Beinahe jede vierte in Deutschland lebende Person hat eine eigene oder familiäre Migrationsgeschichte. Wenn man sich die Zusammensetzung des Bundestags oder der Landesparlamente ansieht, wird jedoch klar: Die gesellschaftliche Diversität spiegelt sich politisch nicht wider.
Der Mediendienst Integration misst nach jeder Bundestagswahl den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund im Bundestag. Im aktuellen 19. Deutschen Bundestag haben von 709 gewählten Abgeordneten, 58 einen Migrationshintergrund. Das entspricht einem Anteil von 8,2% (Mediendienst Integration 2017: 3). Zwar ist dieser Anteil so hoch wie niemals zuvor, es herrscht allerdings noch immer ein starkes Missverhältnis zum tatsächlichen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Dieser lag 2017 gesamtgesellschaftlich bei 23,6%. Auch die Aufteilung von „Mihigrus“ (wie sie Ferda Atamann liebevoll nennt) zwischen den Parteien ist sehr ungleich. Die Linke hat im Bundestag mit 18,8% den höchsten Anteil an Neuen Deutschen. Bei den Grünen sind es 14,9% und den regierenden Unionsparteien nur 2,9% (vgl. ebd.).
Paradox ist zudem: Die Verdreifachung der Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund in den Parlamenten in den letzten zwanzig Jahren ist nicht auf eine diversitätsorientierte Öffnung der Parteien zurückzuführen. Diejenigen, die es ‚geschafft‘ haben, haben es trotz und nicht aufgrund der Bedingungen geschafft (vgl. Donovan 2007: 458).
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen schließen restriktive Einwanderungs- und Einbürgerungsgesetze einen großen Teil der in Deutschland lebenden Zuwanderer/innen aus dem demokratischen Beteiligungsprozess aus. Zusätzlich dazu begreifen die Parteien erst allmählich, dass sie ohne Öffnung ihrer diskriminierenden Strukturen nicht nur Schwierigkeiten haben werden, neue Mitglieder zu rekrutieren, sondern auch einen Legitimationsverlust hinnehmen müssen. Insbesondere beim Nominierungsprozess von Kandidat/innen für die Wahlen, werden Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nachweislich weniger berücksichtigt, als autochthone Deutsche. Nur in Wahlkreisen mit stark migrantischer Wähler/innenschaft ‚wagen‘ es die lokalen Kreisvorstände und stellen einen Kandidaten, bzw. eine Kandidatin nicht-deutscher Herkunft auf.
Weichenstellung in der Schule
Ungleiche Ausgangsbedingungen für die Lebenswege der hier lebenden Menschen, werden aber bereits in der Schule geschaffen. Menschen mit Zuwanderungsgeschichte erfahren dort weitaus mehr Diskriminierung, als autochthone Deutsche. Das zeigt sich vor allem beim Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule. Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund wird oftmals – trotz guter Noten – das hohe Leistungsniveau an einem Gymnasium nicht zugetraut. Das Lehrpersonal und die Schulleitung begründen dies nicht selten mit der vermeintlichen Bildungsferne der Eltern (El-Malfaalani 2012).
Tatsächlich ist es aber vielmehr so, dass bildungsbenachteiligte Menschen mit Einwanderungsgeschichte dieses Defizit in Form einer erhöhten Bildungsaspiration auf ihre Kinder übertragen (vgl. Tepecik 2011: 259). Ebru Tepecik hat herausgefunden, dass die unerfüllten Aufstiegsträume der Eltern innerhalb der Familie von den Kindern und Jugendlichen inkorporiert wird (ebd.: 261).
Politisierung und Professionalisierung in migrantischen Selbstorganisationen
Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte werden in migrantischen Selbstorganisationen aufgrund ihrer sehr guten Deutschkenntnisse oftmals bereits in jungen Jahren mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut. Sie werden dadurch zum unverzichtbaren Teil der Organisation. Das stärkt das Selbstbewusstsein und ermöglicht die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Die späteren Abgeordneten wurden in den Jahren des zivilgesellschaftlichen Engagements an politische Prozesse herangeführt und konnten ihre Fähigkeiten erproben. Das Engagement in den migrantischen Selbstorganisationen entfaltet somit ein integrierendes Potenzial und wirkt sich auch durchaus positiv auf die spätere politische Karriere aus.
Ganz besonders wichtig für Neumitglieder mit Migrationsgeschichte haben sich Arbeitsgemeinschaften von POCs und Menschen mit Diskriminierungserfahrungen (wie z.B. Bunt-Grün) erwiesen. Diese können das Ankommen in der Partei erleichtern, weil die AGs diskriminierungsfreie Räume darstellen, die den Austausch mit Menschen mit ähnlichen Biografien wie die eigene ermöglichen. Darüber entstehen nicht selten Unterstützer/innen-Netzwerke von Menschen mit ähnlichen Migrationsbiographien.
Wir haben Integrations- und Migrationsthemen nicht in der DNA!
