Die aktuellen Flüchtlingszahlen stellen für die deutsche Gesellschaft eine Chance dar. Doch erst müssen sie erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden - eine Herausforderung. Darüber diskutierten in Kooperation mit den Berliner Wirtschaftsgesprächen e.V. Vertreterinnen und Vetreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien am 22. Oktober 2015 in der Heinrich-Böll-Stiftung. In seiner Keynote zur Veranstaltung wirft Mekonnen Mesghena, Referent für Migration und Diversity, einen kritischen Blick auf die gegenwärtige Situation.
Tagein, tagaus: dramatische Szenen von Flucht, Angst und Hoffnung - auf dem Balkan, im Mittelmeer und in vielen Grenzregionen der Welt. Weltweit befinden sich nach Schätzungen der Vereinten Nationen ca. 60 Millionen Menschen auf der Flucht - 40 Millionen im eigenen Land, die als Internally Displaced Persons (IDPs) bezeichnet werden, und über 20 Millionen Menschen außerhalb ihres Landes. Neun von zehn Flüchtlingen leben in Entwicklungsländern, da die meisten Flüchtlinge lediglich in ein angrenzendes Nachbarland fliehen. Die größten Schutzgewährenden Länder sind weiterhin die Türkei, Pakistan, Libanon, der Iran und Äthiopien.
Weltweit stetig gestiegen ist aber auch die Zahl von internationalen Migrantinnen und Migranten: 232 Million Menschen lebten 2013 außerhalb ihres Landes (zum Vergleich: 2000 waren es noch 175 Millionen). Trotz der enorm gestiegenen Zahl von Einwanderern und Schutzsuchenden in Europa – insbesondere aber in Deutschland – bleibt die Anzahl der Menschen, die nach Europa als Migrant/innen oder Flüchtlinge kommen, weiterhin extrem gering. 2014 suchten 540.000 Menschen Schutz in der Europäischen Union.
Um Kriege, bewaffnete Konflikte, Diktaturen und Umweltzerstörungen, aber auch Armut zu entkommen und bessere Lebensperspektiven für sich und ihre Angehörigen zu finden, nehmen jährlich hunderttausende von Menschen beschwerliche und lebensgefährliche Flucht- und Migrationswege in Kauf - zu Nachbarländern, nach Europa, nach Australien oder nach Nordamerika. Manche Flüchtlinge und Migrant/innen durchqueren halbe Kontinente zu Fuß. Für viele dieser Migrant/innen und Flüchtlinge endet der Traum vom besseren Leben in Auffanglagern. Oder sie lassen ihr Leben in der Wüste oder im Mittelmeer - in den zahllosen, veralteten und völlig überfüllten Booten. Statt ein menschenwürdiges und besseres Leben finden Tausende so den Tod.
Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Kontrolle
Die Willkommenspolitik, die Deutschland seit Spätsommer 2015 gegenüber Flüchtlingen gezeigt hat, zeichnet eine besondere Wende in der deutschen, aber auch in der europäischen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. Aus Sicht von Flüchtlingsschutz und Asylpolitik war die Politik der Europäischen Union bisher vor allem eins: Abwehr und Abschreckung. Im Spannungsfeld von Zuwanderungskontrolle und Flüchtlingsschutz liegt das Gewicht eindeutig auf den restriktiven Aspekten. Als Folge der umfassenden Kontrollmechanismen (sichere Herkunftsstaaten, Dublin-Verordnung, Drittstaatenregelung, Flughafenregelung etc.) war die Zahl der Asylanträge in den meisten Mitgliedstaaten drastisch zurückgegangen, sodass sich die Frage stellt, ob die EU überhaupt noch einen substanziellen Beitrag zum internationalen Flüchtlingsschutz und zur Erhaltung des internationalen Flüchtlingsregimes leistet.
