum festen Ritual ohne Alternative. Sie hatten ihr vertrautes Leben, ihre Familien und nicht selten ihre Kinder zurückgelassen und waren dem Ruf der Arbeit in die „Wirtschaftswunderländer“ des Nordens gefolgt.
Im Film „E 5 - Die Gastarbeiterstraße“ sagt einer der Männer am Wegesrand: „Wir müssen fahren. Wir lieben es. Es ist eine Kunst“ und bringt damit die Motivation für die gefährliche Reise auf den Punkt. In diesem Satz steckt das Lebensgefühl einer ganzen Generation, für die das Pendeln zwischen zwei Welten Normalität war. Das Leben im Transit war ebenso identitätsstiftend wie es auch eine physische Erfahrung war. Ein türkisches Sprichwort erzählt davon: „Wer Störche in der Luft erblickt, der wird immer unterwegs sein. Wir sehen ständig Störche in der Luft.“ Sieht man den Film heute, berührt er auch deshalb so stark, weil deutlich wird, wie schmerzhaft die Situation für die Menschen damals war. Viele seien an dem Glauben gescheitert, dass ihr ganzes Glück allein in der Türkei liege, erklärt der Regisseur des Films, Tuncel Kurtiz:
Sie wollten in Deutschland Geld machen, um sich daheim eine Existenz aufzubauen. Aber während sie hier gearbeitet haben, hat sich auch die Situation zu Hause verändert. Im Verlauf dieser Entwicklung haben viele von ihnen festgestellt, dass sie nicht einfach wieder in ihre Heimatdörfer zurückkehren können. Sie haben das Leben in Deutschland verändert, und das Leben in Deutschland hat sie verändert. (Kurtiz 2004)
Von diesem Schmerz, dass nichts bleibt wie es ist, erzählt auch ein Lied, das Kinder im Film singen: "Dort in der Ferne gibt es ein Dorf / auch wenn wir dort nicht hingehen / auch wenn wir es nicht sehen / ist dieses Dorf unser Dorf."
„Dein Weg soll frei sein. Doch die Strecke ist voller Gefahren.“
Şükriye und Burhan Özdemir, die ich seit vielen Jahren kenne, haben mir in mehreren Interviews die Geschichten ihrer Wanderung, ihrer Ankunft in Deutschland und ihrer Reisen auf der E 5 erzählt. 1973 kam zunächst Burhan nach Lorlach, in der Nähe von Gießen, wo er Arbeit fand. Şükriye folgte ein Jahr später mit den Kindern, und gemeinsam zogen sie in ein Dorf im Schwarzwald. Acht Jahre später gingen sie nach Röthenbach bei Nürnberg, wo sie bis heute leben. 1976, als sie zum ersten Mal die gefährliche Reise machten, hatten sie drei Kinder.
Bis zu ihrem Ziel - Antep im Südosten der Türkei - mussten sie 3.600 Kilometer zurücklegen. „Wenn ich daran zurückdenke, kommt es mir wie ein Film vor“, erzählt Şükriye:
Burhan hatte gerade erst seinen Führerschein gemacht, wir hatten einen alten Ford Taunus auf dem Automarkt gekauft und sind zusammen mit zwei anderen Familien aufgebrochen. Drei Wochen vor der Reise konnten wir nicht mehr gut schlafen. Es war ein unangenehmes Gefühl. Vor lauter Angst bekam ich schon eine Woche vorher Magenkrämpfe.
