Bildung für alle? Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland

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Graffiti "Freie Bildung für alle"

von Mona Motakef

„Echte Gleichbehandlung im täglichen Leben“ – so bringt der EU-Kommissar Vladimír Špidla das Ziel des Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle auf eine Formel. In den letzten drei Jahrzehnten wurde ein enormer Korpus europäischer Rechtsvorschriften ausgearbeitet, um gegen Diskriminierung vorgehen zu können. Mit dem Europäischen Jahr verfolgt die EU-Kommission das Anliegen, das Diskriminierungsverbot im Alltag seiner Bürgerinnen und Bürger stärker zu verankern.

Wie sieht es also mit der Chancengleichheit im deutschen Schulalltag für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund aus? Wird ihnen ihr Menschenrecht auf Bildung gewährt? Wer hat eigentlich in Deutschland einen Migrationshintergrund?

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und ihre Bildungskarrieren

In der Bildungsforschung und in den UN-Menschenrechtsausschüssen ist lange bekannt, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund schlechtere Chancen haben, zum Beispiel nach der Grundschule eine Gymnasialempfehlung zu bekommen als Kinder ohne Migrationsgeschichte. Erst den international vergleichenden Schulleistungsstudien wie PISA und TIMMS ist es gelungen, eine breite Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, dass von einer „echten Gleichbehandlung im täglichen Schulleben“ nicht die Rede sein kann, wenn man sich die Bildungskarrieren dieser Gruppe anschaut.

Doch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind vor allem nicht eines: eine homogene Gruppe. In Bezug auf ihre Bildungschancen spielen Kriterien wie Geschlecht, das Alter, der Sprachengebrauch, die Dauer der Aufenthalte in Deutschland und in anderen Ländern, das Datum der Einreise, der Geburtsort der Eltern und der Großeltern, die Staatsbürgerschaft, die soziale Herkunft und die Religionszugehörigkeit wichtige Rollen.

Es ist ein großer Unterschied ob ein Kind als Flüchtling, Aussiedler oder als Kind von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in die deutsche Schule kommt. Kinder, deren Eltern in Deutschland Asyl beantragt haben, sprechen eher kein deutsch, haben womöglich zuvor keine Schule besucht und müssen, da ihr Aufenthaltsstatus ungeklärt ist, Angst vor der Abschiebung durch deutsche Behörden haben. Auch ist entscheidend, in welchem Bundesland sie sich aufhalten, da die Regelungen zum Schulbesuch sich bei bestimmten Aufenthaltstiteln regional unterscheiden. Kinder von Familien, die in der dritten Generation in Deutschland leben, haben dagegen ihren Lebensmittelpunkt immer in Deutschland gehabt, sprechen deutsch, haben ausschließlich in Deutschland die Schule besucht, überwiegend die deutsche Staatsbürgerschaft und müssen sich im Prinzip wundern, warum ihnen trotz ihres deutschen Passes ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Kinder von Aussiedlern und Aussiedlerinnen bilden die größte Gruppe der Zuwanderer, verfügen in der Regel über die deutsche Staatsbürgerschaft und treten als Seiteneinsteiger in das deutsche Bildungssystem ein.

Bekanntlich hat erstmalig die PISA-Studie aussagekräftige Daten über die Bildungskarrieren von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erhoben, da sie sich nicht, wie bislang die amtlichen Statistiken, auf die Staatsbürgerschaft beschränkt hat. Um den Migrationshintergrund zu ermitteln, wurden die Kriterien Sprachgebrauch in der Familie, Geburtsort der getesteten Person sowie die Geburtsorte der Eltern aufgenommen. Die Ergebnisse von PISA sind in Bezug auf die Frage nach Chancengleichheit jedoch mit Vorsicht zu genießen, da sie lediglich Aussagen über Schulleistungen geben.

Die Befunde von PISA zeigen:
Während Jugendliche, die PISA-Studie hat 15-Jährige Schülerinnen und Schüler getestet, ohne Migrationsgeschichte überwiegend Realschulen und Gymnasien besuchen, sind Jugendliche mit mindestens einem Elternteil aus der Türkei sowie aus der ehemaligen Sowjetunion auf Real- und Hauptschulen anzutreffen. Fast jeder zweite türkische Jugendliche besucht eine Hauptschule und nur jeder achte ein Gymnasium.

