von Karsten Lehmann
Die Diskussion um ‚den Islam in Deutschland’ ist durch eine ganz eigene Dynamik geprägt. Kaum ein migrationsbezogenes Thema besitzt gegenwärtig ein größeres Konfliktpotential. Nur wenige Zuwanderungsthemen scheinen tiefer gehende Ängste hervorzurufen. Keine Kontroverse ist von so konträren Argumentationsmustern geprägt wie diese. Dabei schien die Präsenz von MuslimInnen in Deutschland über mehrere Jahrzehnte kaum der Rede wert. Die aktuelle Dynamik der Islam-Debatte basiert nicht etwa auf einer anhaltenden Konflikterfahrung, sondern vielmehr auf der Plötzlichkeit, mit der einzelne Aspekte ‚des Islams’ auf der gesellschaftspolitischen Agenda erschienen sind.
Es lohnt sich, dieses Phänomen ein wenig genauer zu betrachten: Die Debatte um die Rolle von Religionen in Migrationsprozessen hat seit den 1950er Jahren eine 180-Grad-Wende vollzogen. Von den 1950er bis in die 1980er Jahre schien ‚die Religion’ von ZuwandererInnen kaum von Bedeutung zu sein. Im Mittelpunkt standen Themen wie berufliche Qualifikation, die Konsequenzen des Anwerbestopps, der Familiennachzug oder die drohende Unterschichtung der deutschen Gesellschaft. Vor allem SozialwissenschaftlerInnen waren weitgehend davon überzeugt, dass Religionen in modernen Gesellschaften zunehmend an Bedeutung verlieren und dass dieser Trend auch die ZuwandererInnen erreichen werde.
Bis in die 1970er Jahre schien die Lebenssituation der MigrantInnen diese Prognose weitgehend zu rechtfertigen. Die meisten ZuwanderInnen maßen der aktiven Pflege ihrer religiösen Traditionen nur eine nachgeordnete Bedeutung zu. Verhältnismäßig wenige christliche MigrantInnen trafen sich in den eigens von Seiten der christlichen Konfessionen für sie eingerichteten Gemeinden und die muslimischen ZuwanderInnen versammelten sich entweder in Räumen ihrer Wohnheime oder der Wohlfahrtsverbände. Alle diese Aktivitäten fanden weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und besaßen einen so provisorischen Charakter, dass sie die Gewissheit von der abnehmenden Bedeutung religiöser Traditionen nicht ernstlich in Frage stellten.
Neues Interesse an muslimischen ZuwandererInnen in Deutschland
Erst gegen Ende der 1980er Jahre geriet dieser Konsens ins Wanken. Dabei trafen zwei ganz unterschiedliche Entwicklungen aufeinander. Auf der internationalen politischen Bühne gewannen religiöse Zuschreibungen durch die Abschwächung des Ost-West-Konflikts dramatisch an Gewicht. Die kriegerischen Konflikte auf dem Balkan und im Nahen Osten sowie die politischen Debatten in den USA oder Indien blieben ohne die Berücksichtigung religiöser Faktoren weitgehend unverständlich. In Deutschland begannen sich vor allem die MuslimInnen zunehmend im öffentlichen Raum zu etablieren. Der Bau repräsentativer Moscheen, das politische Engagement muslimischer Dachverbände und die Gerichtsprozesse um das Schächten oder das Kopftuch schafften es auf die Titelseiten der Zeitungen.
Aus dieser Situation heraus entstand eine Diskussion um Fragen wie: Wie viel Islam verträgt die deutsche Gesellschaft? Wie soll man mit den daraus entstehenden Problemen umgehen? Eine Diskussion, die sich bis heute durch eine erstaunliche Abstraktheit auszeichnet. Im Mittelpunkt steht ‚der Islam’ und nicht konkrete muslimische Gemeinschaften oder Gläubige bzw. ‚das Kopftuch’ und nicht die einzelne Frau, die sich für oder gegen ein Bedecken der Haare entscheidet. Allgemeiner formuliert: Die Debatten fokussieren auf vieldeutige Symbole, ohne besonderen Wert auf deren konkrete Interpretation zu legen. Sie übersetzen außerdem primär religiös motiviertes Handeln in politische Parameter und entziehen sich damit der religiösen Auseinandersetzung.
Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, einen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus zu wagen und die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland mit anderen Fällen zu vergleichen. Dies soll im Folgenden anhand von zwei komplementären Beispielen geschehen.
Blick zurück an Ruhr und Spree: Integration und Anpassung
Das erste Beispiel führt in das Ruhrgebiet und nach Berlin. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam es dort im Gefolge der Industrialisierung zu einer nachhaltigen Ansiedlung von Arbeitern aus den sog. ‚preußischen Ostprovinzen’. Diese Gebiete gehörten seit der Zweiten Teilung Polens (1793) zu Preußen, sodass die ‚Gastarbeiter’ aus dem ehemaligen Polen de iure als Untertanen des Deutschen Reiches galten und ihren Nachbarn gleichgestellt waren. Diese Rechtslage konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich in Sprache und Religion grundlegend von der traditionellen Wohnbevölkerung unterschieden. So gründeten ‚die Polen’ eigene Organisationen, deren Nukleus nicht selten katholische Gemeinden bildeten.
Untersuchungen von Historikern wie Richard C. Murphy und Gottfried Hartmann machen deutlich, wie weitgehend die damaligen Konflikte denen des 21. Jahrhunderts gleichen. Damals wie heute ging es um die Präsenz religiöser Experten mit spezifischen Sprachkompetenzen, den Bau eigener Sakralbauten, den Aufbau einer ethnisch geprägten Infrastruktur sowie Kompetenzstreitigkeiten unter den Zuwanderern. Damals wie heute wurden die Vorstöße der Zuwanderer als bedrohlich wahrgenommen und u.a. von kirchlichen wie staatlichen Stellen kritisiert. Es kam zu gewaltsamen Schließungen von Vereinen und Gewerkschaften, zur Verhaftung einzelner Protagonisten und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Diese Kontroversen waren von so starker Emotionalität geprägt, dass wohl kaum einer der Beteiligten damit gerechnet hatte, dass sich die Situation wieder beruhigen könnte. Trotzdem war gerade dies der Fall. Was die Sprachfähigkeit oder die alltäglichen Gebräuche der polnischen ZuwanderInnen anging, so näherten sie sich schnell an die Aufnahmegesellschaft an. Auch die polnischen Institutionen verloren nach 20-30 Jahren ihre oppositionelle Ausrichtung und gingen wenig später zumeist in bestehenden Institutionen auf. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg waren die Konflikte an Ruhr und Spree so weitgehend beigelegt, dass ein erneuter polnischer Zuzug (nach dem ‚Polnischen Frühling’ von 1956) eine weitaus unspektakulärere Entwicklung nahm.
Interessant wird es nun, wenn man die Entwicklung der polnischen KatholikInnen um 1900 mit derjenigen der MuslimInnen in der Gegenwart in Beziehung setzt: Tatsächlich lassen sich unter den muslimischen ZuwanderInnen Prozesse beobachten, die mit denen im Ruhrgebiet durchaus parallel verlaufen. Erfolgreiche UnternehmerInnen türkischer oder iranischer Herkunft und muslimischen Glaubens werden zunehmend zum Normalfall. Ihre Kinder und Enkel übernehmen immer häufiger einflussreiche Positionen in Politik, Wissenschaft, Sport und Verbänden. Eine immer größere Zahl von MuslimInnen etabliert sich in der Mittelschicht und repräsentiert - trotz muslimischem Fundamentalismus und Terrorismus - eindeutig den empirischen Normalfall. So gesehen stimmt der Vergleich zunächst optimistisch; verweist er doch auf die weitgehende Integrationskraft der deutschen Gesellschaft.
Trotz dieser augenscheinlichen Parallelen werden auf den zweiten Blick aber auch die Unterschiede deutlich: Diese betreffen zunächst den Migrationsprozess selbst. Die Zuwanderung der PolInnen blieb weitgehend eine historische Episode. Der Zuzug von Menschen aus muslimisch geprägten Ländern hält dagegen (wenn auch in abgeschwächtem Maße) seit mehreren Jahrzehnten an. Darüber hinaus unterscheiden sich auch die Formen der sozialen und kulturellen Anschlussfähigkeit. Die katholischen PolInnen konnten auf bereits bestehende katholische Institutionen zurückgreifen und nutzten diese Möglichkeit. Für die Mehrzahl der muslimischen ZuwanderInnen ist diese Option nicht gegeben.
