Einheit und Differenz – Freiheit und Gewaltverzicht

Historische und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für den Religionsunterricht in Deutschland

von Klaus Eberl

Religionsunterricht hat in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrang. Im ersten Teil des Grundgesetzes, der vor schnellen Veränderungen besonders geschützt ist, heißt es in Art. 7 Abs. III: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.“ Gemäß der Verfassung gibt es also ein Interesse des Staates daran, dass die nachwachsenden Generationen in ihren jeweiligen Religionen unterrichtet werden. Deshalb hat er die Pflicht übernommen, ein solches Lehrfach auszurichten. Da außerdem durch die Bestimmungen zur Religionsfreiheit aus Art. 4 GG die religiösen Einstellungen der Bürger vor staatlichen Eingriffen geschützt werden, bleibt die inhaltliche Ausgestaltung des Religionsunterrichts den Religionsgemeinschaften vorbehalten. Allerdings wird ausdrücklich das staatliche Aufsichtsrecht angesprochen: diese Aufsicht bezieht sich zunächst auf organisatorische und institutionelle Bereiche, indirekt wirkt sie aber auch kontrollierend auf die Inhalte eines Religionsunterrichts, der ebenso wie die anderen Lehrfächer nicht offensiv zu einer Missachtung der Grundrechte anleiten darf.

Damit scheint zunächst alles Wesentliche gesagt, aber – wie bei Rechtssätzen nicht anders zu erwarten – formuliert dieser Absatz nur einen Rahmen, der sehr viel Raum für ganz unterschiedliche Auslegungen lässt. So wird gegenwärtig unter Juristen kontrovers darüber diskutiert, was der Ausdruck  „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religions¬gemein¬schaft“ genau meint:  muss ein Lehrer eine Lehrbefugnis von seiner Religionsgemeinschaft haben oder genügt eine staatliche Prüfung? Die Frage zielt mitten in einen Konflikt, der derzeit in der deutschen Gesellschaft offen und demokratisch ausgetragen wird und der auch andere europäische Länder bewegt: wie viel und in welcher Form darf ein rein staatliches Lehrfach über Religionen informieren oder unterrichten, ohne in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften einzugreifen? 

„Das Recht herrscht nur in Interpretation.“

Dass darüber kontrovers diskutiert werden kann, hat einen guten Grund: Das Grundgesetz verhilft nicht dadurch zur Stabilität des gesellschaftlichen Zusammenlebens, dass es ein immer gleich bleibendes Regelwerk fixiert, sondern dadurch, dass es einen Ausgangspunkt setzt für weiterführende Reflexionen. Josef Isensee hat dies 1997 einmal sehr prägnant ausgedrückt: „Im Grundgesetz unterwirft sich das deutsche Gemeinwesen der Herrschaft des Rechts. Doch das Recht herrscht nur in Interpretation.“  Diese Interpretation leistet das Bundesverfassungsgericht, das die Konflikterfahrungen aufnimmt, reflektiert und durch die Auslegungen der bestehenden Gesetze die Konflikte beilegt oder balanciert. Die Reflexionen finden ihren Ausdruck in den Entscheidungsformulierungen, die das Grundgesetz fortschreiben und den unterschiedlichen, sich auch verändernden Lebensbedingungen der Menschen anpassen.

In Deutschland wird die Diskussion um den Religionsunterricht besonders durch zwei Entwicklungen in der Gesellschaft angeregt. Zum einen hat die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands im Jahr 1990 die demographischen Strukturen vollständig verändert: Viele Menschen im Osten Deutschlands lebten Jahrzehnte lang ohne Religion und sie haben die Religion auch nicht vermisst; sie zeigen, dass man für die Moral und für das Glück nicht unbedingt eine Religion benötigt. Zum anderen sind aus den Menschen, die zuerst als Gäste nach Deutschland zugewandert waren, inzwischen Mitbürger geworden; viele von ihnen, die schon in dritter Generation in Deutschland leben, wollen eine Wertschätzung als Teil der Gesellschaft erfahren, ohne ihre religiösen oder kulturellen Prägungen verleugnen zu müssen. In den letzten 15 Jahren hat so die Pluralisierung der Gesellschaft zugenommen und diese Veränderung will bewältigt werden – auch in der Frage des Religionsunterrichts.