Die Unterschiede lassen sich bereits beim Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule beobachten: Kinder mit mindestens einem im Ausland geborenem Elternteil sind häufiger nach der Übergangsentscheidung an einer Hauptschule anzutreffen als Kinder ohne Migrationsgeschichte. Zudem korrigieren sie ihre Übergangsentscheidung seltener durch Aufstiege. Auch der Vergleich derjenigen Kinder und Jugendliche, die auf ein Gymnasium oder eine Realschule übergehen, zeigt unterschiedliche Verlaufsmuster: Von hundert Kindern ohne Migrationsgeschichte, die nach der Grundschule auf ein Gymnasium gehen, verbleiben dort 83 bis zur 9. Jahrgangsstufe, während das bei hundert Kindern mit Migrationsgeschichte nur für 77 Kinder der Fall ist. Noch größer sind die Unterschiede beim Besuch der Realschule: 84 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund verbleiben in diesen Schulen, während nur 73 Prozent der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte auch noch in Jahrgangsstufe 9 dort anzutreffen sind. Im Verlauf des Sekundarbereichs I wechseln 20 Prozent aller Kinder mit Migrationshintergrund auf die Hauptschule, während es bei Kindern ohne Migrationsgeschichte nur 10 Prozent sind. Folglich ist es für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht nur schwieriger im Schulsystem aufzusteigen, sie haben auch größere Probleme als Gleichaltrige, nicht auf ein niedrigeres Schulniveau abzusteigen1 .Wie lassen sich die schlechteren Schulleistungen erklären?

Gründe für die eingeschränkten Bildungschancen und Vorschläge für Gegenmaßnahmen zur Umsetzung von Chancengleichheit

Die Gründe sind vielfältig und oftmals miteinander verwoben. Folgende Aspekte bilden zur Frage nach den Gründen für die Benachteiligung lediglich einen Ausschnitt 2

• Relative Armut
Familien mit Migrationsgeschichte sind überproportional von relativer Armut betroffen. Dies liegt unter anderem daran, dass im Ausland erworbene Bildungsabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden und Migrantinnen und Migranten aus diesem Grund auf gering bezahlte Stellen angewiesen sind 3. Das Eintreten für Chancengleichheit bedeutet deswegen vor allem Armutsbekämpfung. Das Europäische Jahr könnte hier politische Signale setzen, dass die Förderung von Chancengleichheit in der Bildung Armutsbekämpfung mit einschließen muss.

• Sprachpolitik und -förderung
Weitere und in der Öffentlichkeit prominentere Gründe für die eingeschränkten Bildungschancen sind in den Modellen zur Sprachförderung zu suchen. Die Veröffentlichung der Daten der ersten PISA-Studie hatte bereits erste sprachpolitische Konsequenzen. Positiv hervorzuheben ist hier der Ausbau der sprachlichen Frühförderung. Die PISA-Studien verdeutlichten jedoch auch, dass eine koordinierte Sprachförderung in den verschiedenen Unterrichtsfächern benötigt wird, damit Schülerinnen und Schüler ihre Sprachkompetenzen in den verschiedenen Wissensbereichen ausbauen können. Inwieweit diese Forderung umgesetzt wurde, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht evaluieren.

Als weitere Reaktion auf die schlechten Ergebnisse von PISA gilt der Abbau des Unterrichts in den Familiensprachen. Die Mittel, die bislang in die Förderung dieser Sprachen geflossen sind, wurden teilweise in Maßnahmen zur Förderung des Deutschen umgeleitet. Auch bilinguale Modelle wie sie in den USA, Kanada und Australien üblich sind, sind in Deutschland weiterhin rar gesät. Mit Blick auf das Europäische Jahr der Chancengleichheit ist die sich abzeichnende Tendenz des Abbaus an Unterricht in den Familiensprachen negativ zu bewerten, denn ihr Verzicht kommt einer Abwertung gleich. Aus US-amerikanischen Studien lässt sich ableiten, dass die Förderung dieser Sprachen für eine positive Identitätsbildung entscheidend ist und sich damit indirekt auch positiv auf den Bildungserfolg auswirkt.4

• Die Normalitätserwartung der deutschen Schule
Kinder mit Migrationshintergrund haben einen eingeschränkten Zugang zu statushohen Schulen. In der Bildungsforschung wird dieser Missstand zum Teil als ein Effekt von Benotungs- und Auswahlentscheidungen von Lehrerinnen und Lehrern erklärt.

