Menschenhandel ist ein globales Phänomen, das im nationalen wie internationalen Zusammenhang evident ist. Das Phänomen unterliegt einem steten Wandel, dem oftmals strukturelle Veränderungen in den Herkunfts- und/oder Zielländern zugrunde liegen.
Zum einen lassen Armut und Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländern sowie falsche Vorstellungen vom Leben und Arbeiten in Westeuropa Frauen an Personen geraten, die ihnen seriöse Arbeit versprechen, dann aber die Frauen zur Prostitution bringen und zwingen – nicht selten durch Gewaltanwendung. Aber auch diejenigen Frauen, die sich bewusst für die Arbeit in der Prostitution entschlossen haben, können von Frauenhandel betroffen sein.
Die geografische Lage macht Brandenburg zu einem Durchgangs- und Zielland für Menschenhandel und Prostitution.
IN VIA Beratungsstelle im Land Brandenburg
Im Jahr 2010 hat „IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit für das Erzbistum Berlin e.V.“ eine Beratungsstelle im Land Brandenburg mit zwei Arbeitsbereichen etabliert: einerseits „Streetwork – HIV-/Aids Prävention und -Beratung im Prostitutionsmilieu im Land Brandenburg und im grenzüberschreitenden Raum zu Polen“ und andererseits die „Koordinations- und Beratungsstelle für Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind“. Beide Projekte werden vom jetzigen Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Landes Brandenburg (MASGF) finanziert. Die Arbeit der IN VIA Koordinations- und Beratungsstelle für Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind, wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass sie im Aktionsplan der Landesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder 2011–2014 verankert ist. Dieses geht auch mit der Entscheidung der Bundesregierung einher, das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung von Menschenhandel umzusetzen sowie mit der EU Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels.
Der Tätigkeit der IN VIA Beratungsstelle im Prostitutionsmilieu im Land Brandenburg ging eine sechsmonatige Recherche voran. Das Ziel war das Milieu im Land und in der deutsch-polnischen Grenzregion zu erkunden und zu erfassen. Einerseits Arten und Orte der Prostitutionsstätten beziehungsweise Herkunftsländer der Sexarbeiterinnen und andererseits die vorhandenen Bedarfe und Angebote für Prostituierte zu ermitteln.
Die Recherche ergab einen Überblick über die Situation im Prostitutionsmilieu im Land Brandenburg und ermöglichte eine effiziente Planung der Arbeit. Die gewonnenen Erkenntnisse werden durch die aufsuchende Arbeit und regelmäßige Recherche kontinuierlich aktualisiert. Die Recherche lässt die Vermutung zu, dass auch im Land Brandenburg im Bereich des Menschenhandels das Dunkelfeld sehr groß ist.
Im Land Brandenburg sind alle Arten von Prostitutionsstätten vorhanden: Straßenstriche, bordellartige Betriebe, Wohnungsprostitution, Massage Salons mit sexuellen Dienstleistungen und Escort Service. Die Szene ist von einer sehr hohen Fluktuation und Mobilität gekennzeichnet. Viele Frauen, die in dieser Region arbeiten, wechseln zwischen Brandenburg und Berlin, arbeiten aber auch in anderen Bundesländern oder europäischen Ländern.
Zwischen den Begriffen Menschenhandel und Prostitution muss sorgsam unterschieden werden, allzu oft werden die Begriffe vermischt und führen zu missverständlichen Darstellungen. Menschenhandel ist ein Gewaltdelikt, das bei den Opfern nicht nur physische, sondern regelmäßig auch psychische Schäden verursacht. Der Schutz und die kompetente Betreuung der Opfer sind daher ebenso notwendig wie die Verfolgung und Verurteilung der Täter.
Menschenhandel findet in allen Arten von Prostitutionsstätten im Land Brandenburg statt. Nicht alle Frauen, die in der Prostitution arbeiten, sind jedoch von Menschenhandel betroffen. Menschenhandel liegt erst dann vor, wenn Frauen zum Zweck der sexuellen Ausbeutung instrumentalisiert und missbraucht werden. Viele der Frauen, die IN VIA bei der aufsuchenden Arbeit berät, arbeiten in der Prostitution aus finanziellem Zwang, sind strafrechtlich gesehen aber keine Betroffenen von Menschenhandel. Sie werden nicht gegen ihren Willen zur Prostitution gebracht und dann ausgebeutet. Die andere Zielgruppe, mit der IN VIA im Land Brandenburg arbeitet, sind die Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind. Sie werden oft unter falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt, zur Prostitution gebracht und ausgebeutet.