Die Angst war nicht unbegründet. Auf keiner anderen Straße in Europa starben zwischen 1970 und 1990 so viele Menschen bei Autounfällen. Als „Todesstrecke“ brannte sie sich ins kollektive Gedächtnis ein. Im Roman „Europastraße 5“ von Güney Dal aus dem Jahre 1981 kommt Salim, der seinen toten Vater in einem Karton in die Türkei transportiert, zu einer Unfallstelle und hört jemanden sagen: „Glaubt mir, jedes Jahr, wenn ich aufbreche, wird mir ganz mulmig. Und ich küsse unsere Kinder immer und immer wieder und nehme dabei heimlich für immer Abschied von ihnen.“ (Dal: 207)
„Kein Tag darf vergeudet werden. Wer wird das Ziel erreichen?“
„Auf dieser, zum größten Teil als E 5 registrierten Straße, sterben jedes Jahr mehr Menschen als auf allen deutschen Autobahnen zusammen“, schrieb der Spiegel 1975. Über fünftausend Unfälle passierten pro Jahr allein auf dem nur 330 Kilometer langen österreichischen Teilstück der Strecke. Die schmale und unübersichtliche Straße über die Alpen mit der Überquerung des Schoberpasses war eine besondere Herausforderung für die zu diesem Zeitpunkt bereits ermüdeten FahrerInnen, die meist sofort nach Arbeitsende in der Fabrik losfuhren. In der Ferienzeit verkehrten hier bald 30.000 Autos täglich; Staus bis zu 30 Kilometer Länge waren Normalität. Als „Massengrab für Autofahrer“ wurde die Loebener Umfahrung in demselben Spiegel-Artikel bezeichnet. Das nahe gelegene Krankenhaus in Kalwang war durch die vielen Unfälle fast permanent ausgelastet, und noch heute kann man auf dem Kalwanger Friedhof Gräber von verunglückten türkischen Familien besuchen. 1974 wurden 36 verunglückte „GastarbeiterInnen“ auf diesem Friedhof begraben. Franz Tscherner, der Leiter der Grenzkontrollstelle Spielfeld, erinnert sich an den Winter 1969:
Kurz vor Weihnachten, gab es erstmals das totale Chaos. Tausende Gastarbeiter strömten ihren Heimatländern zu. Die Exekutive war für den Ansturm nicht gerüstet. Noch dazu setzte Schneefall ein, so dass einfach alles zusammenbrach. Schützenpanzer des Bundesheeres mussten eingesetzt werden, um die verstopfte Straße wieder frei zu machen. (Payer, Die Presse)
Es kursieren auch Geschichten von Fahrern, die sich einen Ziegelstein auf das Gaspedal legten, um ihre lahmen Füße zu entlasten, oder von Reisenden, die das Kabel eines Bügeleisens, das als Weihnachtsgeschenk ebenfalls die Reise in die Türkei machte, um ihre Sommerreifen wickelten, um über die Alpenpässe zu kommen. Ich war zunächst ungläubig, aber Burhan beseitigte meine Zweifel, auch er hat damals zum Ziegelstein gegriffen.
Vom österreichischen „Kuratorium für Verkehrssicherheit“ initiiert, wurde 1988 bei Mautern ein „Moslem-Rastplatz“ eröffnet. Speziell für die Bedürfnisse der ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei ausgelegt, gab es ein Büffet ohne Schweinefleisch und Alkohol, spezielle WC-Anlagen und ein provisorisches, aus Brettern gezimmertes Bethaus.
Eine beeindruckende Fundgrube zur Strecke, vor allem mit einem Fokus auf den Streckenabschnitt durch die Steiermark, stellt das Internetprojekt "Gastarbeiterroute" von Fred Kroell dar. Direkt an der „Gastarbeiterroute“ aufgewachsen, hat er eine beeindruckende Sammlung von Fotos, Erinnerungsstücken, Dokumenten, Statistiken und Berichten von ZeitzeugInnen zusammengetragen und erweitert dies ständig.
„Mercedes Mon Amour“
Wie Burhan machten viele in der Fremde ihren Führerschein und reisten künftig mit dem Auto hin und her. Der eigene PKW wurde zum Statussymbol, mit dem man den ökonomischen Aufstieg auch in der Heimat überzeugend demonstrieren konnte. Eindrückliche Bilder dafür sehen wir in Tunç Okans Film „Mercedes Mon Amour“ (1995). Er erzählt die tragikomische Romanze zwischen dem türkischen Straßenkehrer Bayram, dargestellt von İlyas Salman, und seinem brandneuen Auto „Made in Germany“. Drei Jahre hat Bayram jeden Pfennig gespart, um sich eine Luxuslimousine, Marke Mercedes Benz 350 SE, leisten zu können. Mit diesem golden glitzernden Gefährt macht er sich auf die Reise in sein Heimatdorf, wo er seine Braut heiraten und mit seinem Schmuckstück aus Chrom und Blech angeben will. Doch die Fahrt durch die Türkei gerät zu einer Odyssee, die sein vierrädriger Liebling nicht überleben wird.