Hinter der Debatte um den Religionsunterricht steht dabei ein grundsätzlicheres Thema, nämlich die Religionsfreiheit: was bedeutet es eigentlich für das gesellschaftliche Zusammenleben, wenn Religionsfreiheit als ein Bürger- oder Menschenrecht eingesetzt ist und durch die staatlichen Organe geschützt werden soll? In den Seminaren zur Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer verwende ich häufig ein Gedankenexperiment, um eine erste Antwort auf diese Frage im unmittelbaren Erfahrungskontext der Schule anzusiedeln, und zwar Folgendes: Stellen Sie sich vor, das Tragen einer Schuluniform wird in einer sehr detaillierten Verordnung festgelegt; diese enthält eine genaue Vorschrift, aus welchen Materialien die Kleidung bestehen darf, welche Farben und Schnittmuster verwendet werden dürfen und anderes mehr; dann gibt es noch einen weiteren Absatz, der lautet: ‚Eine Krawatte oder ein Halstuch dürfen frei gewählt werden.‘ Es ist sicher nicht schwer auszudenken, wie eine solche Freistellung im System der Schule wirken würde. Jeder Einzelne hätte in der freien Wahl der Accessoires die Möglichkeit sich selbst auszudrücken, sich von anderen zu unterscheiden und zu zeigen, ob er sich einer bestimmten Gruppe verbunden fühlt. Da es auch erlaubt wäre, weder eine Krawatte noch ein Halstuch anzulegen, wären die Schüler ohne ein solches Kleidungstück genauso Mitglieder der Schulgemeinschaft wie alle anderen. Wer die Schuluniform trägt, zeigt, dass er zur Gemeinschaft insgesamt gehört, und mit der Wahl der Krawatte markiert er seinen Ort innerhalb dieser Gemeinschaft.

Säkularisierung und Pluralisierung – zwei Seiten der Religionsfreiheit

Dieses Gedankenexperiment gibt eine erste Ahnung davon, welche Bedeutung die rechtlich garantierte Religionsfreiheit in einer Gesellschaft entfalten kann. Sie erlaubt zunächst einmal, dass man sich von der Religion, in der man aufgewachsen ist, trennt und sein weiteres Leben ohne sie führt. Diese Seite der Religionsfreiheit hat im 19. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung viele Menschen in Deutschland und in anderen Ländern veranlasst anzunehmen, dass die Religion nicht nur im privaten Leben vieler Einzelner an Bedeutung verliert sondern auch im öffentlichen Leben der Gesellschaft. Die These von der „Säkularisierung“ und der „Entzauberung der Welt“ war vor allem unter Gelehrten  verbreitet, die das Verschwinden der Religionen beinahe wie eine gesetzmäßige Entwicklung vorhersagten. Diese Säkularisierungsthese wird angesichts der sogenannten „Wiederkehr der Religionen“ gegenwärtig angezweifelt und revidiert.

Mit der „Wiederkehr“ ist jedoch nur die andere Seite der Religionsfreiheit angesprochen, die lange Zeit unterschätzt worden war. Tatsächlich zeigt sich nämlich seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland und in anderen Ländern, dass die Religionen nicht allmählich verschwinden, sondern – im Gegenteil – dass sie sich rasant vermehren. Es entstehen viele neue Religionsgemeinschaften, entweder indem sich Gruppen aus den traditionellen Religionen herauslösen und eigene Gemeinschaften bilden oder indem durch Migrationsbewegungen fremde Religionen in einer sich pluralisierenden Gesellschaft Aufnahme finden. Die Religionsfreiheit wirkt auch als Anregung dazu, sich in seiner Religion und durch sie auszudrücken, etwa durch Konversion, durch die Entwicklung neuer religiöser Bewegungen oder durch den Wunsch, dass die eigene Religion und jeder Einzelne mit seiner Religion im öffentlichen Raum und damit in der Gesellschaft Anerkennung findet. Während also die vordergründige Säkularisierungsthese zunehmend als Fehleinschätzung erkennbar wird, gewinnt die bewusste Einstellung zur eigenen Religion immer mehr Aufmerksamkeit, gerade weil die Religionsfreiheit ein vom Staat geschütztes Rechtsgut ist.