Bis vor ein paar Jahren kamen die von Menschenhandel betroffenen Frauen mehrheitlich aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion. Dementsprechend konzentrierte sich im Land Brandenburg die Beratungs- und Betreuungstätigkeit, die damals von Bella Donna in Frankfurt/Oder durchgeführt wurde, vorrangig auf den Grenzbereich zu Polen. Heute sind es immer mehr Frauen aus Bulgarien, Rumänien und aus afrikanischen Ländern. Zusätzlich ist eine signifikante Zunahme an deutschen Opfern sowie eine kontinuierlich wachsende Zahl an betroffenen Minderjährigen zu verzeichnen. Der Wirkungsbereich der Beratungs- und Betreuungstätigkeit muss sich inzwischen flächendeckend auf das gesamte Land Brandenburg erstrecken, um die betroffenen Zielgruppen zu erreichen und zu unterstützen. Der Zugang der Betroffenen zur Beratungsstelle erfolgt über Frauenhäuser, andere Hilfsorganisationen (zum Beispiel Weisser Ring), Polizei oder Mundpropaganda.
Die IN VIA Angebote beinhalten psychosoziale Beratung, Vermittlung von sicherer Unterkunft, Beratung zu sozial-rechtlichen Fragen oder Hilfe bei der Rückreise. Die Beratung kann auf Wunsch anonym sein und ist kostenlos. Eine Zusammenarbeit mit den Betroffenen basiert immer auf deren Freiwilligkeit. Die Begleitungszeit ist unterschiedlich, abhängig von Situation, Wünschen und Bedürfnissen. Unser Ziel ist die Frauen zu unterstützen, das Erlebte zu verarbeiten und eine Perspektive zu entwickeln. Um eine sichere Unterkunft anbieten zu können, arbeitet IN VIA eng mit den vorhandenen Frauenhäusern im Land zusammen.
Um unterschiedliche Aspekte des Menschenhandels im Land Brandenburg und Herausforderungen in unserer Arbeit zu unterstreichen, werden im Folgenden einige Beispiele aus unserer Beratungstätigkeit und deren Spezifika beschrieben.
Brandenburg als Ort der Ausbeutung
Radka (Name geändert) war Ende zwanzig als sie mit unserer Beratungsstelle in Kontakt kam. Zu dem Zeitpunkt war sie seit drei Monaten in der Grenzregion zwischen Brandenburg und Polen. Sie stammte aus Bulgarien, wo sie eine Familie – zwei Kinder und einen Ehemann – hatte. Ihr Schwager, der LKW-Fahrer war, sagte ihr eines Tages, dass er sie mit nach Polen nehmen könnte. Er würde ihr einen Job in der Landwirtschaft besorgen. In Bulgarien war sie arbeitslos und ihre Familie war sehr arm. Als sie in Polen ankamen, hat ihr Schwager sie zur Prostitution gezwungen. Er nahm ihr das ganze Geld ab. Das machte er an unterschiedlichen Standorten in Polen, in der Grenzregion zu Deutschland, und im Land Brandenburg. Radka mußte entweder in einem Zimmer oder in LKWs arbeiten. Ihre Kunden waren meistens LKW-Fahrer. Nach circa drei Monaten, in denen sie der Prostitution nachgehen musste, ist es Radka gelungen, einem Kunden mitzuteilen, dass sie die Arbeit nicht freiwillig macht und Hilfe bräuchte. Er nahm sie mit und setzte sie in einer Stadt im Land Brandenburg ab. Mit Hilfe von Bürger_innen wurde die Polizei benachrichtigt und Radka wurde in einem Frauenhaus untergebracht. Das Frauenhaus informierte die IN VIA Beratungsstelle.
