Die Wirklichkeit des Leistungsprinzips: Ansprüche, Krisen, Kritik

von Prof. Dr. Sighard Neckel

Keynote zur Diskussionsveranstaltung „Leistung, die sich lohnt? Das Versprechen der Chancengerechtigkeit“ der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin: 25. Juni 2012.

Seit einigen Jahren schon wird in der Öffentlichkeit wieder verstärkt über das „Leistungsprinzip“ diskutiert. Anlässe hierfür bieten einerseits Veränderungen der Leistungsanforderungen in Arbeit und Beruf. Andererseits wird vielfach in Frage gestellt, ob verschiedene Arbeits- und Lebensleistungen auch jeweils die Belohnung und Anerkennung erhalten, die ihnen zukommen sollten. Erkennbare „Leistungen“ und materielle „Verdienste“ treten nicht selten deutlich auseinander, so dass in der öffentlichen Meinung Zweifel entstehen, ob das Leistungsprinzip in unserer Gesellschaft noch gilt.

An Beispielen wie hohen Börsengewinnen, den Einkünften von Topmanagern, von Medienstars und Spitzensportlern oder auch am Beispiel der heutigen Erbschaftswelle wird das Leistungsprinzips denn auch kontrovers debattiert. Hierzu trägt bei, dass das Leistungsprinzip für unterschiedliche Sozialgruppen eine gegensätzliche Bedeutung angenommen hat. Während es zu den Privilegien wirtschaftlicher Spitzengruppen und professioneller Eliten gehört, Verdienste weit außerhalb von Leistungskriterien zu erzielen, wird das Leistungsprinzip gegenüber sozialen Verlierern als Instrument der staatlichen Kontrolle verwendet, seit man in der Sozialpolitik das Prinzip der erzwungenen Gegenleistung durchgesetzt hat. Für breite Bevölkerungsschichten wiederum gilt immer mehr, dass Leistungen in Arbeit und Beruf längst nicht garantieren, bei der sozialen Statusverteilung auch erfolgreich zu sein.

Solche Befunde bedürfen natürlich einer Erläuterung, was unter dem „Leistungsprinzip“ eigentlich verstanden werden soll. Und so will ich den Leistungsbegriff zunächst historisch skizzieren, um dann über aktuelle Entwicklungen zu sprechen, die sich gegenwärtig hinsichtlich der Bedeutung von „Leistung“ vollziehen.

„Leistung“ ist ein Wert, der weit in die Geschichte menschlicher Kulturen zurückreicht. Herausragende Leistungen sind zu allen Zeiten anerkannt worden, und ihren Erbringern wurde Wertschätzung und mitunter Verehrung zuteil. Doch erst die Theoretiker des Liberalismus erhoben „Leistung“ auch zu einem umfassenden gesellschaftlichen Ordnungsprinzip. Was eine Person besitzt, welche soziale Stellung jemand innehat und welche Karriere sie oder er einschlagen kann, sollte nicht länger durch das ständische Prinzip der Herkunft bestimmt werden und auch nicht durch unveränderliche Merkmale wie Hautfarbe, Alter oder Geschlecht, sondern allein das Ergebnis der eigenen Arbeit und Leistung sein. Mit dem Aufstieg des Bürgertums entstand so das ideelle Modell der „Leistungsgesellschaft“, welches für das ganze Industriezeitalter verbindlich wurde, und das bis heute das Selbstverständnis moderner Nationen prägt.

Nach wie vor ist das Leistungsprinzip eine Fundamentalnorm im Selbstverständnis unserer Gegenwart. „Leistung“ gibt die Kriterien vor, nach denen Lebenschancen verteilt, Teilhabe am wirtschaftlichen Reichtum gewährt und die soziale Ungleichheit zwischen Personen, Gruppen und Klassen gerechtfertigt werden sollen. In scharfer Abgrenzung zu allen bloß zugeschriebenen Eigenschaften beansprucht das Leistungsprinzip, Einkünfte, Zugänge, Ränge und Ämter allein nach den Maßstäben von Wissen und Können zu vergeben. Seine zentralen Anwendungsbereiche stellen demgemäß die Sphären des sozialen Wettbewerbs dar. Bildung, Arbeit und wirtschaftlicher Erwerb sind seine wichtigsten Domänen. In ihnen gilt als offizielle Norm, dass „Leistungsgerechtigkeit“ vorherrschen soll.