Diese Verschiebung der Perspektive von der negativen zur positiven Religionsfreiheit wird durch die genannten gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre nicht nur angeregt sondern auch eingefordert. In den Debatten und Auseinandersetzungen um die Religionen und den Religionsunterricht geht es letztlich um die Frage, wie unter den Bedingungen der Religionsfreiheit das Zusammenleben in der Gesellschaft gelingen kann. Die Reflexionen darüber sind gegenwärtig noch nicht zu einem Abschluss gelangt, aber es gibt einen erkennbaren Diskussionsstand, der auch in einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes seinen Niederschlag gefunden hat.

Diese aktuellen Entscheidungen zur Religionsfreiheit halten nicht nur die derzeitigen Reflexionen zur strittigen Thematik fest, sondern sie haben ihr Fundament in früheren Überlegungen, die in vorherigen juristischen Texten aufbewahrt sind wie dem Grundgesetz oder der Menschenrechtserklärung. Die Interpretation durch das Verfassungsgericht nimmt diese Reflexionen auf und führt sie weiter. Zum genaueren Verständnis der gegenwärtigen Situation ist es deshalb hilfreich, wenn wenigsten im Umriss die historischen Erfahrungen in Erinnerung gebracht werden, die bis heute mit der Idee der Religionsfreiheit verbunden sind.

‚cuius regio, eius religio‘ – Einheit und/oder Differenz durch Religion?

Grundlegend für die Entwicklung zur Religionsfreiheit war insbesondere in Deutschland und den Nachbarländern die Erfahrung der Kriege im Anschluss an die Reformation im 16. Jahrhundert und des verheerenden dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert. Diese kriegerische Gewalt, die zeitweise jegliche Ordnung außer Kraft setzte und den Menschen beinahe keine Überlebenschancen mehr ließ, hatte sicher verschiedene Ursachen: ökonomische, politische und militärische. Ein Moment des Konflikts war auch die konfessionelle Spaltung in Folge der Reformation. Erst ein Kompromiss in den religiösen Angelegenheiten hat  schließlich ein Instrument dafür bereit gestellt, um die Konfliktlage so weit zu entschärfen, dass eine politische Ordnung wieder möglich wurde. Die Regelung, zu der man fand, kommt dicht und unmittelbar in der Formel zum Ausdruck: cuius regio, eius religio / wessen Gebiet, dessen Religion. Damit wurde eine rechtsverbindliche Situation hergestellt, die einen Rahmen für die Religion setzt, die also nicht mehr zulässt, dass von der Religion ausgehend Recht gesetzt wird.

Die Formel hat verschiedene Bedeutungsebenen, die allmählich und immer deutlicher in das neuzeitliche Verständnis von Religion Eingang gefunden haben. Besonders wichtig ist dabei die scheinbar paradoxe Verbindung von Einheit und Differenz: Die Religion wird auf der einen Seite anerkannt als eine Institution, die die Einheit eines Staates hervorbringt und bestätigt, und auf der anderen Seite wird zugelassen, dass durch die Religion Unterschiede zum Ausdruck gebracht werden. Um der Gewalt ein Ende zu setzen, hat man darauf verzichtet, das eine katholische Christentum als die gemeinsame Klammer des ganzen Reiches durchzusetzen, und statt dessen gebilligt, dass sich auf der Grundlage der jeweiligen Konfession eines Landesherren verschiedene staatliche Einheiten bilden. Dies konnte nur deshalb gelingen, weil mit der Verwendung des Begriffes der „Religion“ die theologische Wahrheitsfrage aus der rechtsverbindlichen Entscheidung ausgeklammert wurde. „Religion“ bezeichnet nämlich in dieser Zeit nach antik-römischer Tradition die Verehrungspraxis und nicht die Glaubenswahrheit. Zur Selbstbezeichnung wurde im Christentum eher der Ausdruck fides/Glaube verwendet. In die Zuständigkeit der Landesherren fällt deshalb nur die Ordnung der Praxis und nicht der Einfluss auf die inneren Einstellungen der Menschen. Das genau ist die Gegenleistung dafür, dass sich die Religionen dem Recht unterordnen lassen: Die Rechtsträger dürfen nicht in die inneren Glaubensvorstellungen der Religionen eingreifen; dafür enthalten sich die Träger der Religion jeglicher Gewalt, um ihre Wahrheit bei den Menschen durchzusetzen.

