Was ist Europa und wer ist europäisch? Das sind Fragen, die sich immer weniger eindeutig beantworten lassen – nicht nur, aber auch weil der Wahrheitsgehalt und die Überzeugungskraft eurozentristischer Konzepte und Kategorien zunehmend schwindet. Europa und Europäisch-Sein befinden sich in einem historischen Prozess der Selbstauflösung und sind weniger denn je als monolithische Gestalten zu denken. Yoko Tawada hat in ihren grandiosen literarischen Essay „Talisman“ (1996) behauptet, dass Europa eigentlich eine Erfindung sei – das aber dürfe man nicht sagen. Damals vielleicht nicht, heute schon eher und in der Zukunft dürfte es noch schwerer werden diese Erkenntnis zu unterdrücken.
Grenzverschiebungen und ihre Folgen
Europa und Asien sind nicht so weit von einander entfernt oder gegensätzlich, wie sie in der gesellschaftlichen Konvention erscheinen. Tatsächlich sind sie keine klar voneinander abgetrennten oder abtrennbaren kulturell-geografischen Entitäten. Bisher sind alle Versuche, einen eindeutigen und nicht willkürlichen Grenzverlauf zwischen Europa und Asien zu definieren, ausnahmslos gescheitert. Im Verlauf der langen wie wechselvollen Geschichte dieser Grenzimaginationen wurden nicht weniger als zehn verschiedene Grenzlinien, die eine unüberschaubare Zahl von Kombinationsmöglichkeiten zur Folge haben, mit sich widersprechenden Begründungen gezogen. Aber auch sie konnten an der Tatsache nichts ändern, dass keine natürlichen, sondern nur politisch und kulturell konstruierte Grenzen im Sinne von „making boundaries“ existieren. Welche weitreichenden Widersprüche und Verschiebungen sich daraus ergeben, lässt sich an diesem kleinem Beispiel illustrieren: Abhängig von der jeweils geltenden Definitionshoheit stellt nicht der mitteleuropäische Mont Blanc, sondern der im Kaukasus gelegene Elbrus das Dach des europäischen Hauses dar, der seinen alpinen Konkurrenten – wie eine Reihe anderer Nachbargipfeln – erheblich überragt. Das heißt auch, je nachdem wie die innereurasische Grenze bestimmt wird, würde der bisher als majestätisch geltende Mont Blanc in die europäische Mittelmäßigkeit zurückfallen.
Ebenso wenig sollte vergessen werden, dass – in größeren Zusammenhängen betrachtet – Asien und Europa seit etwa 250 Millionen Jahre die größte zusammenhängende Landmasse der Erde bilden. Daher werden sie in Südamerika, aber auch in Osteuropa als Großregionen eines Kontinents mit dem Hybridnamen „Eurasien“ angesehen. Wie dieser geologisch-geografische Begriff es nahelegt, können sie als ein ineinanderfließender Supra-Kulturraum begriffen werden, der seit Jahrtausenden durch Handel, Migration, Kulturaustausch, gemeinsame politische Systeme, aber auch Konflikt und gegenseitige Vertreibung miteinander verbunden ist. In dieser historischen Langezeit- wie Querschnittperspektive stellt sich Eurasien somit als ein zusammenhängendes und bewegliches Spektrum eng miteinander verknüpfter sowie sich überlappender regionaler Kulturräume dar.
Postmigrantische Perspektiven auf asiatisch-deutsche Diaspora
So gesehen sind multidirektionale Migrationsprozesse zwischen Asien und Europa kein Novum, sondern Bestandteil der historischen Normalität. Obwohl Migrant_innen und Deutsche mit asiatischen Hintergründen in diesem Land eine lange, weit über das 20. Jahrhundert hinausreichende Geschichte aufweisen, werden asiatisch markierte Menschen in der Regel von der Weißen Mehrheitsgesellschaft als unzugehörige und exotische Fremde wahrgenommen. Obwohl Deutschland sich in letzten Jahren offiziell als „Zuwanderungsland“ definiert und die Diskussion über gesellschaftliche Diversität und interkulturelle Öffnung der Institution erstmalig auf breiterer politischer wie wissenschaftlicher Basis geführt wird, hat sich die alte rassistische Norm, die „asiatisch“ aussehende Menschen als „Ausländer_innen“ aus der Weißen Nation ausschließt, als ausgesprochen robust erwiesen.