Die Bemühungen der muslimischen Verbände um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts liefern hier ein paradigmatisches Beispiel. Die Verbände vollziehen damit einen rechtlichen wie auch symbolischen Akt, der in zwei unterschiedliche Richtungen verweist. Zum einen steht der Antrag auf Körperschaftsrechte für den Versuch, staatliche Ressourcen für eigene Zwecke nutzbar zu machen, da sich die Verbänden dadurch ganz spezifische Handlungsräume (wie bspw. bei der Eröffnung von Kindergärten oder bei der Finanzierung) eröffnen. Zum anderen kann man dieses Bemühen aber auch als eine integrative Maßnahme interpretieren. Die Verbände nähern sich an die christlichen Kirchen in Deutschland an, indem sie einen Status mit gleichen Rechten und Pflichten anstreben. In jedem Fall wird der Eindruck vermittelt, dass die Anerkennung oder Ablehnung für eine erfolgreiche bzw. erfolglose Etablierung stehe.
Der folgende Abschnitt soll nun eine Option für die Entwicklung der MuslimInnen in Deutschland andeuten, welche über die Frage der Körperschaftsrechte hinaus weist.
Blick über den Großen Teich: Markt der Religionen
Mit diesem zweiten Beispiel wird das Augenmerk über den Großen Teich auf die Vereinigten Staaten von Amerika gelenkt. Auch hier legt sich ein Vergleich aus mehreren Gründen nahe. Zunächst einmal sind sich beide Länder nicht allzu fremd. Sowohl die USA als auch die Bundesrepublik können inzwischen als Einwanderungsländer beschrieben werden und verfügen über unterschiedlichste muslimische Gemeinden. Gleichzeitig unterscheiden sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aber so nachdrücklich voneinander, dass ein Vergleich neue Perspektiven für die Debatte in Deutschland eröffnen kann. Gerade in Bezug auf den Umgang mit Religionen bestehen zwischen Deutschland und Nordamerika grundsätzliche Differenzen.
Besonders aufschlussreich sind hier die Analysen der Religionswissenschaftlerin Diana L. Eck über das ‚neue religiöse Amerika’. Eck beschreibt in ihrer klassischen Studie zur religiösen Pluralisierung Amerikas, wie unbemerkt muslimische Vorstellungen bereits durch die ersten SklavInnen aus West-Afrika in die USA gekommen sind. Mit dem Zuzug jordanischer und libanesischer MigrantInnen wurde dieser Prozess fortgesetzt, bis es in den 1890er Jahren zur Etablierung erster muslimischer Gemeinden kam. Einen ersten Höhepunkt erreichte deren Entwicklung mit dem Bau der Moschee in Cedar Rapids, Iowa, im Jahr 1936. Sie steht für einen Prozess, der sich im Gefolge des Zuzugs von MigrantInnen aus Indien und Pakistan fortsetzte und bis in die Gegenwart anhält.
Zum Zentrum der muslimischen Gemeinden entwickelte sich in Amerika schließlich Detroit. Vor allem die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre ließ die ‚Nation of Islam’ und ihre ganz unterschiedlichen Nachfolgegemeinden in das allgemeine Bewusstsein der US-AmerikanerInnen treten. Prominente Konvertiten wie der Boxer Muhammad Ali (Cassius Clay) oder der politische Aktivist Malcom X (Malcom Little) entwickelten sich zu zentralen Figuren einer eigenen afro-amerikanischen Tradition des Islams, die sich von orthodoxen Vorstellungen distanzierte. Eine Geschichte, die durch weitgehende Kontroversen bis zu tätlichen Konflikten geprägt war und u.a. Malcom X das Leben kostete.
Trotzdem konnten sich die Muslime zunehmend im gesellschaftlichen Mainstream der USA verankern. Unterschiedlichste Verbände etablierten sich als Repräsentanten einzelner muslimischer Traditionen und spiegeln damit die Pluralität der muslimischen Gemeinschaften. Gleichzeitig entwickelte sich zum Beispiel Muhammad Ali in den 1980er Jahren zu einem der großen lebenden, amerikanischen Idole. Im Jahr 1992 formulierte der Imam W. D. Mohammed vor dem U.S. Senat als erster Muslim ein Bittgebet. Selbst die Ereignisse des 11. Septembers 2001 konnten diesem Prozess keinen Abbruch tun. Präsident Bush bemühte sich dezidiert um die Nähe zu den muslimischen Verbänden, deren Vertreter sich wiederum umgehend von den Attentaten distanzierten.