Da Radka durch ein Familienmitglied zur Prostitution gezwungen worden war, wollte sie keine polizeilichen Aussagen machen. Ihr Wunsch war so schnell wir möglich zurück zu ihrer Familie nach Bulgarien zu reisen. Ihr Ehemann wusste nicht was passiert war. IN VIA hat ihr bei der Rückreise geholfen. Dazu waren folgende Schritte notwendig: Sicherung der Unterkunft, Beantragung eines Passersatzpapieres bei der bulgarischen Botschaft, Sicherung des Lebensunterhaltes bis zur Abreise und Kostenübernahme für den Transport nach Hause.
Dadurch dass Radka keine Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden wünschte, hatte sie keinen Anspruch auf staatliche finanzielle Unterstützung als von Menschenhandel Betroffene. Eine große Herausforderung, die es im Land Brandenburg für die Zielgruppe der Betroffenen von Menschenhandel gibt, ist die Unterbringung. IN VIA hat keine eigene Schutzwohnung. Deswegen sind wir auf Frauenhäuser oder Alternativen (zum Beispiel Kirchengemeinden) angewiesen. Die Frauenhäuser im Land Brandenburg haben keine Pauschalfinanzierung. Wenn Betroffene von Menschenhandel keine polizeilichen Aussagen machen und dadurch keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben, gibt es auch keine Kostenübernahme für einen Frauenhausplatz. Das erschwert die Unterbringung der Betroffenen, die keine Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden wünschen. Im Fall von Radka musste IN VIA eine individuelle Lösung für die entstandenen Kosten für das Passersatzpapier und den Transport finden. Im Finanzierungsplan der Beratungsstelle gibt es keine Möglichkeit, Kosten für die Opferunterstützung zu tragen.
Menschenhandel gilt als eine der schwersten Straftaten, als schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte, moderne Form der Sklaverei und äußerst gewinnbringendes Geschäft der organisierten Kriminalität. Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung betrifft überwiegend Mädchen und Frauen und hinterlässt bei den Betroffenen häufig physische und psychische Schäden. Die Bekämpfung des Menschenhandels und die damit zusammenhängenden polizeilichen Ermittlungen gestalten sich schwierig und zeitaufwändig. Die Ermittlungserfolge und die Sicherung des Strafverfahrens hängen in starkem Maße von der Kooperationsbereitschaft und der Zeugenaussage betroffener Frauen ab.
Opfer von Menschenhandel befinden sich in einer ausgesprochen schwierigen persönlichen Situation, sind psychischem Stress ausgeliefert und sind häufig auf Grund der zurückliegenden Erfahrungen traumatisiert. Oft kommt es nicht zu polizeilichen Aussagen. Einerseits, weil sich Frauen aus Angst gegen eine Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden entscheiden, und andererseits, weil sie vielleicht aufgrund der psychischen Belastung durch das Erlebte nicht in der Lage zu einer Zusammenarbeit sind.
Berlin-Brandenburg Verbindung
Maria (Name geändert) hat in ihrer Heimat in Osteuropa mit 16 Jahren im Internet einen jungen Mann kennengelernt. Sie haben über einen längeren Zeitraum im Internet gechattet und haben sich auch öfters persönlich getroffen. Er war sehr nett und aufmerksam, schien an einer ernsthaften Beziehung mit ihr interessiert zu sein. Er hat Maria angeboten, dass sie gemeinsam nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten und dadurch Geld für eine gemeinsame Zukunft und ein Zuhause zu verdienen. Maria hat eingewilligt und ist mit ihrem Freund nach Deutschland gereist.
Als sie in Berlin ankam, hat ihr Freund ihr gesagt, dass sie in der Prostitution arbeiten muss, weil es keine anderen Alternativen gibt. Gleich nach der Ankunft hat er ihr den Ausweis abgenommen. Maria hat im Escort Bereich gearbeitet. Sie musste 24 Stunden pro Tag, 7 Tage pro Woche, jede Woche verfügbar sein. Die Termine waren in Privatwohnungen oder Hotels im Land Brandenburg und Berlin. Sie musste das ganze verdiente Geld an ihren Freund abgeben, wurde geschlagen und zum Abruch des Kontaktes zu ihrer Familie gebracht.