Allerdings ist in modernen Demokratien das Leistungsprinzip bei weitem nicht die einzige Sozialnorm von gesellschaftlichem Belang. Das politische System etwa ist davon ausgenommen, hier gilt das Prinzip der rechtlichen Gleichheit. Und auch das Sozialstaatsgebot richtet sich nicht in erster Linie nach dem Leistungsprinzip, da hier vor allem die Frage der Bedürftigkeit zählt.

Eine besondere Bedeutung hat das Leistungsprinzip dafür, Garant sozialer Chancengerechtigkeit zu sein, insbesondere im Bildungssystem. Denn dem Selbstverständnis der „Leistungsgesellschaft“ nach soll der Erfolg beim Bildungserwerb die zentrale Rolle für die soziale Statusverteilung spielen. So postulierte der Soziologe Helmut Schelsky bereits in den 1950er Jahren, dass die Schule die „entscheidende soziale Dirigierungsstelle für Rang, Stellung und Lebenschancen“ sei. Der Schule käme die Aufgabe zu, in Absehung von allen leistungsfremden Merkmalen Bildungstitel allein nach Wissen und Begabung zu vergeben.

In den folgenden Jahrzehnten hat die Sozialwissenschaft eine fundamentale Kritik dieser „Illusion der Chancengleichheit“ unternommen, wie dies in einer berühmten Studie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu aus den 1970er Jahren genannt worden ist. Darin zeigt Bourdieu auf, und diese Befunde sind grundsätzlich auch heute noch gültig, dass Kinder aus unteren Schichten ohne starken Bildungsbezug paradoxerweise gerade dadurch benachteiligt werden, dass man für alle Kinder Chancengleichheit herstellen will. Denn die Vorteile der Kinder aus mittleren und oberen Schichten resultieren aus einem bereits frühzeitig in der Familie erworbenen kulturellen Wissen, das in das habituelle Verhaltensrepertoire eingeht und somit von Kindern unterer Schichten durch schulisches Lernen kaum einzuholen ist. Werden – wie dies dem republikanischem Ideal gemäß in Frankreich in besonderer Weise der Fall ist – nun alle Kinder mit strikt den gleichen Prüfungsbedingungen konfrontiert, setzen sich zwangsläufig jene am stärksten durch, die von ihrer familiären und sozialen Herkunft her auf die Maßstäbe des schulischen Erfolgs am besten vorbereitet worden sind. Nach Maßgabe eines Schulsystems, das vorgeblich alle gleich behandelt und keine anderen Unterschiede als individuelle Leistungsdifferenzen kennt, ist somit in Wirklichkeit das Prinzip des Vorteils aufgrund sozialer Herkunft am Werk, das den Normen des Leistungsprinzips eigentlich diametral widerspricht.

Das Leistungsprinzip stellt in der modernen Gesellschaft zwar die zentrale Norm der Statusverteilung dar. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit jedoch, wie soziologische Untersuchungen immer wieder nachgewiesen haben, sind Herkunftsbedingungen und Vorteile, die nicht auf eigenen Leistungen beruhen, wesentliche Einflussfaktoren dafür, welchen Platz man in der sozialen Rangordnung einnehmen kann. In gesellschaftspolitischer Hinsicht repräsentiert das Leistungsprinzip aber dennoch keine reine Ideologie, die nur den Stärksten zum Vorteil gereicht. Dies hat mit dem grundlegenden Regelwerk zu tun, das dem Leistungsprinzip eigen ist. Im Unterschied zum Vorrang der reinen Herkunft, aber auch zur modernen Marktlogik der möglichst höchsten Gewinne begründet das Leistungsprinzip ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Anstrengungen sollen belohnt werden und die Belohnungen untereinander das Maß der jeweiligen Verdienste repräsentieren. Ob dies jemals Realität gewesen ist, ist gesellschaftlich letztlich nicht entscheidend. Wichtig ist vielmehr, dass mit dem Leistungsprinzip eine normative Richtschnur in die Verteilung des Reichtums eingezogen ist, die ansonsten vollständig dem nackten Durchsetzungskampf der jeweils mächtigsten Interessen überantwortet wäre.

