Sechs Personen werden in Rumänien mit der Ankündigung auf einen guten Verdienst unter legalen Bedingungen angeworben. Die gelernten Baukräfte arbeiten daraufhin zwischen drei und neun Monaten auf Baustellen in Wuppertal und Umgebung, ohne jedoch ihren Lohn zu erhalten. Als sie diesen einfordern, werden sie zusammengeschlagen. Der Schlägertrupp droht, dies werde jede Nacht so geschehen, wenn sie nicht arbeiten würden, wie es ihnen gesagt werde. Den Ehefrauen in Rumänien wird am Telefon deutlich gemacht, dass sie keine weiteren Schritte unternehmen sollten, es sei denn, sie wollten ihre Partner „in Plastiktüten“ wiedersehen.
Nach internationalen Rechtstandards handelt es sich hier um Zwangsarbeit, die die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) so definiert: „Als ‚Zwangs- oder Pflichtarbeit’ […] gilt jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“ (IAO 1930, 1957). Da sich heute weltweit etwa 21 Millionen Menschen in Zwangsarbeit befinden (IAO 2014a), beschlossen die Mitgliedsstaaten der IAO im April 2014 ein Protokoll und Empfehlungen, die das IAO-Übereinkommen 29 über Zwangsarbeit aus dem Jahre 1930 ergänzen und aktualisieren (IAO 1930, 2014b).
In Deutschland werden extrem ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, die durch Zwang herbeigeführt werden, derzeit als 'Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung' bezeichnet. Es geht dabei weder um sogenannten ‚Menschenschmuggel‘ noch – in der Regel – um den Handel mit Menschen, sondern um das Herbeiführen extremer Ausbeutung durch Zwang. Weil der Begriff weitere Probleme mit sich führt (Bahl et al. 2010), steht er im Folgenden in Anführungszeichen. Hierzulande typische Zwangsmittel reichen von Täuschung über das Vorenthalten von Lohn oder (Ausweis-)Dokumenten bis hin zu Drohungen und physischer Gewalt. Betroffen sind Personen in vielen Sektoren, insbesondere Bau, Landwirtschaft, Gastronomie, Fleischverarbeitung, Gebäudereinigung oder haushaltsnahe Dienstleistungen wie Pflege (BMAS/KOK 2012; BGMA 2013a, b, c).
Sowohl der Opferschutz und die Strafverfolgung als auch die öffentliche und politische Aufmerksamkeit sind beim ‚Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung‘ inzwischen vergleichsweise weit entwickelt. In anderen Branchen erhalten die betroffenen Personen bisher nur selten die ihnen zustehende Unterstützung. Die Zwangsverhältnisse werden bisher nur selten als solche erkannt. Auch im Bereich der Prävention wird noch wenig getan.
Extreme Arbeitsausbeutung…
Immer häufiger berichten die Medien nun darüber, dass Menschen in Deutschland unter besonders schlechten Bedingungen arbeiten und leben, dass Löhne für geleistete Arbeit nicht gezahlt werden, dass die Krankenversicherung fehlt oder dass Personen um ihre Sozialversicherungsbeiträge betrogen werden, indem sie als selbstständig gemeldet werden, während sie doch weisungsgebunden arbeiten (zum Beispiel taz.de 18.11.2014). Diese stark ausbeuterischen und zum Teil betrügerischen Arbeitsverhältnisse sind inzwischen so gängig, dass von einer extrem prekären Schicht von Arbeiter_innen gesprochen werden muss. Kennzeichnend dafür ist eine große Abhängigkeit von jeder Art von Arbeitsverhältnis.
…herbeigeführt durch Zwang oder Täuschung…
Aus Gutgläubigkeit, Unkenntnis oder schierer Not entsteht eine Abhängigkeit von Arbeitgeber_innen. Ist der Lohn erst ein paar Monate ausgeblieben und sind Personen sprachlich und räumlich isoliert, so ist an ein Aufgeben oder den Preis für ein Zugticket erst recht nicht mehr zu denken. Diese Abhängigkeit nutzen einige Arbeitgeber_innen aus, um Menschen gegen deren Willen zur Arbeit zu bringen: zu extrem vielen Arbeitsstunden, zu gering oder nicht entlohnten Tätigkeiten, zu Tätigkeiten, denen die Personen freiwillig nicht zustimmen würden, zu Tätigkeiten ohne Arbeitsschutz, ohne Pausen, ohne Urlaub, ohne Erholung im Krankheitsfall und auch zum Leben unter schlechten Bedingungen. In selteneren Fällen wenden ‚Arbeitgeber_innen‘ selbst auch direkten Zwang an: Schläge, Psychoterror, Einsperren.