Nach zwei Jahren hat Maria verstanden, dass ihr Freund keine ehrliche Beziehung beabsichtigt, sondern dass er sie nur ausnutzt. Sie hat ihn sehr lange geliebt und gehofft, er würde sich ändern. Irgendwann war es jedoch genug! Maria hat ihren ganzen Mut zusammengenommen, ist von ihm weggelaufen und zur Polizei gegangen. Dort hat sie eine Anzeige gegen ihren Freund erstattet. Sie war nicht die einzige Frau, die er zur Prostitution gebracht und gezwungen hat. Durch den Mut und die Kraft mehrerer Frauen gegen diesen Mann auszusagen, kam es zu einer Verurteilung des Täters wegen Menschenhandel.
Eine Grenze zwischen Berlin und Brandenburg gibt es im Prostitutions- und Menschenhandelsbereich nicht. Frauen arbeiten oder werden gezwungen in beiden Bundesländern zu arbeiten. Die Nähe und die Nachfrage fördern die regionale Mobilität. Die Menschenhändler_innen wechseln den Arbeitsort der Frauen, damit sie sich nicht an einen Ort gewöhnen sollen und den Kontakt nach Außen (zum Beispiel zu Beratungsstellen) zu erschweren.
Die Anbindung der IN VIA Fachberatungsstelle im Land Brandenburg an die IN VIA Beratungsstelle für Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind, in Berlin verbessert die Unterstützungsmöglichkeiten, denn durch ein gemeinsames Team können Ressourcen wie beispielsweise Expertise und Sprachkompetenzen besser gebündelt werden. Das IN VIA Team deckt durch die eigenen Mitarbeiterinnen folgende Sprachen ab: Deutsch, Bulgarisch, Englisch, Französisch, Griechisch, Polnisch, Rumänisch und Russisch.
Menschenhandel und Asylbewerberheime
Joy (Name geändert) kommt aus Nigeria. Sie wurde im Jahr 2003 unter falschen Versprechungen nach Deutschland gebracht. Sie sollte in einem Restaurant arbeiten. Vor ihrer Reise nach Europa musste sie mit ihren Menschenhändler_innen zu einem Voodoo-Tempel gehen und schwören, dass sie nie etwas gegen die Menschen, die ihr nach Europa verhelfen, unternehmen wird. Ansonsten würde sie oder einer ihrer Familienmitglieder erkranken oder sogar sterben. Nachdem Joy in Europa ankam, hat ihr ihre „Madame“ (Zuhälterin) gesagt, dass sie in der Prostitution arbeiten muss. Für den Weg hätte sie 25.000 Euro zu bezahlen. Und sie hätte keine Wahl, weil sie in Europa illegal sei und wenn sie versuchen würde zu flüchten, setzt sie das Voodoo ein. Die Madame hat mit Joy einen Asylantrag gestellt und sie instruiert, welche Angaben sie machen soll. Joy hat sich wegen dem Voodoo nie getraut etwas gegen die Madame zu unternehmen. Nachdem sie ihre „Schulden“ abbezahlt hat, ist es ihr gelungen sich von der Madame zu befreien. Wegen der Angst vor dem Voodoo wollte Joy nie mit den Behörden über die Wahrheit sprechen. Über eine Freundin ist sie im Jahr 2012 zu unserer Beratungsstelle im Land Brandenburg in Kontakt getreten. Zu dem Zeitpunkt lebte sie seit beinahe zehn Jahren in einem Übergangsheim. Weil Joy Angst vor ihrer Madame hatte und über die Unterstützungsmöglichkeiten nicht informiert war, ist es nie dazu gekommen, dass sie Rechte als Betroffene von Menschenhandel durchgesetzt hat.
In Joys Fall hat ihre Madame den Voodoo Schwur eingesetzt, um sie zu erpressen. Viele der nigerianischen Betroffenen von Menschenhandel müssen vor ihrer Reise nach Europa einen Voodoo Schwur leisten, jedoch nicht alle. Ein anderes Mittel, mit dem man auf die Frauen Druck ausübt, ist ihr illegaler Aufenthalt vor Ort. Die Einreise für die zukünftigen Betroffenen wird entweder mit Touristenvisum oder mit illegalen Papieren (falscher Name und/oder Alter) organisiert. Dies führt dazu, dass sich die Frauen spätestens nach drei Monaten illegal in Deutschland befinden. Sie fürchten wegen einer potenziellen Abschiebung die Behörden. Fehlende Deutschkenntnisse, fehlende Informationen zum Hilfesystem oder zu ihren Rechten führen dazu, dass Betroffene sich nicht oder erst sehr spät Hilfe holen.