Im allein meritokratischen Prinzip der sozialen Schichtung hatte das Bürgertum einst sein Arbeitsethos gegen die aristokratische Maßlosigkeit des reinen Genusses behauptet. Dies ist der Grund dafür, dass auch heute noch das Leistungsprinzip als einzig öffentlich rechtfertigungsfähiger Maßstab der Statusverteilung fungiert, über den die moderne Gesellschaft ihrem eigenen Selbstverständnis nach verfügt. Das Leistungsprinzip stellt mit anderen Worten einen zentralen normativen Bezugsrahmen dar, in dessen Deutungshorizont sich von der Arbeiterbewegung über den Feminismus bis hin zu den heutigen Forderungen nach Chancengerechtigkeit für Migranten Konflikte um die soziale und ökonomische Teilhabe entzünden   und sei es als Definitionskampf, was unter „Leistungen“ eigentlich zu verstehen sei.

Wirtschaftliche Einkünfte und soziale Platzierungen sind heute keinesfalls stärker als Wirkungen erbrachter Leistungen zu begreifen als dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. Tatsächlich haben wir es in unserer Gegenwart vielfach mit leistungslosen Erfolgen bei der oberen sozialen Platzierung zu tun, während anderseits untere Sozialgruppen nur geringe Chancen haben, Arbeitsleistungen zu erbringen, die ihnen einen selbständigen Lebensunterhalt sichern.

Versucht man, die Realität des Leistungsprinzips in unserer Gegenwart näher zu beschreiben, kommt man daher nicht umhin, sehr gegenläufige Entwicklungen zu konstatieren. Diese gegenläufigen Entwicklungen möchte ich auf die Formel bringen, dass wir paradoxerweise die Gleichzeitigkeit der Ausweitung und der Aushöhlung des Leistungsprinzips erleben. Beginnen wir mit der Ausweitung, so lässt sich feststellen, dass Leistungsmaßstäbe auch in gesellschaftliche Bereiche importiert werden, die zuvor nach den Prinzipien von Anrechten oder Bedürftigkeit organisiert worden sind. Die Sozialreformen der Gegenwart verwandeln „Leistung“ in eine Pflicht, die mit der Inanspruchnahme der öffentlichen Daseinsvorsorge einhergehen soll. Entkräftet sieht sich dadurch die Norm, dass es für die Sicherheit vor Existenzrisiken hauptsächlich auf den Bürgerstatus ankommen soll, und so wird das Bedürftigkeitsprinzip des Sozialstaats heute weitgehend als „leistungsfeindlich“ diskreditiert.

Hingegen sehen sich die Gewinner der modernen Marktökonomie und der wirtschaftlichen Globalisierung in der günstigen Lage, dass Leistungskategorien für den Erwerb ihrer Vorteile nicht verbindlich sind, die sich vor allem leistungsfernen Mechanismen verdanken, nämlich privilegierten Herkunftsbedingungen und den spekulativen Renditen des Finanzmarktkapitalismus. Gerade wirtschaftliche Spitzenkräfte neigen dazu, sich selbst den Status einer „Leistungselite“ zuzuschreiben, die ihre hervorgehobene Stellung allein den eigenen Qualifikationen verdankt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit hingegen sieht wesentlich nüchterner aus. Zwar gilt für Führungspositionen eine zunehmende Bildungsabhängigkeit. Dies kommt den Vorteilen einer privilegierten Herkunft aber gerade entgegen. So stellt sich die soziale Abschließung des wirtschaftlichen Spitzenpersonals heute wesentlich rigider dar als etwa in den Phasen kollektiver Aufstiegsprozesse in den 1950er bis 1980er Jahren. In der bedeutenden Rolle, die Erbschaften und andere Vermögensübertragungen für die moderne Lebensführung spielen, findet die Herkunft auch einen wichtigen finanziellen Niederschlag. Inmitten einer Kultur, die sich wie kaum je zuvor ausdrücklich als „leistungsorientiert“ versteht, nimmt somit faktisch das Geburtsprinzip eine entscheidende Weichenstellung für die Entwicklung von Lebenschancen vor.