…wird bestraft?
Die unverhältnismäßige Ausbeutung unter Zwang soll nach § 233 im deutschen Strafgesetzbuch mit sechs Monaten bis zehn Jahren Haft bestraft werden. Der § 233 lautet im Gegensatz zur bündigen internationalen Definition von Zwangsarbeit:
„Wer eine andere Person unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die mit ihrem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, in Sklaverei, Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft oder zur Aufnahme oder Fortsetzung einer Beschäftigung bei ihm oder einem Dritten zu Arbeitsbedingungen, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen anderer Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer stehen, welche die gleiche oder eine vergleichbare Tätigkeit ausüben, bringt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. […]“ (§ 233 Abs. 1 StGB)
Die Zahl der Ermittlungsverfahren ist gering, allerdings gab es 2013 einen großen Anstieg: 2011 gab es in Deutschland 13, 2012 elf und 2013 53 Ermittlungsverfahren nach § 233 StGB (BKA 2011, 2012, 2013). Zum Vergleich, in Belgien gab es allein 2012 171 (CEOOR 2012). Häufig wird deshalb gesagt, das Phänomen gebe es gar nicht. Generell wird die geringe Verfahrenszahl aber mit der schweren Anwendbarkeit des § 233 StGB begründet. Ermittelnde Behörden weichen daher zum Teil auf leichter nachweisbare und im Nachweis weniger zeitintensive Tatbestände aus, bei denen sie die Chance einer Verurteilung höher einschätzen, so zum Beispiel bei Lohnwucher (§ 291 StGB).
Die Akteneinsicht des „Bündnis gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“, die Staatsanwaltschaften in zwei Bundesländern freundlicherweise gewährten, erhärtete jedoch einen zweiten Verdacht: Zum Teil herrscht mangelnde Rechtskenntnis bei Polizei, Zoll und Staatsanwaltschaften (BGMA 2014a). So wurden beispielsweise Verfahren eingestellt, in denen es deutliche Hinweise auf ‚Menschenhandel‘ zur Arbeitsausbeutung gab und die möglicherweise auch nach der geltenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu einer Verurteilung hätten führen können. Die Betitelung der Phänomene als ‚Menschenhandel‘ gilt daneben vielen als Fehlbenennung.
Erhalten die Opfer Zugang zu Sonderrechten?
Nach internationalen Verträgen muss die Bundesrepublik gewährleisten, dass Personen, die Opfer von ‚Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung‘ beziehungsweise ‚Zwangsarbeit‘ geworden sind, den Zugang zu Sonderrechten erhalten. Dazu gehört der Anspruch auf Unterbringung, wenn nötig, in einer Schutzwohnung, Zugang zu medizinischer und sozialpsychologischer Betreuung, zu rechtlicher Beratung und zu Sozialleistungen. Für Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus kann daneben abhängig von der Kooperation mit Ermittlungsbehörden im Rahmen des Strafverfahrens zeitlich begrenzt ein Aufenthaltstitel gewährt werden. Des Weiteren kann die ermittelnde Staatsanwaltschaft darauf verzichten, mögliche Vergehen zu ahnden, die Personen innerhalb eines solchen Arbeitsverhältnisses begangen haben könnten (§ 153 StPO). Außerdem können betroffene Personen im Strafverfahren nach § 233 StGB als Nebenkläger_innen auftreten, um Entschädigung zu erstreiten (BGMA/MIFKJF 2014b).
Derzeit ist die Gewährung dieser Sonderrechte jedoch zum einen an die Aufnahme von Ermittlungen nach dem § 233 StGB, zum anderen an die Kooperation der betroffenen Personen mit den Strafverfolgungsbehörden geknüpft. Denn in der aktuellen Form des § 233 StGB haben Verfahren nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn die betroffenen Personen aussagen.
Die Anreize zur Aussage sind jedoch äußerst gering. Wird von den Strafverfolgungsbehörden ein Verdacht auf eine Straftat nach § 233 StGB ausgesprochen, kann den betroffenen Personen derzeit eine sogenannte Bedenkfrist von drei Monaten gewährt werden. Entscheiden sie sich zur Aussage, kann ein Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4a Aufenthaltsgesetz ausgestellt werden, der sechs Monate gültig ist und bei Bedarf für das Strafverfahren verlängert wird. Gegen die Kooperation sprechen häufig Angst, Erschöpfung und die Notwendigkeit, schnell und möglichst irgendwo anders einen neuen Job zu finden. Zudem können die betroffenen Personen traumatisiert sein und meist verstreicht einige Zeit, bis sie in der Lage sind, über die Erfahrungen zu sprechen. Denn dazu gehört, auch sich selbst die Dimensionen der Vertrauensbrüche und bisweilen auch körperlichen Misshandlungen vonseiten vermeintlicher Vertrauenspersonen einzugestehen.