Im Film muss zwar nur das Auto dran glauben, aber die ausgebrannten Autowracks am Straßenrand erzählen auch von anderen, schlimmeren Schicksalen. Güney Dal hat drastische Bilder dafür gefunden. Dem Tod auf der Straße selbst nur knapp entkommen, lesen sich die Gedanken seines Helden Salims, die das Geschehen auf der Straße kommentieren, wie das Drehbuch zu einem Splatterfilm:
Der riesige Kühllastwagen hat sie einfach zerschnitten ... Zerschnitten ist noch zu milde, er hat ihnen das Blut ausgequetscht. (...) Abgeschnittene Arme und Beine überall verstreut, es regnet und das Wasser spült die Blutlachen weg. Gegen diesen Regen kommt Blut natürlich nicht an, Mensch. Das sind ja Türken, aber sicher, Türken... (Dal 1981: 105)
„Die Sehnsucht nach der Heimat ist so groß, dass wir diese Strapazen auf uns nehmen.“
Zwischen Köln und Ankara
Muss man ein wenig Gas geben, um anzukommen
Es liegen dreitausend Kilometer dazwischen
Wer führe sie, wenn er kein Heimweh hätte?
Auch dieses Gedicht von Aşık Ali Kabadayı stellt die Sehnsucht in den Mittelpunkt, das Motiv, warum sich jedes Jahr so viele immer wieder dieser Gefahr aussetzten. Es allein mit dem Wunsch nach der Zurschaustellung des ökonomischen Aufstiegs durch den eigenen Wagen zu erklären, wie ein Spiegel-Artikel von 1975 spottet, ist zynisch:
[…]Für sie, die das Jahr über verachteten, verspotteten, ausgenützten Parias der Industriegesellschaft, ist das Auto der Fetisch, der sie für wenige Wochen daheim an der Endstation Sehnsucht in kleine Könige verwandelt. Wenn Slavo in Sarajevo, Ali in Edirne und Kostas in Korinth mit eigenem Ford, BMW oder gar Mercedes einrollen, dann wird aus der Frustration der Monate am Fließband im fremden Land das so wohltuende Erfolgserlebnis in der Heimat. (Der Spiegel 1975)
Das Spiegel-Zitat erzählt mehr über die damalige Stimmung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und über den Blick, mit dem auf die „GastarbeiterInnen“ herabgeschaut wurde, als über die tatsächlichen Reisemotive der ArbeitsmigrantInnen. Es waren keine „GastarbeiterInnen“, die nur arbeiten und zurück wollten. Es waren Menschen. Davon wollte damals aber niemand etwas wissen. Explizit für schwere und unqualifizierte Industriearbeit angeworben, sollten sie im Rotationsprinzip alle zwei Jahre ausgetauscht werden. Sie wurden in den deutschen Arbeitsmarkt „integriert“ und gleichzeitig von Anfang an ausgegrenzt. „Sie dienten lediglich als Objekte der Repräsentation; eine Betroffenheitsperspektive wurden ihnen nur selten zugestanden“, schreibt Manfred Paffenthaler, der für seine Dissertation „Die Gastarbeiterroute. Wahrnehmung eines europäischen Migrationsweges“ umfangreiches Material auswertet. Die Unfallgefährlichkeit sei den ArbeitsmigrantInnen durchaus bewusst gewesen. „Die Frage warum sie trotzdem gefahren sind, lässt sich nur mit dem Hinweis auf die Bindung zum Herkunftsland und zu den dort lebenden Verwandten beantworten.“ (Pfaffenthaler)
„Wir arbeiten in der Fremde, weil wir unseren eigenen Wohlstand wollen.“
Nicht willkommen zu sein, war ein prägendes Gefühl für viele, die damals voller Hoffnungen nach Deutschland kamen. „Wurzeln zu schlagen, war schwierig, wo immer wir auch hingingen, wir waren Ausländer. Wir haben deshalb auch lange Zeit keine Wohnung finden können. Die ersten Jahre waren sehr sehr schwer“, beschreibt Şükriye diese Zeit. Es ist eine Geschichte von harter Arbeit und unermüdlichem Ehrgeiz. Auch Salim, der halsstarrige Held im Roman, kann in der Nacht vor Ermüdung nicht schlafen:
(...) keiner von euch begreift, wie schwer es ist, in Deutschland zu arbeiten. (...) Wenigstens in der ersten Zeit wisst ihr vor lauter Müdigkeit nicht, wo ihr überhaupt lebt, könnte auf dem Mond, könnte auch im Grab sein. Versteht ihr, so hart ist das. (Dal 1981: 60)
Viele, die in die „neue Welt“ aufgebrochen waren, mussten nicht nur ihre Freunde und Verwandten zurücklassen, sondern auch ihre kleinen Kinder. Ich habe Freunde, die mir erzählten, dass sie den Tag, an dem die Eltern endlich mit dem vollgepackten Auto in Istanbul oder Izmir in ihre Straße einbogen, herbeisehnten. Die erste Fassung des Anwerbevertrags mit der Türkei von 1961 beschränkte den Aufenthalt auf zwei Jahre und untersagte jeden Familiennachzug. Erst 1974 wurde Familiennachzug per Gesetz möglich, wenn auch mit zahllosen Behördengängen verbunden. (Hunn 2005)
Diese Beschränkung galt speziell für die ArbeitnehmerInnen aus der Türkei, während die Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien oder Griechenland großzügiger waren. Tausende Kinder aus der zweiten Generation wuchsen deshalb ohne Eltern bei Verwandten in der Türkei auf. Ihre Eltern lernten sie oft erst im Alter von zehn oder fünfzehn Jahren kennen. Wie sehr diese „Wunden der Kindheit“ das Leben der Betroffenen und ihre Beziehungen bis heute prägen, hat Gülcin Wilhelm gerade eindrücklich in ihrem Buch „Generation Koffer - Die zurückgelassenen Kinder“ beschrieben.