Ein charakteristisches Merkmal der globalen Ökonomie ist überdies, dass die Finanzmärkte die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen. Börsenspekulationen, der Geldhandel und Aktiengeschäfte geben damit die wichtigsten ökonomischen Gewinnchancen vor. Von ihnen profitieren die Eigentümer von Anlagekapital, die mittlerweile eine eigene Klasse der Reichen und Superreichen bilden, sowie die wirtschaftlichen Eliten der Finanzdienstleister und des Top-Managements. Durch großzügige Jahresgehälter, durch das Bonussystem und durch Aktienoptionen haben sich die Einkünfte der Wirtschaftselite mittlerweile auch in Deutschland bis auf das Dreihundertfache gegenüber den Durchschnittseinkommen gesteigert.

An der Spitze der sozialen Hierarchie sprechen wir daher heute nicht ohne Grund von einer neuen Plutokratie, mithin einer Reichtumsherrschaft, die alle Regeln des Leistungsprinzips weit hinter sich lässt. Wir haben es hier mit einer Verteilungsordnung zu tun, die auf den Besitztiteln von Anlagekapital gründet und dadurch eine Sozialstruktur etabliert, die aus den Regeln einer bürgerlichen Leistungs- und Wettbewerbsordnung nicht mehr erklärbar ist.

Es ist daher kein Wunder, dass der heutige Finanzmarktkapitalismus das Leistungsprinzip als zentrale Bezugsnorm, durch die soziale Abstände gerechtfertigt werden sollen, soweit verfallen lässt, bis schließlich in der öffentlichen Wahrnehmung nur noch ein höchst brüchiger Zusammenhang zwischen erbrachten Leistungen und erhaltenem Wohlstand existiert. Die empirischen Studien hierzu sind Legion. Sie belegen seit der Jahrtausendwende in vielen europäischen Ländern einen drastischen Einbruch des Glaubens an die Gültigkeit des Leistungsprinzips. Die jüngste Umfrage in Deutschland hierzu hat im November 2011 die Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht, wonach zwei Drittel aller Deutschen der Auffassung sind, dass man für Leistungen nicht belohnt wird, und nicht daran glauben, dass alle Bürger die gleichen Aufstiegschancen haben.

Tatsächlich fehlen dem Leistungsprinzip im Finanzmarktkapitalismus elementare Voraussetzungen dafür, um als Rechtfertigung sozialer Ungleichheit wahrgenommen zu werden. Hiermit ist nicht der triviale Sachverhalt gemeint, dass die tatsächliche Verteilungsordnung moderner Gesellschaften schon immer das Leistungsprinzip verletzte. Was sich heute als Erosion des Leistungsprinzips eingestellt hat, betrifft vielmehr den Umstand, dass die Wohlstandsverteilung im Finanzmarktkapitalismus zunehmend gar nicht mehr als ein Anwendungsfall des Leistungsprinzips erscheint, insbesondere der Reichtumszuwachs in den Oberklassen gänzlich außerhalb des Leistungsprinzips steht. Zwei systematische Faktoren sind es, die hierbei eine Rolle spielen:

Im öffentlichen Verständnis davon, was als „Leistung“ bezeichnet und als Verdienst belohnt werden sollte, werden allein beabsichtigte Handlungen als „Leistungen“ wahrgenommen, während etwa zufällige Ereignisse im Verständnis der modernen Gesellschaft nicht dafür kandidieren, als Ergebnisse von Leistungen und als legitime Basis von Verdiensten zu gelten.