Andere Länder haben – entsprechend internationalen Empfehlungen – bereits die Gewährung der Opferrechte von der Kooperation im Strafverfahren entkoppelt. In Deutschland erhält zum einen durch die Gestaltung des § 233 StGB und die teilweise Rechtsunkenntnis der ermittelnden Behörden derzeit kaum eine Person Zugang zu diesen Rechten. Im eingangs geschilderten Fall wurden trotz der Hinweise der Berater_innen bislang keine Ermittlungen nach § 233 StGB aufgenommen. Nur mit viel Mühe der Berater_innen und humanitärer Unterstützung durch Kirche und Stadt konnten die Personen überhaupt zeitweilig untergebracht werden. Die Bundesrepublik Deutschland versäumt derzeit ihre internationalen Verpflichtungen.
Aktuelle Entwicklungen und Aktivitäten
Diese Situation könnte sich jedoch bald etwas verbessern. Kürzlich kündigte das zuständige Ministerium für Arbeit und Soziales an, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Menschenhandel ins Leben zu rufen, die sich der politischen Abstimmung auf der föderalen und Länderebenen widmet. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch die Einrichtung einer Nationalen Berichterstatterstelle vorantreibt, wie es die internationalen Verträge vorsehen. Des Weiteren ist ein neuer Anlauf zu einer Gesetzesreform zu erwarten. Der letzte scheiterte im vergangenen Jahr an Debatten rund um den Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung.
Verschiedene Organisationen widmen sich dem Thema. Das von Arbeit und Leben Berlin e.V. koordinierte „Bündnis gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“ (BGMA) ist diesbezüglich das derzeit größte Projekt. Das BGMA widmet sich der Strukturbildung auf Länderebene, vorrangig damit betroffene Personen die ihnen zustehende Unterstützung auch erhalten. Das Bündnis führt Schulungen durch zu den Kennzeichen von und den Handlungsmöglichkeiten bei ‚Menschenhandel‘ zur Arbeitsausbeutung, Workshops zur Vernetzung wichtiger Akteur_innen, stellt Informationsmaterialien zur Verfügung und bietet in zwei Bundesländern spezialisierte Beratung für Betroffene an. Zielgruppen der Aktivitäten sind alle Berufsgruppen, die mit potenziell betroffenen Personen in Kontakt kommen, das heißt neben Beratungs- und Anlaufstellen auch Behörden (unter anderem Jobcenter, Arbeitsagentur, Ausländer-, Asyl-, Strafverfolgungs- und Arbeitsschutzbehörden) und Gewerkschaften. Arbeitgeberorganisationen sind bisher zu keiner Kooperation bereit. Als sehr erfolgreich hat sich auch ein speziell für Teilnehmer_innen von Deutschsprachkursen entwickeltes Unterrichtsmodul erwiesen, in dem Migrant_innen in der Wahrnehmung ihrer Arbeitsrechte gestärkt werden.
Im „Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel“ (KOK) sind Beratungsstellen wie das Fraueninformationszentrum Stuttgart organisiert, die bisher vor allem Frauen zu ‚Menschenhandel‘ zur sexuellen Ausbeutung, in wachsender Zahl auch zu Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung beraten und sich zum Teil auch männlichen Ratsuchenden öffnen. Neben diesen beiden Organisationen ist das „Deutsche Institut für Menschenrechte“ sehr aktiv im Kampf für die Rechte der betroffenen Personen. Deutschlandweit gibt es daneben im Bereich der Europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit eine Reihe von kirchlichen oder gewerkschaftsnahen Beratungsstellen (BGMA 2014c).
Auch wenn diese Organisationen vor allem durch ihre Informationspolitik auch präventiv arbeiten, ist der Wirkungsgrad in dieser Hinsicht beschränkt. Denn die starken strukturellen Faktoren, die Menschen erst in die extreme Abhängigkeit von anderen bringen, bleiben bestehen.