Export - Import
Die Autos waren immer überladen. Tote Väter, wie in Dals Roman, waren sicher die Ausnahme. Aber auch Teppiche hätte man nicht unter der Fracht auf den Autodächern Richtung Süden vermutet. „Später haben wir dann die Teppiche nach Deutschland importiert“, scherzt Burhan. „Es wäre natürlich viel bequemer mit dem Flugzeug gewesen. Aber wir konnten es uns nicht leisten und wie hätten wir denn mit dem Flugzeug alles transportieren sollen?"
Auf dem Hinweg wurden Waschmaschinen, Bügeleisen, Rasierer, Kassettenrekorder, Fön und Staubsauger transportiert, elektrische Geräte, die sehr teuer waren. „Jedes dritte Auto hatte eine Schubkarre auf dem Dach. Ich glaube, die gab es damals noch nicht in der Türkei“, erzählt Şükriye. Auf dem Rückweg wurden vor allem Lebensmittel eingeladen: Haselnüsse, Pistazien, Salça (selbstgemachtes Tomaten- oder Paprikamark), Bulgur, Käse, Auberginen, Oliven, Turşu (sauer eingelegtes Gemüse). „Einmal haben wir 35 Kilo Salça nach Deutschland mitgebracht. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kann ich lachen“, sagt Şükriye, „aber es war schlimm, sehr schlimm. Wir hatten Glück, dass wir nie einen Unfall hatten. Aber was ich unterwegs gesehen habe, werde ich nie vergessen.“
„Keine Straße, eher eine Hölle...“
Besonders gefürchtet war der über tausend Kilometer lange „Autoput“. Die Straße erstreckte sich über das Gebiet von vier der sechs Teilrepubliken des damaligen Jugoslawiens: Slowenien, Kroatien, Serbien sowie Bosnien und Herzegowina und erhielt von Jugoslawiens Staatspräsident Tito den Namen „Straße der Brüderlichkeit und Einheit“.
Quelle: Avto Moto Zveza Slovenije, AMS
Von ZwangsarbeiterInnen während des zweiten Weltkriegs begonnen und von jugoslawischen PionierInnen und AktivistInnen aus aller Welt fertig betoniert, sollte die Autobahn das Symbol für Aufbruch und Fortschritt sein. Mobilität war eines der Versprechen des sozialistischen Jugoslawiens. Aber die schlecht ausgebauten Strecken waren dem Ansturm des Transitverkehrs nicht gewachsen. Im Sommer kamen auf dem „Autoput“ täglich circa zehn Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Ohne organisierten Unfalldienst starben die meisten Verletzten meist noch am Unfallort. „Jugoslawische Zeitungen nehmen das Geschehen achselzuckend als ,unser Sommermassaker‘ hin,“ schrieb Der Spiegel 1975.
Kurz vor der Reise unterhält sich Salim mit einem Kollegen, der ihm von einem sehr viel ungefährlicheren Weg über Wien und Ungarn erzählt, den die meisten TürkInnen aber nicht gerne führen, weil sie sich vorher für Ungarn ein Visum besorgen müssten. „Die Straße, die wir fahren, mündet erst hinter Belgrad in die E 5. Eine Straße kann man das eigentlich nicht nennen, eher eine Hölle.“ (Dal 1981: 119).