Der Politikbereich Migration/Integration ist für Politiker und Politikerinnen mit Zuwanderungsgeschichte in vielen Fällen das Einfallstor in die politische Sphäre. Gutiérrez Rodríguez (2003: 82) sieht hier aber die Gefahr zum „Herkunftskultur-Spezialisten“ oder „kulturellen Botschafter“ zu verkommen. Auch andere befürchten dadurch eine weitere Kulturalisierung der Politik (u.a. Castro Varela und Dhawan 2004: 212). Einige Abgeordnete mit Migrationshintergrund entscheiden sich aus eben diesen Gründen zu Beginn ihrer politischen Karriere ganz bewusst dagegen, migrations- und integrationspolitische Ämter zu bekleiden. Sie befürchten auf den Migrationsaspekt ihrer Identität reduziert zu werden. Allen migrantischen Abgeordneten ist jedoch gemein, dass sie ihre, durch die eigene Migrationserfahrung geprägte, Perspektive in die politischen Prozesse einbringen. Sie verstehen Integrationspolitik als Querschnittsaufgabe, die sich durch alle Politikbereiche zieht. Oftmals fühlen sie sich eher sozial marginalisierten Gruppen verpflichtet, zu denen leider viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zählen.
Die Spezialisierung auf migrations- und integrationspolitische Fragen wird daher zwar oft als eine Sackgasse wahrgenommen (vgl. Sinanoglu/Volkert 2011: 8), aus der heraus keine politische Karriere innerhalb der Partei mehr möglich ist. Und dennoch kann sie den Einstieg in die Politik durchaus erleichtern.
Gefahr des Tokenismus
Neben der Frage nach den Ursachen für die politische Unterrepräsentation von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, muss man sich auch die Frage nach der Form der Vertretung stellen. Es gibt in einer Demokratie nicht die eine richtige Form von Repräsentation. Fest steht hingegen, dass Minorisierte überhaupt eine Möglichkeit zur Selbst-Repräsentation bekommen müssen. Insbesondere Politikerinnen mit Zuwanderungsgeschichte laufen Gefahr von ihrer Partei als Token benutzt zu werden. Zusätzlich konkurrieren Frauen mit Zuwanderungsgeschichte in vielen Fällen gegen herkunftsdeutsche Kandidatinnen um die geschlechterquotierten Listenplätze. Die Plätze der männlichen Kandidaten bleiben dabei unberührt. In diesem Sinne hat die Einbindung einiger weniger Minorisierter als token representatives zur Folge, dass die hegemoniale Mehrheit ihre Macht sogar noch weiter zementiert wird (vgl. Castro Varela/Dhawan 2007: 41).
Wenn die politische Integration von Menschen mit Migrationshintergrund eine generöse Ausnahme bleibt und nicht zur Regel wird, wird der Ausschluss von Minorisierten verstetigt. Das muss aber nicht automatisch heißen, dass Frauen in der Form einer token representative, die ihre Partei für sie vorsahen, verbleiben. Sie sind durchaus in der Lage, sich aus dieser, auf Fremdzuschreibung basierenden Position heraus zu emanzipieren. Wenn es ihnen gelingt ihr politisches Profil über einen reinen Migrations- und Integrationsfokus hinaus zu erweitern und ein parteiinternes Netzwerk auszubilden, können sie dadurch machterhaltende Funktionen entwickeln und ihre Form der Vertretung eigenständig wählen.
Die Repräsentationslücke schließen – aber wie?
Ich möchte an dieser Stelle drei konkrete Maßnahmen vorschlagen, welche die Repräsentationslücke für Menschen mit Migrationshintergrund schließen könnten:
- Gesetzliche Einbürgerungsregelung müssen weiter erleichtert und die doppelte Staatsbürgerschaft grundsätzlich ermöglicht werden. Somit würden Einwander/innen schneller an das demokratische System in Deutschland herangeführt, könnten wählen gehen und sich selbst zur Wahl stellen. Leider ist die Trendwende im Staatsbürgerschaftsrecht derzeit aber eher wieder auf die achtziger Jahre eingestellt. Staatsbürgerschaft wird mit der bevorstehenden Reform als eine Anpassung an eine deutsche Leitkultur verstanden - nicht als ein Anspruchsrecht!
- Die Parteien müssen in die Pflicht genommen werden, Menschen mit Einwanderungsgeschichte politische Teilhabe gleichermaßen wie Herkunftsdeutschen zu ermöglichen. Abgeordnete und einfache Parteimitglieder/innen haben natürlicherweise kein Interesse daran, sich innerparteiliche Konkurrenz zu schaffen. Daher ist die Schaffung von verbindlichen Quotenregelungen vor allem von eher konservativen Parteien in naher Zukunft nicht zu erwarten. Die Unterrepräsentation von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte kann aber nur durch gesetzliche Regelungen oder einem massiven Druck ‚von unten‘ (von der Parteibasis oder auch der Zivilgesellschaft) ausgeglichen werden. Es braucht Maßnahmen für eine größere zahlenmäßige Repräsentation von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte (=deskriptive Repräsentation), um dann im zweiten Schritt eine substanzielle Repräsentation von Minorisierten zu erreichen. Dieser Prozess wird nicht konfliktfrei verlaufen. Wie Aladin El-Mafaalani in seinem Buch „Das Integrationsparadox“ (2018) anschaulich dargelegt hat, führt mehr Integration nicht zu weniger Konflikten – im Gegenteil. Wenn mehr Akteure auf legitime Weise ihren Platz an Entscheidungsfindungspositionen einfordern, ruft das einen starken Widerstand der bis dato Privilegierten hervor.