Joy ist eine von mehreren Frauen, die von Menschenhandel betroffen ist und im Land Brandenburg in Übergangsheimen wohnen oder wohnten. Auf Grund dieser Erfahrungen haben wir uns als Beratungsstelle entschlossen, den Sozialarbeiter_innen aus den Übergangsheimen Schulungen zum Thema Menschenhandel anzubieten, um ihren Blick in diesem Bereich zu sensibilisieren. Die Übergangsheime im Land Brandenburg sind einerseits Orte in denen Betroffene von Menschenhandel identifiziert und erreicht werden können. Andererseits sind die Übergangsheime ein Ort, wo wir aus Beratungsgesprächen wissen, dass Frauen dort rekrutiert und dann in der Prostitution ausgebeutet werden. Aus diesem Grund finden wir, dass Präventionsmaßnahmen mit den Bewohnerinnen in den Übergangsheimen durchgeführt werden müssen und bemühen uns Konzepte für entsprechende Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen.
Besonderes Augenmerk richten wir auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, denn unsere Erfahrungungen aus Brandenburg und Berlin zeigen, dass immer mehr Minderjährige von diesem Delikt betroffen sind.
Brandenburg als Ort der Anwerbung
Petra (Name geändert) kommt aus Deutschland und war 14, als sie über Facebook einen Mann kennengelernt hat. Er hat ihr gesagt, er ist unter 20. Später hat sich herausgestellt, dass er viel älter war. Nach einer Zeit hat er sie zu sich nach Hause eingeladen. Dort war noch ein Mädchen. Er hat ihnen Cocktails gemacht. Alkoholisiert mussten sie miteinander posen. Der Mann fotografierte die Mädchen und hat die Fotos später ins Internet gestellt. In Begleitung dieses Mannes ging sie zu einer Party, wo sie einen jungen Mann, ungefähr 20, kennenlernte. Er täuschte ihr vor, sich in sie verliebt zu haben. Er fing eine Beziehung mit ihr an und schickte sie dann auf den Strich. Sie musste ihm das ganze durch Prostitution verdiente Geld abgeben. Zusätzlich hat er ihr Drogen verabreicht, damit sie länger in der Arbeit durchhalten soll. Sie wurde drogenabhängig. Er lieferte ihr die Drogen, natürlich musste sie ihm die Drogen aber abkaufen. Sie war für ihn eine doppelte Einnahmequelle. Über die Polizei ist es Petra nach einer langen und sehr schwierigen Zeit gelungen sich von ihrem Menschenhändler zu befreien.
Das besonders Dramatische an Petras Situation ist, dass sie gar kein Bewusstsein hatte, dass ihr etwas Schlimmes passiert ist. Erst durch erneute Kontakte durch die Polizei und der IN VIA Beratungsstelle wurde Petra das bewusst. Vorher wurde sie von den Männern dazu gebracht überzeugt zu sein, dass sie die Arbeit in der Prostitution selber will und es freiwillig macht.
Ein anderes wichtiges Merkmal im Fall Petra ist, dass die Betroffene eine Deutsche ist. Menschenhandel erfordert keinen Grenzüberschritt. Wir sind der Meinung, dass das Bewusstsein, dass Menschenhandel nicht nur Ausländer_innen betrifft, in der Öffentlichkeit und bei Institutionen (zum Beispiel Jugendamt) noch nicht ausreichend entwickelt ist. Die Schlussfolgerung entsteht aus den Erfahrungen, die wir im Land Brandenburg und Berlin machen. Bei deutschen Betroffenen erfolgt die Anwerbung nicht selten durch die Loverboy-Methode. Dabei täuschen Männer (jungen) Frauen eine Beziehung vor, damit sie sie zur Prostitution bringen und dann ausbeuten können.
Um bei Institutionen und Behörden im Land Brandenburg ein besseres Verständnis zum Thema Menschenhandel zu erreichen, hat IN VIA folgende Maßnahmen durchgeführt: ein Workshop zum Thema Kinderhandel (2012), eine Fachtagung „Menschenhandel mit nigerianischen Frauen“ (2012) und eine Fachtagung zum Thema „Menschenhandel mit Frauen aus der Roma-Community“ (2013). Die Fachtagungen wurden jeweils zum 18. Oktober, dem Europäischen Tag gegen Menschenhandel, veranstaltet. Alle Maßnahmen waren an Fachpublikum – unter anderem an Polizei, Frauenhäuser, Jugendeinrichtungen, Jugendamt, Ausländerbehörden, Migrationsdienste – gerichtet.