Diese Beobachtungen kann man folgendermaßen zusammenfassen: Die muslimischen Gemeinschaften sind in den USA dabei, sich zu eigenen ‚Denominationen’ zu entwickeln. Sie werden dadurch zu Anbietern auf einem religiösen Markt, der in der Tradition des politischen Liberalismus steht und auf dem sich alle Religionsgemeinschaften behaupten müssen. Die Muslime folgen somit einem Religionsverständnis, welches sich - wie Georg Kamphausen nachgezeichnet hat - grundsätzlich von dem deutschen Verständnis unterscheidet. Im Mittelpunkt steht nicht das Ideal der großen Kirchen, sondern die Vorstellung von kleineren religiösen Gemeinschaften mit je spezifischen religiösen ‚Angeboten’.
Für die Debatte um die Zukunft der MuslimInnen in Deutschland eröffnet sich dadurch eine neue Perspektive. Einerseits wendet sich das Konzept der Denomination gegen jede Form staatlicher Privilegierung. Religionsgemeinschaften konstituieren sich als Vereine, welche sich um die Zuerkennung der Gemeinnützigkeit ebenso bemühen wie um den Erfolg bei der eigenen Anhängerschaft. Andererseits tendieren Denominationen zu einer stärkeren religiösen Profilierung auf dem religiösen Markt. Religiöse Positionen werden in der Öffentlichkeit pointierter formuliert und kontroverser vorgetragen ohne dass dies zur Aufgabe demokratischer Prinzipien führen würde. Das Beispiel USA macht deutlich, dass die Trennung zwischen Religionsgemeinschaften und staatlichen Institutionen unter diesen Bedingungen besonders weit vorangetrieben werden kann.
Zwei Szenarien zur Zukunft der Muslime in Deutschland
Bezieht man diese Beispiele nun auf die eingangs skizzierte Debatte, so wird zunächst deutlich, dass jede Präsenz neuer Religionsgemeinschaften Konflikte hervorrufen kann. Sowohl der Zuzug der katholischen PolInnen nach Deutschland wie auch die (teilweise erzwungene) Zuwanderung muslimischer MigrantInnen in die USA haben starke Kontroversen nach sich gezogen. Beide Fälle machen aber auch deutlich, wie sich diese Konflikte nach geraumer Zeit wieder legen können.
Das Beispiel der polnischen KatholikInnen an Ruhr und Spree spricht dabei für eine langsame aber weitgehende Anpassung. Trotz offener Konflikte integrierten sich die Polen weitgehend in den bestehenden Institutionen der Aufnahmegesellschaft. Unter anderem Vorzeichen könnten auch die muslimischen Zuwanderer diesen Weg gehen. Dabei müsste es aber zu einer weitgehenden Anpassung der muslimischen Gemeinschaften an die deutschen Verhältnisse kommen. Sollte die Zuwanderung nachlassen und auf beiden Seiten eine ausreichende Offenheit bestehen, so ist dies ein durchaus denkbares Szenario.
Der Blick über den Großen Teich betont dagegen die Etablierung unterschiedlicher Religionsgemeinschaften auf einem religiösen Markt. Dies impliziert ganz andere Veränderungen. Die Muslime müssten sich offen zu einer gleichberechtigten Teilnahme an diesem Markt bekennen und sich seinen spezifischen Regeln unterwerfen. Gleichzeitig müsste die deutsche Gesellschaft eine zunehmende Pluralisierung und Profilierung der religiösen Gemeinschaften verkraften. Mit diesem Szenario ist somit nicht zuletzt ein Wandel des deutschen Verhältnisses zwischen Religion und Politik verbunden.
Dr. Karsten Lehmann ist Religionswissenschaftler an der Universität Bayreuth. Seine Schwerpunkte sind religiöser Pluralismus in Deutschland, Religionen in den internationalen Beziehungen und Methoden der qualitativen Religionsforschung.