Um die Handlungsfähigkeit in der Krise zurückzugewinnen, brauchen wir jetzt mehr als guten Willen und Empathie: eine europäische Lösung und ein gemeinsames Band zwischen den vielen Verschiedenen.
Die Flüchtlingskrise hat das Zeug für eine Zerreißprobe. Eine Welle der Hilfsbereitschaft trifft auf rechtspopulistische Bewegungen und fremdenfeindliche Stimmungen. Die Europäische Union scheint gelähmt, nationale Egoismen gewinnen die Oberhand. Das Zutrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik schwindet. Der öffentliche Diskurs schwankt zwischen "Schotten dicht" und "Offene Grenzen für alle". Beides ist irreal, aber von starken Emotionen getragen.
Wer kein Öl ins Feuer gießen will, muss einen dritten Weg zwischen Abschottung und Grenzenlosigkeit suchen. Flüchtlingspolitik ist zu brisant, um sie parteipolitisch auszuschlachten. Sie braucht den größtmöglichen gesellschaftlichen Konsens. Alles andere spielt den rechtspopulistischen Rattenfängern in die Hände. Die politisch Verantwortlichen dürfen die Massenflucht aus den Kriegsregionen des Mittleren Ostens weder als schicksalhaftes Naturereignis hinnehmen noch so tun, als könnten wir Millionen entwurzelter Menschen durch Zäune und Mauern fernhalten.
Der Illusion, dass uns Kriege und Staatszerfall in unserer Nachbarschaft nicht betreffen, hat Europa schon viel zu lange gefrönt. Die europäische Politik muss in dieser Kernfrage ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Sonst wird aus der Flüchtlingskrise eine Krise der Demokratie.
Nationale Alleingänge verschlimmern die Lage
Es gibt nur einen europäischen Ausweg aus der aktuellen Krise. Alle Versuche, den Problemen mit nationalen Alleingängen zu begegnen, verschlimmern die Lage. Die massenhafte Abwehr von Flüchtlingen an den deutschen Grenzen würde nur das europäische Chaos verschärfen. Es gibt kein Zurück zu einem Regime, in dem sich Deutschland auf Kosten seiner Nachbarstaaten (alles "sichere Drittstaaten") freistellen wollte.
Umgekehrt ist auch ein Zustand nicht tolerierbar, in dem andere europäische Staaten sich lediglich als Fluchthelfer auf dem Weg nach Deutschland verhalten. Eine konzertierte europäische Politik nach außen wie nach innen ist überfällig. Die Frage nach Verteilungsquoten ist dabei sekundär. Dafür wird sich so lange kein Konsens finden lassen, wie die EU keine effektive Politik zur Steuerung und Begrenzung der Einwanderung gefunden hat.
Die meisten europäischen Gesellschaften werden sich nicht auf Verpflichtungen einlassen, deren Größenordnung sie nicht kennen. Es sind ja nicht nur Polen und andere Staaten des östlichen Mitteleuropa, die sich mit der Aufnahme von Flüchtlingen schwertun. Auch in Frankreich oder Großbritannien hält sich die Bereitschaft in engen Grenzen. Monsieur Hollande sitzt Marine Le Pen im Nacken, Mister Cameron fürchtet Ukip. Es wird auch in dieser Frage kein "deutsches Europa" geben. Die Deutschen als Lehrmeister in Sachen Flucht und Migration - das ertragen die anderen Europäer noch weniger als Deutschland als ökonomischer Zuchtmeister.
Niemand kennt die Grenzen der Integrationsfähigkeit
Wir bewegen uns in einem Dilemma, für das es bisher keine Auflösung gibt: Die Genfer Konvention kennt keine Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Darauf hat die Kanzlerin nüchtern verwiesen. Gleichzeitig gibt es Grenzen der Aufnahmefähigkeit, um mit dem Bundespräsidenten zu sprechen. Wenn 200 Bürgermeister aus Nordrhein-Westfalen in einem Brandbrief an die Kanzlerin die weiße Fahne hissen, kann man das nicht als Kleinmut abtun.
Praktische Probleme erfordern praktische Antworten. Niemand kann heute sagen, wo genau die Grenzen der Integrationsfähigkeit von Flüchtlingen liegen, die mit einem sehr durchwachsenen Bildungsniveau und einem sehr verschiedenen kulturellen, religiösen und politischen Handgepäck nach Deutschland kommen. Das hängt nicht nur von der Integrationsbereitschaft der Flüchtlinge, sondern ebenso von der Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft ab.
Dabei geht es nicht nur um guten Willen und Empathie, sondern um sehr viel Geld für Wohnungsbau, Sprachkurse, Kindergärten, Schulen, Sozialarbeit, berufliche Bildung, gesundheitliche Versorgung. All das ist selbst für eine relativ wohlhabende Gesellschaft nicht aus dem Ärmel zu schütteln. Ehrenamtliches Engagement kann viel bewegen, aber keine professionellen Strukturen ersetzen.
Die jahrelang verschleppte Debatte über eine moderne Einwanderungspolitik, die verschiedene Zugangswege miteinander kombiniert, muss jetzt im Eiltempo nachgeholt werden. Angesichts der Größenordnung aktueller und künftiger Flüchtlingszahlen hat es keinen Sinn, auf der strikten Trennung von Flucht und Arbeitsmigration zu bestehen - es müssen Übergänge von einem Status in den anderen geöffnet werden.