Religionsfreiheit und Gewaltverzicht - das Recht herrscht, nicht die Religion

Aus der Pflicht zur Zurückhaltung vor den inneren Angelegenheiten der Religionen entsteht im weiteren geschichtlichen Verlauf der Toleranzgedanke.  Wenn ein Landesherr aus welchen Gründen auch immer zulassen will, dass Menschen mit anderen Konfessionen oder Religionen im Lande verbleiben oder in das Land zuwandern dürfen, kann er „Toleranz“ anordnen und zusagen. Das meint zunächst nur, dass diese Menschen ausgehalten und ertragen werden sollen. Diese Form der Toleranz führt aber schließlich von der Friedensformel weiter zur Idee der Religionsfreiheit. Denn es zeigt sich, dass die Bevölkerung eines Landes in diesem Fall nicht mehr durch ihre Religion oder Konfession zu einer Einheit verbunden ist. Die Religion wird vielmehr als eine differenzierende Einrichtung im Inneren eines Landes zugelassen. Der aufgeklärte absolutistische Monarch im 18. Jahrhundert wie Friedrich II. von Preußen benötigt keine Religion mehr als Bindemittel für die Einheit des Staates, er beruft sich auf die Vernunft, die unabhängig von jeder Religion als allgemeinmenschliche Naturanlage verstanden wird. Die Religion, die mit der Friedensformel innerhalb des Rahmens der Rechtsordnung verortet worden ist, wird nun auch „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ angesiedelt, wie es Immanuel Kant ausgedrückt hat. Und wie die Rechtsordnung davon Abstand genommen hatte, in die inneren Angelegenheiten einer Religion einzugreifen, so wird jetzt auch der Anspruch erhoben, dass die inneren Beweggründe einer Religion, der „Glaube“, mit der „bloßen Vernunft“ gar nicht erfasst werden können.

Einheit und Differenz sowie Freiheit der inneren Einstellung und Gewaltverzicht, das sind die Reflexionsbestände, die im Religionsbegriff aufbewahrt sind, wenn am Ende des 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich die Religionsfreiheit erstmals in verfassungsmäßigen Grundrechten verankert wird. Damit verbindet sich die Erwartung, dass das zerstörerische Konfliktpotential, das – wie die Erfahrung gezeigt hat – mit den Religionen einhergehen kann, reduziert und nach Möglichkeit sogar ausgeschaltet wird. Aber gelingt dies wirklich? In Deutschland äußert im Jahr 1843 Karl Marx seine Bedenken in aufschlussreicher Form. In einer Analyse der amerikanischen Religionsfreiheit schreibt er: „Der Mensch emanzipiert sich politisch von der Religion, indem er sie aus dem öffentlichen Recht in das Privatrecht verbannt. Sie ist nicht mehr der Geist des Staats, wo der Mensch – wenn auch in beschränkter Weise, unter besonderer Form und in einer besondern Sphäre – sich als Gattungswesen verhält, in Gemeinschaft mit andern Menschen, sie ist zum Geist der bürgerlichen Gesellschaft geworden, der Sphäre des Egoismus, des bellum omnium contra omnes. Sie ist nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des Unterschieds.“

Religion als „Wesen des Unterschieds“ – woher kommt die Einheit?

In diesem kurzen Abschnitt lassen sich zwar die genannten Reflexionsbestände  wiederfinden, allerdings nicht verbunden mit der positiven Erwartung, dass über die Religionsfreiheit Konflikte beigelegt werde könnten. Im Gegenteil, Marx nimmt an, dass die Religion nur noch als „Wesen des Unterschieds“ in Erscheinung tritt und damit die Tendenz hat, die gesellschaftliche Einheit vielleicht sogar gewaltsam zu zerstören. Marx sieht genau, dass die Freiheitsgarantie für die innere Einstellung und Haltung jedes einzelnen Bürgers zu einer Differenzierung und Pluralisierung führen wird, und er argwöhnt, dass die Gegenleistung, nämlich der Verzicht auf Gewalt, wohl nicht erbracht werden wird. Deshalb verhindert nach seiner Ansicht die Religionsfreiheit am Ende eine Einigung der Gesellschaft.