Auch in der Gegenwart werden als „asiatisch“ Wahrgenommene unabhängig von Geburtsort, kulturellen Kompetenzen, Selbstidentifikation und tatsächlicher Staatsbürgerschaft im normalen Alltagsleben infolge der tiefreichenden Tradition eurozentrischer Blickregime und rassistischer Ideologien meist als „kulturell und rassisch Fremde“ festgeschrieben. Solche Phänomene sind infolge der globalen Geschichte des europäischen Kolonialismus auch in vielen anderen westlichen Einwanderungsgesellschaften verbreitet: So werden auch in den Vereinigten Staaten Asian Americans als „perpetual foreigner“ ausgebürgert, was im deutschen Kontext an das antisemitische Stereotyp des „ewigen Juden“ erinnert. Diese diskriminatorischen Rassifizierungs- und Ausgrenzungserfahrungen teilen asiatische Migrant_innen und Asiatische Deutsche mit Schwarzen und anderen Menschen of Color, die aufgrund strukturell vergleichbarer körperlicher und/oder kultureller Fremdzuschreibungen hierarchisiert und ausgeschlossen werden. Dabei gelten konstruierte oder tatsächliche Differenzen wie eventuelle Überschneidungen mit Weißen Normen und eurozentrische Normalitätsvorstellungen als Messlatte, so dass ausgehend von diesem Bewertungsmaßstab ein multidimensionales Feld intersektionaler Diskriminierungen produziert und reproduziert wird. Obwohl die konkreten Ausdrucksformen des Rassismus sich individuell wie aufgrund der Zugehörigkeit bzw. der Zuschreibung zu bestimmten sozio-kulturellen Gruppenidentitäten unterschieden können, ist es wichtig die lokalen asiatischen Diasporen mittels intersektionalen und interkulturellen Perspektiven mit anderen diasporischen Communities und ihren (postmigrantischen) Deutschland-Erfahrungen in Beziehung zu setzen. In diesem Sinne knüpft dieses Dossier an vorangegangene Ausgaben wie etwa „Schwarze Community in Deutschland“ (Maisha Eggers), „The Living Archive: kulturelle Produktionen und Räume“ (Aicha Diallo) und „Empowerment“ (Sofia Hamaz & Mutlu Ergün-Hamaz) an, die von rassismuskritischen Perspektiven ausgehend mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen nach emanzipatorischen Strategien für in Deutschland beheimatete Subjekte und Communities of Color fragen.
Asiatische Deutsche: neue Subjekte – andere Geschichten – hybride Lebenswelten
Vor diesem Hintergrund stellt das vorliegende Dossier „Asian Germany – Asiatische Diaspora in Deutschland“ Positionen und Perspektiven vor, welche die Norm der Fremdwahrnehmung mit ihren oftmals ausgrenzenden Grundannahmen in Frage stellen und diese mit den Innenansichten asiatisch-deutscher Eigensinnigkeit konfrontieren. Das analytische und politische Konzept „Asiatische Deutsche“ stellt eine Möglichkeit dar, Antworten auf folgende fundamentale Fragen zu entwickeln:
„Neuerliche Abreise: Schmerz und Frustration darüber, eine Differenz leben zu müssen, die keinen Namen und gleichzeitig bereits zu viele Namen hat. Marginalität: Wer benennt? Wessen Ränder? Ein Anderswo, das nicht einfach außerhalb des Zentrums liegt, sondern diese radikal durchfurcht. Identität: das Benennen einer Person, einer Nation, einer Rasse mit einem einzigen Namen hat eine Umwertung erfahren. Sie auszulöschen bot einst die einzige Überlebenschance für Kolonialisierte und Exilierte. Sie zu benennen bedeutet heute für Menschen mit Doppelidentitäten in der Diaspora oft, sich untereinander solidarisch zu erklären.“ (Trinh Minh-ha).