Strukturelle Ursachen
Trotz der allgemeinen Entsicherung und Entgrenzung der Arbeits- und Lebensverhältnisse in Europa laufen nicht alle Personen gleichermaßen Risiko, Opfer von ‚Menschenhandel‘ zur Arbeitsausbeutung werden. Wenngleich auch Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft betroffen sein können, handelt es sich mit Ausnahmen um migrantische Arbeitnehmer_innen, die in Arbeitsmarktsektoren und Branchen tätig sind, in denen die Entwertung von Arbeitskraft besonders weit voran geschritten ist (BGMA 2013a, b, c). Das zeigt, dass es strukturelle Weichenstellungen gibt, die dafür sorgen, dass bestimmte Personen in besonders starke Abhängigkeit geraten.
Eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt
An einigen Stellen ist das deutsche und europäische Arbeitsrecht derart mit dem Aufenthaltsrecht verzahnt, dass dies extreme Abhängigkeiten geradezu herausfordert. Zum einen sind mit der Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit große Gruppen von Arbeitnehmer_innen entstanden, die per Gesetz ausschließlich in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten durften oder dürfen: als Leiharbeiter_in, als Saisonarbeiter_in und als Selbstständige_r, nur eben nicht in einem sozialversicherungspflichtigen Angestelltenverhältnis. In allen diesen Arten von Arbeitsverhältnissen existieren Fallstricke, die viele Arbeitsvermittler_innen und Arbeitgeber_innen sicher zu spannen verstehen. Es zeichnet sich bisher noch nicht ab, dass mit der Aufhebung der Einschränkungen viele Menschen in sozialversicherungspflichtige, längerfristige Arbeitsverhältnisse wechseln könnten.
Für manche Arbeitnehmer_innen aus sogenannten ‚Drittstaaten‘, also aus Ländern außerhalb der europäischen Union, ist die strukturelle Zwangslage besonders extrem: Bei bestimmten Visa, wie beispielsweise im gastronomischen Bereich oder bei einer Tätigkeit als Au-pair, hängt der Aufenthaltstitel direkt von einem bestimmten Arbeitsverhältnis ab. Auch im Rahmen einer Duldung kann der Aufenthalt durch Nachweis einer mittelfristigen Anstellung verstetigt werden. Viele Personen verschulden sich im Herkunftsland, um die Reise oder ‚Vermittlungsgebühren‘ zu bezahlen. Das Gleiche gilt für Menschen, die ohne Arbeitserlaubnis oder ohne Aufenthaltserlaubnis arbeiten.
So wird der Druck, das Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten, so groß, dass Menschen lange Zeit die Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lage nicht aufgeben und auch Schläge, Beschimpfungen und vollständigen Lohnentzug hinnehmen. Die kürzlich beschlossene Beschleunigung des Zugangs zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende ist daher zu begrüßen. Weitere Hürden wie die Vorrangprüfung bleiben jedoch bestehen. Stärkere Grenzkontrollen, wie sie von konservativen Politiker_innen immer wieder gefordert und auch durchgesetzt werden, sind dagegen nicht mit dem Schutz vor ‚Menschenhandel‘ zu begründen.
Völlig rechtlos ist aber – in der Theorie – keine_r. Denn wer gearbeitet hat, hat unabhängig von Aufenthaltsstatus und von der Arbeitserlaubnis auch das Recht auf den Lohn. Vor Gericht gilt das faktische Arbeitsverhältnis. Die Möglichkeiten, diese Rechte auch geltend zu machen, sind jedoch eingeschränkt, denn zum einen kennen viele Arbeitnehmer_innen diese Rechte nicht, zum anderen sind Arbeitsgerichte angehalten, den Ausländerbehörden zu melden, wenn sie Kenntnis von Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus erlangen.
Die erkennbaren Muster deuten stark darauf hin, dass es sich zum einen um strukturelle Diskriminierung handelt. Sie ist zum Teil gesetzlich verursacht, zumindest wird sie nicht verhindert. Zum anderen fußt die Schlechterstellung von Migrant_innen im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme inzwischen auf breiter gesellschaftlicher Akzeptanz
Alltäglicher Rassismus und Sozialhetze
Wie perfide Kampagnen und Gesetzesänderungen sind, die Zuwanderer_innen von Sozialleistungen ausschließen, wird vor diesem Hintergrund besonders deutlich. Gezielt wird der falsche Eindruck erweckt, dass massenhaft Personen nur nach Deutschland kämen, um sich von ‚unseren Sozialversicherungsbeiträgen‘ ein schönes Leben zu machen. Wurde zur Durchsetzung der Hartz-Gesetze die Angst vor ‚Sozialschmarotzer_innen‘ erfolgreich geschürt, sind es nun wie in den 1990ern wieder rassistische Ressentiments, die für die Kürzung von Sozialleistungen von Menschen aus dem Ausland bedient werden.