Das Land Brandenburg hat im Jahr 2013 finanzielle Mittel für die Erstellung und den Druck der Broschüre „Handel mit Kindern“ bereitgestellt. Die gesellschaftliche Relevanz des Phänomens „Handel mit Kindern“ spiegelt sich inzwischen in vielen internationalen und nationalen rechtlichen Regularien wider. Die Broschüre versucht die verschiedenen Erscheinungsformen des Handels mit Kindern zu erfassen, die Begrifflichkeiten zu klären und auf eine gesetzliche Basis zu stellen. Die Arbeit bietet einen Überblick der Thematik und versucht eine Systematik zu entwickeln, die für weitere Auseinandersetzungen mit dem Problem sowie Schulungen eine gute Ausgangsbasis sein kann.
Im Jahr 2014 hat IN VIA mit Unterstützung des MASGF die eigene Broschüre „Lost in Cyberworld“ zum Thema Gefahren im Internet aktualisiert und um das Thema Loverboys erweitert. Die Informationsmaterialien haben Eltern und Pädagog_innen, aber auch Jugendliche, als Zielgruppe. Sie sollen für Präventionsarbeit im Land Brandenburg eingesetzt werden.
Netzwerke gegen Menschenhandel
Um Betroffenen von Menschenhandel adäquate Hilfemaßnahmen im Land Brandenburg zu sichern und ihnen den Zugang zum Hilfesystem zu erleichtern, sind nachhaltige Netzwerke von größter Bedeutung.
Im Land Brandenburg besteht der Beirat „Hilfe für Opfer von Menschenhandel und Gewalt in der Prostitution in Brandenburg“ seit dem Jahr 2000. Er wird unter der Federführung des MASGF regelmäßig organisiert. Der Beirat setzt sich dafür ein, Maßnahmen und Verfahrensweisen zum Schutz von Opfern von Menschenhandel und sexualisierter Gewalt im Land Brandenburg weiterzuentwickeln und zu verbessern. Das Gremium sammelt Erkenntnisse über Menschenhandel und führt die relevanten Akteur_innen der unterschiedlichen involvierten Bereiche (NGOs, Ministerien, Polizei, Behörden, Staatsanwaltschaft) zusammen.
Auf Initiative des Beirats wurde im Jahr 2002 eine Kooperationsvereinbarung zwischen Fachberatungsstelle und der Polizei für den Schutz von Opfern von Menschenhandel entwickelt. Diese wurde im Jahr 2005/2006 fortgeschrieben. Die Kooperationsvereinbarung wird zurzeit aktualisiert.
Die Kooperationsvereinbarung dient der Verbesserung des Kampfes gegen Menschenhandel mit den Zielen:
- mehr Unterstützung für Opfer von Menschenhandel;
- Sicherung des Personenbeweises durch mehr psychosoziale Unterstützung von potentiellen Opferzeuginnen;
- Verbesserung der Kooperation zwischen Polizei und Fachberatungsstelle durch Akzeptanz der unterschiedlichen Ziele und Kenntnisse und Akzeptanz der unterschiedlichen Aufgaben.
Vor circa zehn Jahren wurde das Netzwerk OST gegründet. Im Netzwerk OST sind die Fachberatungsstellen für Menschenhandel aus den Neuen Bundesländern vertreten – IN VIA (Berlin/Brandenburg), ZORA (Mecklenburg Vorpommern), KOBRAnet und KARO (Sachsen) und VERA (Sachsen Anhalt). Ziel des Netzwerkes ist, Erfahrungen in den Ländern auszutauschen, Ressourcen zu bündeln und bei Kooperationspartner_innen eine größere Sichtbarkeit zu erreichen.
IN VIA ist Mitglied im KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. und seit 2006 in der Vorstandstätigkeit des Vereins aktiv. Der KOK engagiert sich auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene für die Bekämpfung von Frauen-/Menschenhandel sowie für die Durchsetzung der Rechte Betroffener.