Die modernen Finanzmärkte haben aber genau eine solche ökonomische Kultur der Zufälligkeit etabliert, die der öffentlichen Wahrnehmung als Grenze dafür erscheint, dass der Leistungsbegriff hier überhaupt noch eine berechtigte Anwendung finden kann. Dies umso mehr, wenn man einen weiteren Faktor berücksichtigt, der als eine Voraussetzung dafür wirkt, von „Leistungen“ sprechen zu können. Denn in welchem Ausmaße auch immer das Leistungsprinzip in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verletzt werden mag, setzt es doch stets voraus, dass unterschiedliche Einkünfte sich überhaupt im Status der Vergleichbarkeit befinden und nicht, wie in vormodernen Zeiten, völlig unterschiedlichen Kategorien zugehören, die sich aufgrund ihrer gigantischen Differenzen und ihrer Wesensungleichheit gar nicht miteinander vergleichen lassen.

Die nachhaltige Verstörung des gesellschaftlichen Leistungsbewusstseins, die wir heute feststellen können, geht mithin maßgeblich darauf zurück, dass der Finanzmarktkapitalismus eine Verteilungsordnung wesensungleicher Einkommen schafft – mit einer verbreiteten Prekarisierung von Bevölkerungsschichten und einer Reichtumsoligarchie an der Spitze, deren extrem hohen Erträge der modernen Welt sozialer Ungleichheit gar nicht mehr anzugehören scheinen. Hier liegt die Rationalität dessen, dass die öffentliche Zeitkritik die Auswüchse einer derart verwilderten Ungleichheitsordnung mitunter als einen neuen „Feudalismus“ bezeichnet.

An eher vorbürgerliche Zeiten, in denen das Leistungsprinzip keinerlei Relevanz für die Sozialordnung besaß, erinnern auch andere Entwicklungen der sozialen Ungleichheit. Und so lässt sich als eine Art „Refeudalisierung“ bezeichnen, dass die Schichtzugehörigkeit heute wieder weitgehend auf dem Prozess der dauerhaften sozialen Vererbung des gesellschaftlichen Status beruht.

Vergleicht man etwa die Mobilitätschancen von Kindern von leitenden Angestellten mit jenen von ungelernten Arbeitern, so haben Kinder aus höheren Angestelltenfamilien eine über vierzigmal höhere Chance, selbst zur Führungskraft zu werden. Weniger als 1 Prozent der Bevölkerung aus einem Elternhaus, in dem der Vater ungelernter Arbeiter ist, schafft es, in eine leitende Angestelltenposition zu gelangen. Hingegen werden etwa zwei Drittel der Kinder aus Familien leitender Angestellter selbst wieder Führungskräfte. Hierin kommt zum Ausdruck, dass sich nicht nur in Deutschland ein drei Jahrzehnte währender Trend zur stärkeren sozialen Durchlässigkeit mittlerweile dauerhaft umgekehrt hat. Bis zu den Geburtsjahrgängen vor 1960 nimmt der Zusammenhang zwischen dem Elternhaus und der erreichten sozialen Position in der ost- wie westdeutschen Nachkriegsgeschichte ab, um sich nunmehr für die zwanzig Geburtsjahrgänge danach, deren soziale Platzierung bisher soziologisch untersucht worden ist, deutlich auszuprägen, in Ostdeutschland noch wesentlich stärker als in Westdeutschland und bei den Frauen noch steiler ansteigend als bei den Männern.