Nicht nur Karl Marx befürchtete eine solche Entwicklung. Von hier erklärt sich zum einen die theoretische Fehleinschätzung, dass die Religionsfreiheit zur Säkularisierung im Sinne eines zunehmenden Verschwindens der Religion führen werde. Diese These entsprang angesichts der Furcht vor einem „Krieg aller gegen alle“ wohl eher einem Wunschdenken als einer empirischen Beobachtung. Die Einheit des Staates schien besser ohne die Religionen zu gelingen, oder wenn schon mit Religion, dann mit einer, die der Staat in seinen Dienst genommen hat. Zum anderen stellte sich die drängende politische Frage, was denn eigentlich das „Wesen der Gemeinschaft“ sein kann, wenn die Religion diese Bedeutung nicht mehr hat. Die Antwort darauf war in Deutschland und Europa die Idee der Nation und des Nationalstaates. Die nationale Einheit soll die religiöse Einheit ersetzen, und nicht zufällig entwickelt die „Nation“ als ideelle Einrichtung dann ersatzweise auch Ausdrucksformen einer Zivilreligion. Besonders in Deutschland hat sich mit dem Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert allerdings gezeigt, dass die Idee einer Einheit der Nation in eine Extremform übergehen kann. Hier ist ein Staat entstanden, der das vermeintliche Konfliktpotential, das den Religionen unterstellt wird, dazu nutzte, sich selbst die Legitimation dafür zu geben, mit einer nicht mehr kontrollierbaren Gewalt die Religionen zu unterdrücken oder sogar zu vernichten. Mit dieser neuerlichen Erfahrung eines furchtbaren Gewaltexzesses im Hintergrund wurde im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 wieder die Religionsfreiheit rechtlich abgesichert.

Religionsunterricht als Reflexionsort für vorpolitische Quellen der Menschenwürde

Darüberhinaus ist diese Erfahrung einer nicht kontrollierbaren Gewalt auch der Anlass dafür gewesen, den Religionsunterricht in der zitierten Form in die Verfassung aufzunehmen. Die ersten Entwürfe zum Grundgesetz hatten ein solches konkretes Grundrecht noch nicht vorgesehen. Erst die Intervention der christlichen Kirchen führte zur Formulierung und Verabschiedung des Artikels 7. Die Motivation dafür wurde aus der 1948 verabschiedeten Menschenrechtserklärung der vereinten Nationen hergeleitet: Die Verfassung soll die Möglichkeit bereitstellen, den Staat in Zukunft daran zu hindern, dass er sein Gewaltmonopol unkontrolliert ausüben kann; deshalb soll die Menschenwürde als ein vorstaatliches Grundrecht erkennbar werden, das geeignet ist, die Macht der staatlichen Exekutive zu begrenzen. Da die innere Bedeutung der Religionen inzwischen schon lange als etwas anerkannt wurde, dessen sich der Staat nicht bemächtigen kann, schien es naheliegend, die Religionen auch als diejenigen Institutionen festzuschreiben, die die Legitimität der vorstaatlichen Menschenwürde bedenken und in einem Religionsunterricht den nachwachsenden Generationen vermitteln. Der Religionsunterricht soll also dazu helfen, dass im Bewusstsein der Mitglieder der Gesellschaft die Aufmerksamkeit dafür lebendig bleibt, dass der Staat nicht wieder allmächtig und gewalttätig werden darf, oder anders ausgedrückt, dass der Staat für die Menschen da ist und nicht die Menschen für den Staat.

Erst etwa 20 Jahre später hat Ernst-Wolfgang Böckenförde dieses Konzept theoretisch analysiert und beschrieben. Seine Formulierung ist seither immer wieder Ausgangspunkt für weitere Diskussionen geworden: „Der säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

Böckenförde macht in seiner Überlegung nicht nur darauf aufmerksam, dass die vorrechtliche Freiheit und Würde des Menschen der Autorität und dem Zwangshandeln des Staates eine Grenze setzt, sondern er betont auch die Kehrseite dieses Zusammenhangs: Eine rechtsstaatliche Ordnung kann letztlich nur gelingen, wenn eine Mehrheit der Bürger sie auch will. Nach seiner Ansicht gibt es zwei Grundlagen für ein solches Interesse: die „moralische Substanz des Einzelnen“ und die „Homogenität der Gesellschaft“. Beides entsteht nicht naturwüchsig sondern nur in Prozessen der Sozialisation. Dafür können deshalb die Religion und der Religionsunterricht einstehen, die zur Ausbildung von Werthaltungen bei jedem Einzelnen einen wichtigen Beitrag leisten. Wie der Ausdruck „Homogenität“ bei Böckenförde erkennen lässt, knüpft er jedoch wieder bei der traditionellen Vorstellung an, dass es für die gesellschaftliche Einheit eine verbindende Klammer geben müsse, die die Menschen nicht nur äußerlich umfasst sondern auch innerlich angleicht.  Wenn eine solche innere Homogenität mit Hilfe der Religion erhalten werden soll, müsste in Deutschland folgerichtig das Christentum privilegiert werden. Angesichts der seit Jahren zunehmenden Pluralisierung, zu der die Religionen dadurch beitragen, dass sie Unterschiede zum Ausdruck bringen und dass sie vielleicht Gruppen aber nicht die Gesamtgesellschaft zu einer Einheit verbinden, ist das Böckenförde-Diktum inzwischen vielfach kritisiert worden. Immer deutlicher stellt sich daher die Frage: Ist als „Wesen der Gemeinschaft“ – um mit Marx zu sprechen – nur eine gemeinsame Kultur oder Religion vorstellbar, oder kann es auch etwas anderes sein?