Auch Şükriye ist dieses Teilstück der Straße in besonderer Erinnerung geblieben:
Wir sind die Strecke fast zwanzig Mal gefahren und haben jedes Jahr die jungen Leute gesehen, die die Straße bauten. Wir haben in der Regel gar nicht angehalten. Wir hatten viel zu viel Angst. Dann sind wir nach Bulgarien rein, immer Transit Transit, da haben wir auch nicht angehalten, nur kurz nach der Grenze in einem Restaurant. Es war ja verboten, die Transitstrecke zu verlassen. Es war nur wichtig, ausreichend zu tanken.
Spuren der Vergangenheit
Entlang der Strecke sind auch die blutigen Spuren einer anderen, früheren Vergangenheit sichtbar. Wer über Villach und Salzburg kommt, taucht schon am Anfang tief in die Geschichte ein: in den Karawankentunnel, der 1943 von ZwangsarbeiterInnen unter Aufsicht der SS gebaut wurde. Viele überlebten es nicht. In den 1990er Jahren, nach dem Zerfall Jugoslawiens, wurde der Autoput zur Panzerrollbahn für die jugoslawische, genauer für die serbische Armee. Bis 1993 war der kroatische Straßenabschnitt komplett gesperrt, die Minenfelder reichten bis an den Straßenrand. Einige Jahre später fielen in Serbien die Bomben der Nato, auch auf den Autoput.
Kurz nach der südserbischen Stadt Niš teilt sich die Strecke: Westwärts geht es weiter über Skopje und Evzoni nach Thessaloniki und ostwärts über Bulgarien nach Edirne und weiter nach Istanbul. Direkt neben der Autobahn entstand hier Ende der 1970er Jahre das Hotel Nais. Ein weiß-grauer mehrstöckiger Kasten, der im Inneren sozialistische Tristesse verströmt. Die Armut, die das ganze Land überzieht, ist auch hier zu spüren. Zlatko hat viele unterschiedliche Phasen miterlebt; er arbeitet seit 35 Jahren in dem Hotel:
Die meisten sind in Konvois gefahren und haben nicht angehalten, weil sie Angst hatten. Das hat sich ein bisschen geändert, als das Hotel speziell für die Gastarbeiter aus dem Norden gebaut wurde. Vor allem die türkischen Fahrer sind ja bekannt dafür, dass sie fahren, bis ihr Kopf nach unten fällt.
Seit einigen Jahren stellt die türkische Zeitung Hürriyet zur Hauptreisezeit in dem Hotel Infostände auf und bietet den türkischsprechenden Reisenden Service und Hilfe an. Außerdem berichten Reporter der Zeitung über die Vorkommnisse entlang der Strecke.
Die großen Schilder mit dem Hürriyet-Logo, die überall prangen, lassen fast vermuten, das Hotel sei in türkischem Besitz. Aber wie mir Zlatko erzählt, ist das Hotel verstaatlicht und der magere Monatslohn von 120 Euro wurde seit Februar nicht mehr ausbezahlt.
Sonnenaufgang in Kapıkule
Von Niš bis zur bulgarischen Grenze Dimitrovgrad sind es nur 83 Kilometer; schon bald hinter Niš endet die Autobahn und wird zur gut ausgebauten Landstraße. Mit dem Bau der Autobahn, die ein Ast des paneuropäischen Verkehrskorridors X durch Serbien ist, sollte schon 2009 begonnen werden, aber erst jetzt scheint Bewegung in die Bagger und Walzen zu kommen, die am Straßenrand stehen. Noch schlängelt sich die zweispurige Landstraße aus alten jugoslawischen Zeiten durch die reizvolle Landschaft. Bis zur türkischen Grenze Kapıkule sind es immer noch 500 Kilometer, aber „(w)enn man (...) in Niš ist, dann erlebt man den nächsten Sonnenaufgang in Kapıkule.“ (Dal 1981: 212)
Schilder in türkischer Sprache, von denen die Farbe abblättert, weisen auf Rastplätze, Imbissbuden, Motels, Tankstellen und Reparaturwerkstätten am Wegesrand hin und transportieren einen Hauch von Vergangenheit in die Gegenwart. Dann Ankunft in Kapıkule. Wartezeiten von bis zu zehn Stunden und mehr waren früher keine Seltenheit.