Dass die Schichtzugehörigkeit des eigenen Elternhauses heute wieder der alles entscheidende Faktor bei der gesellschaftlichen Verteilung von Lebenschancen ist, zeigt sich auch bei der ungünstigen sozialen Platzierung von Zuwanderern. Kinder ethnischer Gruppen, vor allem türkischer und italienischer Herkunft, haben deutlich geringere Bildungserfolge als deutsche Kinder. Diese ethnische Ungleichheit setzt sich auf den Arbeitsmärkten fort, wo Zuwanderer wesentlich seltener in qualifizierten Berufen tätig sind. Die Ursachen hierfür liegen aber nicht in einer ethnischen Diskriminierung, die sich jedenfalls im Schulsystem nicht nachweisen lässt (in der beruflichen Ausbildung ist dies anders), als vielmehr darin, dass Migranten insbesondere aus Süd- und Südosteuropa und aus der Türkei überdurchschnittlich häufig eben jenen unteren Sozialschichten mit niedrigen Bildungsabschlüssen angehören, die auch unter der deutschen Bevölkerung die geringsten Chancen haben. Treten bei Zuwanderern dann noch besondere Umstände hinzu wie die Abwertung von Bildungsabschlüssen im Aufnahmeland, mangelnde Sprachkenntnisse oder fehlende Netzwerke, verfestigt sich die untere soziale Platzierung in besonders nachhaltiger Weise. Wo hingegen Kinder mit Migrationshintergund einem mittleren Bildungs- und Einkommensmilieu entstammen, streben die betreffenden Elternhäuser höhere Bildungsabschlüsse als in der schichtgleichen deutschen Bevölkerung an, was wiederum unterstreicht, dass es in erster Linie die soziale Herkunft ist, die über Lebenschancen entscheidet.

Ob es die Pisa-Studien sind oder die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung: Sie zeigen eine Gesellschaft, in der Armut wie Privilegien von einer Generation auf die nächste weitergegeben werden, und die sich daher in einem offenen Prozess der Refeudalisierung von Lebenschancen befindet. Nicht offene Statuswettbewerbe und dynamische Übergänge bestimmen die Verteilung von Soziallagen, sondern die gleichsam archaischen Mechanismen von Einschluss und Ausschluss, drinnen und draußen.

Im Hinblick auf diese geschilderten Entwicklungen lässt sich die gegenwärtige Verfestigung und Vertiefung sozialer Ungleichheit nur sehr begrenzt durch das Leistungsprinzip und die Regeln der Chancengerechtigkeit legitimieren. Das Leistungsprinzip bleibt daher auch heute ein normativer Bezugsrahmen für die Ansprüche von Bevölkerungsgruppen auf gesellschaftliche und insbesondere wirtschaftliche Teilhabe. Es birgt ein Potential legitimer Kritik immer dann, wenn eine Gesellschaft die nützlichen Beiträge und Anstrengungen bestimmter Sozialgruppen missachtet.

 

Prof. Dr. Sighard Neckel ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Ungleichheit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zugleich ist er Mitglied der Leitung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS).  Zu seinen  Forschungsschwerpunkten gehören Symbolische Ordnungen sozialer Ungleichheit, Soziologie des Ökonomischen, kultureller Wandel moderner Marktgesellschaften, Emotionssoziologie, Theorie der Praxis, als auch Gesellschaftstheorie. Zu seinen Publikationen zählen „Negative Klassifikationen und ethnische Ungleichheit“ (2010), „Leistungsbilanzen. Ein Deutungsmuster verflüchtigt sich – und bleibt umkämpft“ (2010), „Die Millionenfürsten. Managergehälter und Leistungsprinzip“ (2007), sowie „Das Leistungsprinzip als Deutungsressource. Zur Rekonstruktion von gesellschaftlichem Bewertungswissen.“ (2006).

 

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Prof. Sighard Neckel (Frankfurt am Main) auf dem Podium; Bild: Stefan Röhl, Lizenz: CC-BY-SA

 

ÜBERBLICK

Leistung, die sich lohnt? Das Versprechen der Chancengerechtigkeit
Podiumsdiskussion Mo, 25.6.2012, 19 bis 21 Uhr (weiter)