Tatsächlich ist die Struktur, dass ein Staat auf Voraussetzungen angewiesen ist, die er nicht erzwingen kann, keine Besonderheit des säkularen Staates, sondern dasselbe gilt für jedes echte legitime Herrschaftsverhältnis, wie Max Weber schon am Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt hat. Die Motivation dazu, dass die Bürger den Staat wollen, entsteht im Allgemeinen daraus, dass sie Erfahrungen der Gerechtigkeit und des Wohlergehens machen, und solche Erfahrungen können aus ganz unterschiedlichen Quellen bezogen werden. In den jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, die sich dem fortschreitenden religiös-weltanschaulichen Pluralismus gegenüber offen zeigen, wird inzwischen auch eine neue Vorstellung davon entwickelt, was das „Wesen der Gemeinschaft“ in einem demokratisch verfassten und pluralistischen Staat sein sollte.

„Das Lebenselement der Demokratie ist die freie geistige Auseinandersetzung.“

In einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2000 heißt es: „Das Grundgesetz richtet an seine Bürger die Erwartung, dass sie die ihnen eröffneten Möglichkeiten demokratischer Mitwirkung auch wahrnehmen. Es hat aber aus guten Gründen davon abgesehen, diese vorrechtliche Verantwortung zu einer Rechtspflicht auszugestalten. Denn das Einverständnis der Bürger mit der vom Grundgesetz geschaffenen Staatsordnung, ohne die die freiheitliche Demokratie nicht leben könnte, lässt sich nicht durch eine Verpflichtung zum Gehorsam oder gar durch Sanktionen erzwingen. Das Lebenselement der Demokratie ist die freie geistige Auseinandersetzung. Sie schafft die motivierenden Kräfte, die die Bereitschaft der Bürger zur Teilnahme an den demokratischen Wahlen hinreichend, wahrscheinlich sogar besser gewährleisten.“

Als das Gemeinsame, das die gesellschaftliche Einheit entstehen lässt, hat sich demnach die Vorstellung von einer „freien geistigen Auseinandersetzung“ herausgebildet, an der teilzunehmen jeder die Chance haben muss. Die Differenzen in der Gesellschaft, zu denen auch die Religionen beitragen, können also als etwas Positives erfahren werden, wenn sie nicht in den Krieg aller gegen alle führen sondern in eine geistige Auseinandersetzung. Dabei besteht die Erwartung, dass solche Diskussionsprozesse letztlich auf das in einer gegebenen Situation gemeinsame Beste hinführen. Nur der unausgesprochene oder erklärte Gewaltverzicht und ein allgemeiner Respekt vor der Würde jedes Menschen sind die Bedingung für eine solche freiheitliche Ordnung. In allen anderen Hinsichten erfahren die Religionen keine Beschränkungen ihrer internen Prinzipien und Vorstellungen. Im Gegenteil, mit ihren je besonderen Sichtweisen können sie in den Auseinandersetzungen zur Erweiterung des Horizonts und zur Belebung der Diskussion beitragen.