- Sollten sich einzelne Parteien auf Landesebene wider Erwarten doch auf eine Quotenregelung einigen, müssen Frauen und Männer mit Migrationshintergrund abwechselnd berücksichtigt werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass zwei Quoten mit einer Person erfüllt und nur Frauen mit Migrationshintergrund nominiert werden (vgl. Steg 2016: 358).
Mit interkultureller Öffnung gegen den Mitgliederschwund in den Parteien
Es zeichnet sich in den letzten Jahren eine erhöhte Sensibilität für Diversität und damit verbunden, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der diversitätsorientierten Öffnung verschiedenster Institutionen ab. Der maßgebliche Antrieb für diese Veränderungen kommt aber nicht aus der Politik, sondern vielfach aus der Zivilgesellschaft und von den Betroffenen selbst (z.B. von Neuen Deutschen Organisationen wie DeutschPlus oder Neue Deutsche Medienmacher). Eine gesellschaftliche Gleichstellung ist damit noch lange nicht erreicht.
Es ist nicht auszuschließen, dass vor dem Hintergrund des Mitgliederschwunds von Parteien und dem Legitimationszwang in Hinblick auf die sich immer weiter diversifizierende Gesellschaft, gänzlich neue politische Strukturen entstehen werden. Die politische Integration von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Parteien oder das politische System in Deutschland allgemein, könnte dadurch von Seiten der Minorisierten als nicht länger wünschenswert betrachtet werden. Insbesondere mit der dritten Generation wachsen ‚Neue-Deutsche‘ heran, die selbstbewusst und selbstverständlich ihren Platz in gesellschaftlich entscheidenden Positionen einfordern. Deswegen ist abschließend die Prognose, dass Neue Deutsche an diesem politischen Wandel einen großen Anteil haben werden, sehr plausibel.
Theresa Singer hat Internationale Entwicklung und European Studies in Wien und Frankfurt (Oder) studiert.
Quellen:
Castro Varela, María do Mar und Nikita Dhawan (2007): ‚Migration und die Politik der Repräsentation‘ In: Broden, Anna und Paul Mecheril (Hg.) Re-Präsentationen. Dynamiken der Migrationsgesellschaft, Düsseldorf: IDA-NRW.
Donovan, Barbara (2007): ‘Minority Representation in Germany’, German Politics, 16, 4, S. 455-480.
El-Mafaalani, Aladin (2012): BildungsausfsteigerInnen aus benachteiligten Milieus. Habitustransformation und soziale Mobilität bei Einheimischen und Türkeistämmigen. Wiesbaden: Springer VS.
Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (2003): ‚Repräsentation, Subalternität und postkolonle
Kritik‘. In: Steyerl, Hito und Encarnción Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster: UNRAST‐Verlag. S. 17‐37.
Höhne, Benjamin (2017): ‚Wie stellen Parteien ihre Parlamentsbewerber auf? Das Personalmanagement vor der Bundestagswahl 2017‘. In: Koschmieder, Carsten (Hg.) Parteien, Parteiensysteme und politische Orientierungen. Aktuelle Beiträge aus der Parteienforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 227-253.
Mansbrdige, Jane (2003): ‘Rethinking Representation’, American Political Science Review, 97, 4, S. 515-528.
Mediendienst Integration (2017): Politische Teilhabe. Abgeordnete mit Migrationshintergrund im 19. Deutschen Bundestag. Online verfügbar unter: https://mediendienstintegration.de/fileadmin/MDI_Recherche_Bundestag_20… [Zugriff am 03.01.2019].
Sinanoglu, Cihan und Daniel Volkert (2011): ‚Politische Partizipation und die Präsenz von Menschen mit Migrationshintergrund in den Räten deutscher Großstädte: Vielfalt oder Einfalt?‘ In: Politische Partizipation und Repräsentation in der Einwanderungsgesellschaft, Dossier Heinrich-Böll-Stiftung.
Steg, Christian (2016): Die Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl. Analyse der Nominierungen von CDU und SPD in Baden-Württemberg zur Bundestagswahl 2009, Baden-Baden: Nomos.
Tepecik, Ebru (2011): Bildungserfolge mit Migrationshintergrund. Biographien bildungserfolgreicher MigrantInnen türkischer Herkunft. Wiesbaden: VS Verlag.