Die Bildungsforscher Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke bewerten die hohen Übergangsquoten von Kindern mit Migrationshintergrund auf Sonder- und Hauptschulen als Effekte von institutionellen Diskriminierungen. Am Beispiel ihrer Untersuchung an einer Bielefelder Schule zeigten sie, dass Muster der Diskriminierung und Abweisung entlang von Normalitätserwartungen die gesamte Schullaufbahn von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund prägen. Die Normalitätserwartung orientiert sich an der Schul- und Sprachfähigkeit von deutsch-einsprachigen und christlich sozialisierten Mittelschichtskindern. Um das vorrangige Ziel homogene Lerngruppen zu bilden, werden Kinder, die der Normalitätserwartung der Schule nicht entsprechen, auf statusniedrigere Schulen abgewiesen.5 
 
Die Normalitätserwartung von Schulen ist seit den 1960er Jahren ein zentraler Kritikpunkt der Bildungsforschung an der Bildungspraxis.6  Mit Konzepten zu Interkulturellem Lernen, Anti-Bias und Diversity wird seit den 1990er Jahren versucht, sie zu durchbrechen. Das Europäische Jahr der Chancengleichheit stellt in Bezug auf diesen Punkt eine Herausforderung dar, da es in Zukunft darauf ankommen wird, einer Gesellschaft die hohe Bedeutung von Diskriminierungsfreiheit zu vermitteln. Denn das Aufgeben der Orientierung am „normalen Kind“ würde nicht nur Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund unterstützen, sondern auch alle anderen, die jener Normalitätserwartung nicht entsprechen.

Deutlich wird, dass sich die Schule, um Chancengleichheit zu gewähren, stärker als bisher an den Lernausgangslagen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund orientieren muss. Wenn die Bildungschancen junger Flüchtlinge in den Blick geraten, lässt sich zeigen, dass für sie der Gleichheitsanspruch bereits im Zugang zur Schule verletzt wird.
 
Das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle – auch für Asyl suchende Kinder und Kinder ohne reguläre Aufenthaltstitel?

Eine der größten Herausforderung für die Gewährung von Chancengleichheit in der Bildung für alle, und nicht nur für die Angehörigen der EU, stellt die Gruppe der Asyl suchenden Kinder sowie die der Kinder ohne reguläre Aufenthaltstitel dar. Sie sind in einigen Bundesländern von der Schulpflicht ausgenommen. In diesem Fall haben sie theoretisch ein Recht auf Schulbesuch, werden in der Regel jedoch nicht darüber informiert. Faktisch führt das Schulbesuchsrecht nur sehr selten dazu, dass Kinder regelmäßig Schulen besuchen. Auch Kinder ohne reguläre Aufenthaltstitel können keine Schule besuchen, da ihre Eltern befürchten müssen, dass ihr irregulärer Aufenthaltstitel auffliegt. Die Schule hat zudem die Pflicht, die Personen der Ausländerbehörde zu melden. Um auch diesen Kindern Bildungsrechte zu gewähren, müssten auch sie in die Schulpflicht einbezogen sowie die Schulen von der Meldepflicht befreit werden.7

Bildung für alle!
Der Gewährung von Chancengleichheit für alle in der Bildung bedeutet, dass sich die Schule stärker als bisher an der Heterogenität der Lernbedürfnisse und Lernausgangslagen von Kindern und Jugendlichen orientieren muss, egal ob sie EU-Angehörige sind oder nicht. Der Einsatz für Chancengleichheit bedeutet dabei nicht nur einen Gewinn für Kinder mit Migrationshintergrund. Eine Bildungspolitik und -praxis, die auf Chancengleichheit und Inklusion setzt, bereichert alle Menschen, da sie nicht auf eine Normalitätserwartung ausgerichtet ist, sondern ohne bestehende politische und rechtliche Ungleichheiten zu ignorieren, die Vielfalt an Lebenslagen und Lebensentwürfen respektiert.

 

Endnoten

1 Deutsches PISA-Konsortium (2001): PISA 2000. Opladen und Deutsches Bildungskonsortium (2006): Bildung in Deutschland. Berlin.  

2 Mona Motakef (2006): Das Menschenrecht auf Bildung und der Schutz vor Diskriminierung. Berlin.

3 Zum Zusammenhang von Armut und Bildung siehe Gerda Holz (2003): „Kinderarmut verschärft Bildungsmisere.“ In: Das Parlament (21-22), 3-6.

4 Zu den gegenwärtigen sprachlichen Fördermaßnahmen siehe Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Berlin. 

5 Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke (2002): Institutionelle Diskriminierung. Opladen. 

6 Hierzu auch Ingrid Gogolins Ansatz zum „monolingualen Habitus: “http://www.migration-online.de/beitrag._aWQ9MTUwNA_.html.

7 terres des hommes (2005): „Wir bleiben draußen“: Schulpflicht und Schulrecht von Flüchtlingskindern in Deutschland. Osnabrück.

 

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Mona Motakef ist Sozialwissenschaftlerin und Pädagogin für Interkulturelle Kommunikation. Sie arbeitet am Essener Kolleg für Geschlechterforschung und ist Lehrbeauftragte für Soziologie an den Universitäten Oldenburg und Duisburg-Essen.