Jürgen Habermas hat im Jahr 2004 diese juristische Anpassung der Verfassung an die veränderten Verhältnisse in die philosophische Reflexion übernommen, er formuliert es in folgender Weise: „Die Motive für eine Teilnahme der Bürger an der politischen Meinungs- und Willensbildung zehren gewissermaßen von ethischen Lebensentwürfen und kulturellen Lebensformen. [...] Das vermisste „einigende Band“ ist ein demokratischer Prozess, in dem letztlich das richtige Verständnis der Verfassung zur Diskussion steht.“ Indem Habermas die Reflexionen des Bundesverfassungsgerichts aufnimmt und öffentlich weiterführt, zeigt er, dass die Ausdeutung des Grundgesetzes durch die Verfassungsrichter mit dem Ziel, eine neue Regelung zu formulieren, die das Nebeneinander von Einheit und Differenz zu balancieren im Stande ist, rechtsphilosophisch plausibel ist und in der gesellschaftlichen Praxis Gestalt annehmen kann. Darüberhinaus macht Habermas auch deutlich, dass als Grundlage für die innere Einstellung der Bürger nicht mehr nur die Religionen zur Verfügung stehen, sondern dass kulturellen Prägungen und säkularen Weltanschauungen eine vergleichbare Bedeutung zugestanden werden muss. Unterschiede können auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht werden, nicht nur durch religiöse Einstellungen, und verfassungsrechtlich werden entsprechend Weltanschauungen schon seit langem analog zu den Religionen behandelt, d.h. unter dem Vorbehalt des Gewaltverzichts gilt das Grundrecht der Religionsfreiheit auch für Weltanschauungen. Innere Einstellungen wie ein Glaube oder eine Gewissenshaltung sind vor Zugriffen des Staates geschützt.

Exklusivität und Integration – zwei verschiedene Unterrichtskonzepte für zwei verschiedene Zielstellungen

Die verfassungsrechtlich bestätigte Veränderung im Konzept der gesellschaftlichen Einheit hat nun wichtige Folgen für den Religionsunterricht. Solange man davon ausgehen konnte, dass sowohl die „moralische Substanz des Einzelnen“ als auch die Voraussetzungen für die „Homogenität der Gesellschaft“ in einem christlichen Religionsunterricht vermittelt werden können, war die Regelung aus Art. 7 Abs.3 GG von 1949 einfach und unstrittig. Durch die veränderte gesellschaftliche Situation wird nun jedoch auch eine Veränderung der Stellung des Religionsunterrichts eingefordert.

Unbestritten ist dabei, dass die Erziehung oder Förderung junger Menschen zu einem Bewusstsein von ihrer vorrechtlichen Verantwortung zu einem wichtigen Teil von einem Religions- oder Weltanschauungsunterricht geleistet wird, die die „ethischen Lebensentwürfe“, „kulturellen Lebensformen“ und religiösen Glaubenshaltungen vor jedem staatlichen Zwang vermitteln können. Entsprechend steht die Beibehaltung des traditionellen Religionsunterrichts nicht in Frage. Allerdings führt die Pluralisierung dazu, dass immer mehr verschiedene Weltanschauungen und Religionen ihr verfassungsgemäßes Recht auf einen eigenen Unterricht einfordern können. Dadurch entstehen folgerichtig neue Probleme. Einerseits gibt es organisatorische Schwierigkeiten: auf wie viele Religionsunterrichte soll man einen Klassenverband aufteilen? Wie viele Schüler sind die Mindestanzahl für einen sinnvollen Unterricht? Auch der von der Verfassung garantierte Religionsunterricht steht deshalb unter dem Vorbehalt der Angemessenheit. Andererseits entsteht eine konzeptionelle Schwierigkeit: Die Differenzierung in die unterschiedlichen Weltanschauungen, Religionen und Konfessionen führt dazu, dass die positive Seite der Unterscheidung zwar sehr viel Raum erhält, aber der Aspekt der Einheit wird dabei vernachlässigt. Dazu kommt, dass das „Wesen der Gemeinschaft“ nicht mehr in einer einheitlichen Kultur oder Religion gesucht wird, sondern – mit den Worten des Verfassungsgerichts – in der „freien geistigen Auseinandersetzung“. Diese findet nun gerade besonders zwischen den Religionen und Weltanschauungen statt. Darum ist es auch eine vordringliche Aufgabe der Schule, die Heranwachsenden zu dieser Form der Auseinandersetzung zu befähigen. In Deutschland wird deshalb schon seit vielen Jahren darüber nachgedacht, in welcher Form das geschehen kann. Da die Bundesrepublik Deutschland ein föderales System ist und Bildung eine Angelegenheit der Bundesländer, gibt es unterschiedliche Konzepte für ein solches Unterrichtsfach, die sich auch an den soziologischen und demographischen Bedingungen der jeweiligen Region orientieren. Deutlich ist überall die Tendenz zu einem verbindenden und integrativen Unterricht, der eine andere Zielstellung hat als ein jeweiliger exklusiver Religions- oder Weltanschauungsunterricht.