Der Fortbestand eines solchen Flüchtlingsregimes liegt aber auch im Interesse der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Nur aktive Flüchtlingspolitik kann die Glaubwürdigkeit der EU stärken, die sie dringend benötigt, wenn sie von anderen Staaten verlangen will, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
Nichtsdestotrotz steht Deutschland, aber auch Europa insgesamt, heute vor großen flüchtlings- und migrationspolitischen Herausforderungen. In vielen Weltgegenden steigt der Abwanderungsdruck. Mehr Menschen als bisher werden versuchen, vor Krieg, politischer Gewalt, Unterdrückung, wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und Umweltzerstörungen zu fliehen. Die Verschärfung kriegerischer Konflikte im Mittleren Osten und die schwierige ökonomische Situation in mehreren südeuropäischen Ländern gehören heute zu den wichtigsten Flucht- und Migrationsgründe.
Demografie und Migration
Auf der anderen Seite werden in naher Zukunft der demografische Wandel und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme und die vergleichsweise gute ökonomische Lage der Bundesrepublik die treibenden Kräfte von Migration nach Deutschland sein. In den alternden und schrumpfenden europäischen Gesellschaften wird der Bedarf an Zuwanderern zunehmen. Es herrscht Unklarheit, wie viele Einwanderer/innen benötigt werden und wie viele Flüchtlinge erwünscht sind. Unklar bleibt auch mit welchen Instrumenten die Zuwanderung gesteuert werden kann und wie Einwanderer/innen integriert werden sollen.
Es ist inzwischen ein unbestrittenes Faktum: Auf die deutsche Wirtschaft rollt ein gravierender Fachkräftemangel zu, auf den sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorbereiten müssen. Die heutige Bevölkerungszahl von 81 Millionen wird nach den heutigen demografischen Prognosen bereits ab 2023 sinken. Nach den neuesten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (April 2015) wird die Einwohnerzahl Deutschlands im Jahr 2060 67,6 Millionen (bei schwächerer Zuwanderung) bzw. 73,1 Millionen (bei stärkerer Zuwanderung) betragen. Diese Entwicklung wird vor allem auf Rente und andere Sicherungssysteme des Sozialstaates dramatische Auswirkungen haben. Heute haben wir 34 Rentenbezieher/innen pro 100 Erwerbstätige; Im Jahr 2060 sollen es 60 Rentenbezieher/innen pro 100 Erwerbstätige sein.
Die sich verändernden demographischen Verhältnisse in vielen Ländern der Welt stellen sowohl die Push als auch die Pull-Faktoren dar. Betrachten wir die Entwicklungen in den führenden Einwanderungsländern ist es der wachsende Bedarf am Arbeitsmarkt, der als wichtiger „Pull“ Faktor genannt werden kann. Ebenso auf der Seite der weniger entwickelten Länder spielt der demographische Wandel – nämlich das starke Populationswachstum – als „push“ Faktor eine bedeutende Rolle.
Die Ab-, Zu- und Einwanderung findet global und ganz undogmatisch in alle Himmelsrichtungen statt: vom Süden nach Norden, vom Osten nach Westen, vom Süden nach Süden, von Westen nach Westen etc. Dabei spielen die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Einwanderung, Flüchtlingsschutz, Arbeitsmigration und multikulturelles Zusammenleben eine navigierende Rolle.
Chancengleichheit statt Diskriminierung
Global betrachtet hat der Kampf um die besten Köpfe auch schon längst begonnen. Ungeachtet dieser Tatsachen hat Deutschland dennoch ein hausgemachtes integrations- und arbeitsmarktpolitisches Problem: die Erwerbsrate von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund klafft wie in keinem anderen OECD-Land deutlich auseinander. Die Zahl der Erwerbslosen und Langzeitarbeitslosen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland stets über den Durchschnitt, in manchen Regionen sogar doppelt so hoch - trotz guter Schul-, Berufs- oder Hochschulabschlüsse, hervorragender Sprachkenntnisse und Zusatzqualifikationen. Menschen mit Migrationshintergrund – dazu zählen selbstverständlich auch Geflüchtete – kommen nicht reibungslos in den qualifizierten deutschen Arbeitsmarkt. Die Benachteiligungen im Erwerbsleben führen zur Abwanderung zahlreicher Hochschulabsolvent/innen, obwohl Deutschland ihre Heimat ist und qualifizierte Fachkräfte hierzulande dringend gebraucht werden.