Als eine Beraterin für betrogene und bedrohte Kollegen beim Jobcenter Hartz IV beantragt, tut die eine Sachbearbeiterin freundlich ihren Dienst. Sie nimmt die Anträge an, um die Ansprüche zu prüfen. Ein anderer weigert sich so lange, bis die Beraterin den Abteilungsleiter hinzuzieht. Sie, selbst nicht aus Deutschland, wird auf der Behörde herablassend behandelt. Dann hört sie mit an, wie sich Sachbearbeiter_innen über ‚ihren‘ Fall auslassen: Die Bulgar_innen seien nur in Deutschland, um Sozialleistungen zu bekommen. Ähnliche Aussagen lassen sich nicht nur weit verbreitet in politischen Reden und an Stammtischen hören, sondern auch diejenigen, die eigentlich mit dem Schutz der betroffenen Personen betraut werden, vertreten sie zuweilen.
In seiner Funktion als Solidarsystem soll der Sozialstaat jede_n Einzelne_n vor den Risiken der Erwerbslosigkeit schützen, jedoch auch alle, das heißt gesamtgesellschaftlich vor der Entwertung von Arbeitskraft. Fällt eine Vielzahl von Personen aus diesem System heraus, funktioniert es nicht mehr. Dabei ist die Spaltung von Belegschaften in immer kleinere Gruppen mit unterschiedlichen Arbeitsbedingungen und dadurch vermeintlich unterschiedlichen Interessen Teil des Problems. Denn wo Arbeitnehmer_innen sich nicht mehr solidarisch verhalten (können), bricht sich die Entwertung von Arbeitskraft ungebremst ihre Bahn. Sie läuft weiter bis hin zu Arbeitsverhältnissen, aus denen Menschen sich selbst nicht mehr befreien können. Und vieles deutet darauf hin, dass Personen in Zwangsverhältnissen einfach nicht als Opfer wahrgenommen werden, sondern vor allem als Täter_innen. So erleben sie oft erneute Diskriminierung, Stigmatisierung und Rechtsverletzung.
Handlungsbedarf
Die dargelegten Verhältnisse zeigen, wie dringend Handlungsbedarf auf verschiedenen Ebenen besteht. Im engeren Bereich des ‚Menschenhandels‘ zur Arbeitsausbeutung muss besonders der Zugang zu Opferrechten ermöglicht werden. Dieser hängt derzeit eng mit der Aufnahme von Strafverfahren zusammen, muss aber aufgrund der Unzuverlässigkeit davon gelöst werden. Auch der entfristete Aufenthalt sollte gewährt werden, insbesondere dann, wenn eine Befristung des Aufenthalts der vollen Wiedergutmachung der Rechtsverletzung im Wege steht oder das Risiko erhöht, dass die Betroffenen erneut in Abhängigkeit geraten.
Neben dem weiteren Aufbau von Unterstützungsstrukturen in allen Bundesländern ist die Informationsbereitstellung für migrantische Arbeitnehmer_innen über ihre Rechte bei der Arbeit auszuweiten. Gleichzeitig müssen die Personengruppen, die potenziell mit betroffenen Personen in Kontakt kommen, weiter sensibilisiert werden, damit sie die betroffenen Personen als solche erkennen und sie dabei unterstützen können, ihre Rechte wahrzunehmen.
Zwangsverhältnisse müssen als das, was sie sind, erkannt und gestoppt werden. Die Betroffenen haben das Recht auf Unterstützung und Entschädigung. Diese konkreten Verbesserungen sind dringend und wichtig.
Werden aber die strukturellen und gesellschaftlichen Ursachen von extremer Arbeitsausbeutung und ‚Menschenhandel‘ zur Arbeitsausbeutung weiterhin ausgeblendet, sind auch notwendige Verbesserungen im Opferschutz reine Symptombekämpfung. Um den Ursachen von ‚Menschenhandel‘ zur Arbeitsausbeutung beizukommen, ist ein radikales Umlenken dringend vonnöten: weg von der Politik der Umverteilung von unten nach oben, einer Gesellschafts- und Migrationsordnung, die sich an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit der Person ausrichtet, und einem Rassismus der gesellschaftlichen Mitte, der es gesellschaftlich vollkommen akzeptabel macht, dass die Arbeitskraft von migrantischen und mobilen Kolleg_innen weniger wert ist, hin zu transnationaler Solidarität und Verteilungsgerechtigkeit und entschiedenem Antirassismus auch in der Arbeitswelt.
Literatur
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taz.de 18.11.2014: Maloche. Die Kehrseite der Glitzerpassagen, URL: http://taz.de/Maloche/!149736/ [abgerufen 21.11.2014].