Gleichzeitig darf die Politik keinen Zweifel daran lassen, dass sie das geltende Recht auch durchsetzt. Das gilt auch für die Abweisung respektive Abschiebung derjenigen, die keinen Aufenthaltstitel geltend machen können. Wenn wir das Asylrecht verteidigen wollen, dürfen wir es nicht überdehnen.
Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben
Wie also lässt sich politische Steuerungsfähigkeit angesichts des Flüchtlingsdramas zurückgewinnen? Das ist in erster Linie eine Frage europäischer Nachbarschaftspolitik. Wie viele Migranten ihr Heil bei uns suchen, entscheidet sich nicht an den deutschen Grenzen. Auch die Höhe der finanziellen Zuwendungen für Flüchtlinge hat darauf vermutlich nur einen marginalen Einfluss.
Entscheidend ist, ob die Abermillionen verzweifelter Menschen in den benachbarten Kriegs- und Krisenregionen eine andere Perspektive für sich und ihre Kinder sehen. Kaum jemand nimmt die Strapazen und die Ungewissheit, die mit dem langen Weg nach Westeuropa verbunden sind, wegen bloßer finanzieller Vorteile auf sich. Die Allermeisten brechen aus nackter Not und Verzweiflung auf.
Deshalb ist der Dreh- und Angelpunkt einer ethisch vertretbaren wie praktisch umsetzbaren Begrenzung die Verbesserung der Lage derjenigen, denen der Boden unter den Füßen brennt. Europa muss diesen Menschen die Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben zurückgeben, und zwar auch jenseits der europäischen Grenzen.
Das erfordert zum einen ein hartnäckiges Engagement zur Einhegung des Kriegs in Syrien sowie zur Stabilisierung der Lage in Afghanistan, dem Irak und Libyen - mit allem, was dafür nötig ist.
Die zweite große Herausforderung liegt in einer Verständigung mit den Staaten, die gegenwärtig den Löwenanteil der Kriegsflüchtlinge beherbergen: Türkei, Libanon und Jordanien. Dabei geht es um Finanzhilfen für Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Bildung, aber auch um Erwerbsmöglichkeiten und einen sicheren Aufenthaltsstatus.
Dass dafür auch ein politischer Preis fällig ist, hat Erdogan gerade gegenüber Angela Merkel demonstriert. Er sitzt in der Flüchtlingskrise am längeren Hebel. Teil eines solchen Arrangements muss auch die verbindliche Zusage der EU sein, ein großes jährliches Kontingent von Flüchtlingen aufzunehmen. Dafür sollten Außenstellen der EU in benachbarten Ländern aufgebaut werden, in denen Flüchtlinge einen Einreiseantrag stellen können. Wer unter die Aufnahmekriterien der Genfer Flüchtlingskonvention fällt, kann dann ganz legal einreisen.
Der hier beschriebene Weg erfordert Zeit, Beharrlichkeit und sehr viel Geld. Die Alternative wäre eine zunehmend hässlich-schikanöse Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen, um sie von Westeuropa fernzuhalten. Die Erfolgsaussichten einer solchen Politik sind zweifelhaft, ihr politischer und humanitärer Preis extrem hoch.
Wer den Flüchtlingen das Ankommen möglichst verleiden will, verhindert damit ihre möglichst rasche und erfolgreiche Integration. Am Ende gäbe es nur Verlierer. Umgekehrt werden wir die viel beschworene "Willkommenskultur" gegenüber den Neubürgern nur halten können, wenn die Bevölkerung nicht den Eindruck gewinnt, dass sich die massenhafte Zuwanderung jeder Steuerung entzieht.
Gelebte politische Kultur
Ethnische und kulturelle Vielfalt kann ein produktiver Faktor sein. Zugleich ist Einwanderung in so großen Dimensionen - zumal von Menschen aus anderen Lebenswelten - ein Stresstest auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Je größer die Unterschiede mit Blick auf Tradition und Religion, Sitten und Gebräuche, desto mehr braucht es ein gemeinsames Band zwischen den vielen Verschiedenen. Einwanderungsgesellschaften müssen ihren Zusammenhalt als politische Gemeinschaft organisieren, deren Fundament gemeinsame Werte und Institutionen bilden.
Darin liegt die Wahrheit des viel beschworenen Verfassungspatriotismus. Er kommt jedoch reichlich abstrakt daher, solange sich das Grundgesetz nicht in einer gelebten politischen Kultur manifestiert, in der Werte wie Menschenwürde, Demokratie, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Pluralismus praktisch werden. Eine politische Gemeinschaft entsteht durch gemeinsames Handeln im öffentlichen Raum. Sie braucht gemeinsame Erzählungen, Gedenktage, Debatten und eine Praxis politischer Teilhabe, die Zugehörigkeit stiftet.
Wer nach Deutschland einwandert, wandert in eine bestimmte Geschichte ein, zu der auch die Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoa gehört. Und er wandert in ein Land ein, das sich nach Kräften bemüht, ein ziviles, demokratisches Gemeinwesen zu sein.
Je selbstbewusster wir diese demokratische Kultur leben und vermitteln, desto besser. Selbstbewusstsein bedeutet gelassene Stärke. Auf beides kommt es an.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 28.10.2015 auf Spiegel Online.