Die Förderung von Chancengleichheit und die Überwindung von Diskriminierung haben in der Europäischen Union einen hohen Stellenwert. Zu Recht. Denn Diskriminierungen und strukturelle Barrieren – vor allem solche am Arbeitsmarkt, im Betrieb oder in der Bildung – verletzen die Menschenwürde, behindern den gesellschaftlichen Aufstieg und verstärken mit der sozialen Ungleichheit den Statuswettbewerb. Kurz: Rassismus, Diskriminierung und soziale Barrieren verhindern bei den Betroffenen ein Gefühl der Zugehörigkeit und schwächen den sozialen Zusammenhalt als Ganzen. Erst in einer aufstiegsoffenen Gesellschaft, die das Schicksal der Menschen nicht an ihre Herkunft und Gruppenzugehörigkeit knüpft, können sich Talente, Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative entfalten.
Kaum eine andere Forderung in der politischen Diskussion ist aber so wenig umstritten wie die Forderung nach gleichen Chancen für alle: Chancen auf ein gutes Einkommen, auf einen sicheren Arbeitsplatz, auf ein gesundes Leben, auf Akzeptanz und Anerkennung – kurz: auf die Chance, eine gute Position in der Gesellschaft zu erreichen. Für alle soll die Chance bestehen, durch eigene Anstrengungen aus schlechteren Verhältnissen etwas Besseres zu erreichen und sozial aufzusteigen – so wie dies nach allgemeiner Wahrnehmung in den Nachkriegsjahrzehnten in Deutschland möglich war. Doch gilt dieses Versprechen tatsächlich, unabhängig von sozialer Herkunft, Migrationshintergrund oder Geschlecht? Gilt das Versprechen für alle oder doch nur für bestimmte Gruppen? Wenn Herkunft der bestimmende Faktor für Lebenschancen ist, müssen wir uns fragen, was aus dem Versprechen geworden ist, dass Bildung, Arbeit und Leistung den Weg zum Aufstieg öffnen – und zwar für alle!
Diskriminierende Strukturen und Einstellungen, die zur beharrlichen Abwertung und Marginalisierung ganzer gesellschaftlicher Gruppen führen und ihren sozialen Aufstieg behindern, müssen effektiver abgebaut werden. Es soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass in den letzten Jahren eine Reihe gute und richtige Ansätze in dieser Richtung entwickelt worden sind. Auch in der Wirtschaft steigt angesichts dramatischer demografischer Prognosen das Interesse an der Rekrutierung von qualifizierten Arbeitskräften aus allen Bevölkerungsgruppen und -schichten, die bislang nicht attraktiv zu sein schienen.
Schulen, Hochschulen und berufliche Qualifizierung müssen so ausgestattet werden, dass sie auch jenen Bildungserfolge, Arbeitsmarktintegration und sozialen Aufstieg ermöglichen, die nicht aus privilegierten sozialen Milieus oder Elternhäusern kommen. Im Interesse der Gesellschaft, des sozialen Friedens und der Ökonomie gilt es, das Versprechen der Chancengleichheit als gemeinsames Ziel anzustreben und umzusetzen.
Man muss allerdings auch wissen, dass gerade in Zeiten der Globalisierung und starker Mobilität gut ausgebildete und Qualifizierte häufig zur Emigration tendieren. Fehlende Arbeitsmarktangebote, fehlender Anreiz für Karrieren, mangelhafte Integrationspolitik und Diskriminierung motivieren sie das Weite zu suchen. Denn sie wissen: Irgendwo werden sie mit offenen Armen empfangen.