Unter den länger werdenden Schatten des Abends war die Grenzstation von Kapıkule ein atemberaubendes, höllisches Chaos. Es war nicht klar, wer was gerade tat oder zu tun im Begriff war und alle rannten wie wild hin und her, um alles erledigen zu können. (Dal 1981: 251)
In Kapıkule traf man sich wieder, man kannte sich bereits von den Wartezeiten an den anderen Grenzstationen. Beim Anblick der türkischen Fahne sprangen viele aus dem Wagen und küssten vor Freude den Boden. „Bis zu unserem Ziel ist es nicht mehr weit. Die Heimat ist in greifbarer Nähe. Alle Strapazen sind überstanden. Wir sind endlich in der Heimat. Von diesem Augenblick haben wir geträumt“, sagt ein Fahrer im Film „E 5 - Die Gastarbeiterstraße“.
Viel Zeit ist seitdem vergangen. Burhan und Şükriye sind in Rente gegangen. Seit einigen Jahren fahren sie im Sommer wieder mit dem Auto und bleiben drei Monate in der Türkei. Jetzt nehmen sie sich Zeit für die Strecke, übernachten unterwegs, schauen sich die Städte an, bleiben ein paar Tage bei ihrer Tochter in Istanbul - das einzige von ihren sechs Kindern, das in der Türkei lebt - bevor sie die letzten 1.200 Kilometer nach Antep in Angriff nehmen.
Früher sind wir mit den Kindern zusammen gefahren. Niemand blieb zurück, den wir vermissen hätten können. Heute ist es anders. Wenn wir losfahren, fange ich sofort an, meine Kinder und Enkel in Deutschland zu vermissen. Das ist der Unterschied. Die Familie hier wird immer größer, in der Türkei wird sie immer kleiner. Meine Eltern sind sehr alt. Die Wurzeln haben Triebe bekommen, der Baum und seine Äste sind auf dieser Seite. Gözden uzak gönülden uzak olur, heißt eine türkische Redensart, ‚aus den Augen aus dem Sinn‘, das alte schwere Gefühl von früher hat seine Kraft verloren, erzählt Sükriye.
In die Türkei zurück will Şükriye nicht: „Ich habe einmal meine Familie verlassen. Noch einmal kann ich mir das nicht vorstellen. Eigentlich sind wir sehr reich. Wir haben zwei Heimaten.“
November 2011
Endnote
(1) Die Zitate in den Überschriften stammen aus dem Film „E 5 - Die Gastarbeiterstraße“ von Tuncel Kurtiz, 1978
Literatur
- Dal, Güney (1981). Europastraße 5, dtv, München.
- Hunn, Karin (2005): Nächstes Jahr kehren wir zurück ... Die Geschichte der türkischen 'Gastarbeiter' in der Bundesrepublik. Wallstein Verlag, Göttingen.
- Kabadayı, Aşık Ali (2001) in „40 Jahre Fremde Heimat“, Domit, Köln.
- Kurtiz, Tuncel: "Deutschland verändert", taz 14.12.2004, (Zugriff: 11.10.2011).
- Payer, Peter: „Weg der Sehnsucht“, „Die Presse“ 30.05.2008, (Zugriff: 11.10.2011).
- Pfaffenthaler, Manfred (im Erscheinen): „‘Die Gastarbeiterroute‘. Wahrnehmung eines europäischen Migrationsweges".
- Priessner, Martina (2005): Verworfene Realitäten in: Interface (Hrsg.): WiderstandsBewegungen. Antirassismus zwischen Alltag und Aktion. Assoziation A, Berlin.
- Der Spiegel (1975): "E 5: Terror von Blech und Blut", Nr. 35. (Zugriff: 11.10.2011)
- Wilhelm, Gülcin (2010): Generation Koffer - Die zurückgelassenen Kinder. Orlanda Verlag, Berlin.
- Utlu, Deniz (2011): „Das Archiv der Migration“, freitag 31.10.2011(Zugriff: 31.10.2011).
- Yılmaz, Cuma (2004): "Antakya – Vancouver und nicht retour", Eurasisches Magazin, . (Zugriff: 11.10.2011).
Filme
- „E 5 - Die Gastarbeiterstraße“ von Tuncel Kurtiz, 1978.
- „Mercedes Mon Amour“ von Tunç Okan, 1995.
November 2011
Martina Priessner ist Filmemacherin und Kuratorin. Ihr Dokumentarfilm „Wir sitzen im Süden“ wurde für den Grimme Preis 2011 nominiert. Derzeit arbeitet sie an einem Dokumentarfilm über die Migrationsroute E 5. Foto: Ute Langkafel.