Dass auch ein solcher verbindender Unterricht verfassungskonform ist, wird inzwischen nicht mehr bezweifelt. Kontroverse Diskussionen gibt es jedoch darüber, in welcher Weise die Religionen in einem solchen Unterricht thematisiert werden dürfen, ohne dass ihr Selbstbestimmungsrecht verletzt wird. Denn natürlich müssen, wenn die freie geistige Auseinandersetzung eingeübt werden soll, die religiösen Positionen, die an dieser Auseinandersetzung teilnehmen, auch ein Thema sein, über das Menschen sprechen dürfen, die sich gerade nicht zu einer jeweiligen Religion dazurechnen, die also von Außen auf eine Religion schauen und möglicherweise selbst eine ganz andere Einstellung haben.

Darüber wird – wie gesagt – derzeit noch lebhaft diskutiert, aber in einer Entscheidung aus dem Jahr 1995 hat auch dazu das Bundesverfassungsgericht schon einige Rahmenbedingungen festgehalten. Demnach darf ein neutral unterrichtender Lehrer grundsätzlich die Religionen thematisieren, da von ihnen ja kulturelle Prägungen ausgehen, die in der allgemeinen Umwelt gegenwärtig sind. Er soll jedoch nicht missionieren oder Ausgrenzungen zulassen. Stattdessen soll er nach Möglichkeit zu einer „friedlichen Koexistenz“ hinführen, und das kann heißen, dass „diskriminierende Abwertungen“  vermieden werden sollen und dass dem Prinzip der Toleranz ein besonderer Raum zu geben ist.

Toleranz und Respekt in der freien geistigen Auseinandersetzung – Gesellschaftliche Einheit, die aus der Verschiedenheit lebt

Diese beiden letzten Aspekte sind offenbar notwendige Bedingungen für ein neutrales Unterrichtsfach, in dem die Religionen Thema sein dürfen, ohne dass das Selbstbestimmungsrecht der Religionen verletzt wird. Ganz im Vordergrund steht hier die Toleranz, die allerdings nicht mehr wie im 18. Jahrhundert nur das Ertragen und Aushalten meint, sondern eine Toleranz, die mit Respekt verbunden ist. Toleranz verbunden mit Respekt ist in der pluralistischen Gesellschaft geradezu die Haltung, die die innere Homogenität gewährleisten kann, sie ist das neue „Wesen der Gemeinschaft“, das die Einheit bei fortbestehender Differenz bewirken kann. Dazu gehört dann die weitere Aufgabe für eine neutrale Lehrerin oder einen neutralen Lehrer, nämlich dass sie sich bemühen, die Beiträge der Religionen und Weltanschauungen zur freien geistigen Auseinandersetzung ernst zu nehmen. Konkret heißt das, dass sie ein gegenseitiges Verstehen fördert, indem sie entsprechende Übersetzungsleistungen initiieren.

Der gegenwärtige Stand der Reflexionen über Religion und Religionsunterricht in Deutschland legt also nahe, dass es zwei Arten des Unterrichts an der Schule geben sollte, die die Religionen und Weltanschauungen thematisieren: einmal den Religionsunterricht, der von den Religionsgemeinschaften selbst verantwortet wird und damit die reale Differenzierung der Gesellschaft in je eigenen Räumen positiv bestätigt, und zum anderen einen verbindenden Unterricht, der durch die Förderung des Gesprächs zwischen den unterschiedlichen Einstellungen die positive Bedeutung der Verschiedenheit für das gemeinsame Ganze erfahrbar werden lässt. Wie die beiden Arten des Unterrichts zueinander stehen und miteinander auskommen, werden die Erfahrungen in der Praxis zeigen und die daran anschließenden Reflexionen.

  
Der Text ist die geringfügig überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 7. Nov. 2008 im Rahmen einer Tagung des Goethe-Instituts und der Bilgi-Universität Istanbul gehalten wurde. Nachweise und ein ausführlicher Anmerkungsapparat stehen in der vollständigen Version zur Verfügung. Download Bild entfernt.

   

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Klaus Eberl ist Religionswissenschaftler und als Dozent in den Ausbildungsgängen für Ethik-, LER- und Lebenskunde- lehrerInnen an der FU Berlin.