Die Selbstbezeichnung „Asiatische Deutsche“ ist eine neue Kategorie, um postmigrantische Identifikationsprozesse und komplexe kulturelle Verortungen von Subjekten zu analysieren, die in Deutschland als asiatisch markiert werden. Indem der Begriff „Asiatische Deutsche“ kulturelle Positionierungen und Zugehörigkeiten zusammendenkt, die normalerweise als unvereinbar gelten, reflektiert er Fragen der Rassifizierung und kulturellen Essentialisierung. Dieser Prozess ist mit unterschiedlichen Selbst- und Fremdzuschreibungen verbunden, die sich wechselseitig beeinflussen und in einem nicht determinierten Machtverhältnis zueinanderstehen. Der Abschied von binären Kultur- und Identitätsmodellen geht dabei notwendigerweise mit der Anerkennung hybrider Mehrfach-Zugehörigkeiten einher. Dieser Ansatz versucht eine politisch-analytische Perspektive zu entwickeln, die nicht nur die fortschreitende Pluralisierung von Deutsch-Sein zur Sprache bringt, sondern ebenso nach den Konturen, Strukturen und Geschichten asiatischer Diasporen in Deutschland fragt.
Das Dossier geht mittels literarischer Verdichtungen, Gesprächen und oral history-Narrationen, aber auch fotografischen wie analytischen Essays der Frage nach, wie postmigrantisches Leben aus asiatisch-deutschen Perspektiven reflektiert werden kann. Was passiert, wenn die Migration zu ihrem Ende kommt? Welche Identitäten, Identifikationen und Identitätspositionen entstehen dann? Der Ansatz Asiatische Deutsche/asiatisch-deutsch postuliert dabei keine einheitliche Identität oder Position. Dieses Framing dient vielmehr als ein (notwendiges) politisches Konstrukt, um bestimmte Subjekte und ihre uneinheitlichen Perspektiven zu adressieren und sichtbar zu machen. Auf diese Weise können Geschichten artikuliert werden, die in der Weißen Mehrheitsgesellschaft als „asiatisch“ markiert sind. Das Dossier gliedert sich in fünf Teile auf:
Community und kulturelle Identität
Ausgehend von einer multiperspektivischen Diskussion mit Uta Beth, Urmila Goel, Kien Nghi Ha, Jee-Un Kim, You Jae Lee, Thúy Nonnemann, Pham Thi Hoai, Petra Schlagenhauf und Anja Tuckermann über die Notwendigkeit, Räume und Praktiken der Selbst-Repräsentation zu kreieren, werden Trang Thu Tran und Carmen Wienand asiatisch-deutsche Perspektiven der zweiten Generation im Umgang mit Community-Erfahrungen, kulturellen Stereotypen sowie Selbst- und Fremdmarkierungen aufzeigen.
Her mit der Kohle: 50 Jahre koreanisch-deutsche Arbeitsmigration
You Jae Lee nimmt das Jubiläumsjahr zum Anlass, im Gespräch mit früheren Bergarbeitern Konturen und spezifische Merkmale dieses Migrations- und Beheimatungsprozesses aufzuarbeiten. Dabei entsteht durch autobiografische Erzählungen von Kim Gun-chol, Lee Mun-sam und Kim Chang-son ein facettenreiches Bild einer Generation von „Gastarbeitern“, die bisher in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Kulturelle Selbstverortungen und Imaginationen
Das dritte Kapitel zeigt anhand künstlerisch-journalistischer Arbeiten von Alisa Anh Kotmair und Nguyen Phuong-Dan/Stefan Canham sowohl visuelle Beispiele für asiatisch-deutsche Kulturproduktion als auch Reflexionen über Entwicklungen und Arbeitsprozesse in Projekten, die im Bereich Film (Sun-ju Choi/Kimiko Suda) und Theater (Dan Thy Nguyen) angesiedelt sind. Im Mittelpunkt stehen Fragen der Visualität und Selbstinszenierungen im diasporischen Kontext.
Salon der Kurzgeschichten
Daran anschließend stehen im Salon prosaische Texte von Linda Koiran, Hanna Hoa Anh Mai, Angelika Nguyen und Yoko Tawada im Vordergrund, die, mittels literarischer Techniken und Narrationen, Einblicke in unterschiedliche Sozialisations- und Lebenserfahrungen gewähren. So unterschiedlich die Erzählungen auch sind, die verschiedene gesellschaftliche Kontexte und historische Begebenheiten nicht notwendigerweise in Form von autobiografischen Geschichten spiegeln, gehen diese Texte allesamt von weiblichen Schreibpositionen aus, die allerdings unterschiedlichen Generationen, (Nicht‑)Migrationshintergründen wie kulturellen Verbindungen angehören.
Transnationale Verbindungen und Hybridität
Am Ende stehen Ausblicke und Debatten, die auf Ideen, Konzepte und Themen verweisen, welche in einem transnationalen Diskursraum verortet sind. Dazu gehören beispielsweise die Diskussionen von Smaran Dayal, Noa Ha und Miriam Nandi über model minority und mixed-race, die – ebenso wie die von Kien Nghi Ha aufgegriffene Debatte über Critical Whiteness und People of Color – gesellschaftspolitische Dimensionen und identitätspolitische Implikationen aufweisen.
Vibrationsgeschichten: Das Making-of
freitext-Herausgeber Deniz Utlu kuratierte 2011 die Literaturreihe „Vibrationshintergrund“ im Rahmen des „Almancı-Festivals“ im Ballhaus Naunynstraße und lud dazu zahlreiche Autor_innen mit Vibrationshintergrund ein. Am 12.09.2011 organisierte er ein freundschaftliches Duell zwischen dem Autor Feridun Zaimoğlu und dem Wissenschaftler Kien Nghi Ha, moderiert von der Intendantin Shermin Langhoff, wo es um Formen der Subversion und des Patriotismus in der Einwanderungsgesellschaft ging. Im Verlauf der weiteren Zusammenarbeit schlug Kien Nghi Ha vor, dass freitext in Kooperation mit korientation ein Heft aus asiatisch-deutscher Perspektive konzipiert und erarbeitet.
Das Kulturnetzwerk korientation ist eine Selbstorganisation von Asiatischen Deutschen. Deutsch-Asiatisch-Sein bedeutet keine herkunftsbezogene Identitätspolitik, sondern thematische wie politische Positionierungen. korientation versteht sich als Plattform, die vielfältigen Lebenswirklichkeiten Ausdruck und Präsenz verleiht und einen community-übergreifenden Austausch ermöglicht. Die Maxime von freitext, transkulturelle Kulturproduktion jenseits von Fremdzuschreibungen zu ermöglichen, bildet die gemeinsame Grundlage für die kulturpolitische Relevanz der Selbst-Beschreibung als Form der Selbst-Ermächtigung, als Form des Empowerments.
Am 27. April 2013 wurde die Ausgabe „auftauchen – Empowering Asian Germany“ (freitext Nr. 21) mit Unterstützung von Carvalho Wagner und Tunçay Kulaoğlu und der Heinrich Böll Stiftung im vollbesetzten Ballhaus Naunynstrasse (Berlin-Kreuzberg) vorgestellt. Dieses Themenheft verfolgt das Ziel unterschiedliche asiatisch-deutsche Perspektiven in ihrer uneingrenzbaren Vielschichtigkeit und Multidimensionalität miteinander in Verbindung zu setzen. Dadurch entsteht ein Kaleidoskop an Zugängen zu einer Einwanderungsgesellschaft, deren rassifizierten Communities weithin un/sichtbar gemacht werden. Gegenwärtig stellen wir uns der Herausforderung, öffentliche Raume für Geschichten, Diskussionen und Imaginationen eines anderen Deutschlands zu erschaffen. Dieses Heft setzt unser Engagement für Selbstrepräsentationen fort. So divers die Themen und Zugänge zu Asian Germany auch sind, so verbindet die hier versammelten Beiträge das Anliegen eine neue selbstbewusste Sichtbarkeit zum Ausdruck zu bringen.
Das Online-Dossier „Asian Germany – Asiatische Diaspora in Deutschland“ enthält neben erstmalig publizierten Texten auch ausgewählte Beiträge aus dem Heft „auftauchen“, die zum Teil überarbeitetet und erweitert wurden. Andere Beiträge stammen aus der 2012 von Kien Nghi Ha herausgegebenen Anthologie „Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond“ (Assoziation A), die hier in einer redidierten Fassung online gehen. Das Buch geht auf eine diskursive Diskussions- und Vortragsreihe zurück, die Ende 2010 im Rahmen des „Dong-Xuan-Festival. Vietnamesen in Berlin“ im Hebbel am Ufer-Theater stattfand.
Das Dossier wurde konzipiert und redigiert von Kien Nghi Ha.
Kien Nghi Ha, promovierter Kultur- und Politikwissenschaftler, ist Publizist, Kurator und Vorstandsmitglied von korientation. Sein Buch „Unrein und vermischt“ (transcript 2010) wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2011 ausgezeichnet.