„Für meine Eltern ist Homosexualität eine Sünde“

Interview

Katholisch und homosexuell – wie passt das zusammen? Im Interview erzählt Ana, die in Berlin als Tochter kroatischer Einwander*innen aufgewachsen ist, von ihrem Glauben, Schuldgefühlen und ihrer ersten Liebe zu einer Frau. 

Plakat mit Regenbogen und der Aufschrift "Love is love"

In Deutschland leben 23 Mio. Katholik*innen. Die Austrittsquote belief sich 2018 mit 216.078 Mitgliedern auf 0,93 Prozent. Die Mitgliederzahlen sind seit Jahren rückläufig. Immer wieder tauchen in den Zeitungen Artikel von Priestern auf, die sich outen oder neue Zitate des Papstes, die auf eine alte oder wie im April 2019 eine neue Richtung hinweisen. Die Rede ist von der Haltung der katholischen Kirche zum Thema Homosexualität. Mit der rechtlichen Einführung der sogenannten „Homoehe“ in den meisten westlichen Ländern verstaubt das Image der katholischen Kirche immer mehr und aus der Mitte ihrer Anhänger*innen wird das Reformbedürfnis und der Druck zur Revision ihrer Sexualmoral deutlich.

Wie es ist homosexuell und katholisch zu sein, erzählt uns Ana, die in Berlin als Tochter kroatischer Einwander*innen aufgewachsen ist, mit Eltern, die viel Wert auf den Glauben gesetzt haben. 

Tatjana Cuk: Bist du gläubig?

Ana: Was heißt Glaube? Ich denke, dass es eine höhere Macht gibt, allerdings nicht mehr im Sinne der katholischen Kirche.

Welche Rolle spielte der katholische Glaube im Alltag deines Heranwachsens?

Im Alltag hat sich das in Gebeten vor den Mahlzeiten manifestiert. Generell wurden mir die christlichen Werte vermittelt, wie beispielsweise Nächstenliebe oder die zehn Gebote. Darüber hinaus besteht ein Hang zur Tradition, d.h. es wird einem vermittelt, dass es ein Privileg ist katholisch geboren zu sein, welches von Generation zu Generation weitergegeben werden sollte. Es besteht sogar ein Gefühl von Überlegenheit gegenüber Nichtkatholiken. Dieses Privileg sollte man respektieren und an die Nachkömmlinge weitergeben. Damit bin ich aufgewachsen. 

Wie stehen deine Eltern zu dem Thema Homosexualität?

Für meine Eltern ist Homosexualität eine Sünde. Wenn man eine solche Neigung verspürt, sollte man Gott um Vergebung bitten und sich fragen, was Jesus einem raten würde, um eine Antwort im geistigen Sinne zu bekommen. Die Homosexualität wird als eine Versuchung Satans betrachtet, der man sich widersetzen muss und so könnte man schließlich auch beweisen, dass man Jesus treu ist. Es heißt, man beweise mit der Unterdrückung homosexueller Neigungen den wahren Glauben.

Wann hast du gemerkt, dass du homosexuell bist?

Mit 17 Jahren lernte ich meine erste Freundin durch eine gemeinsame Bekannte kennen. Ich muss dazu sagen, dass ich nicht gedacht habe, dass ich lesbisch bin, sondern zunächst durch meinen unbewussten ‚Gaydar‘ gemerkt habe, dass sie lesbisch ist. Ich hab damals nicht mal ansatzweise daran gedacht, dass das auf mich zutreffen könnte. Damals in den 1990ern ging man noch nicht so offen damit um wie heutzutage. Wir haben uns auf Anhieb sehr gut verstanden und wurden Freundinnen.

Nach ca. 6 Monaten unserer Bekanntschaft wurden wir so enge Freundinnen, dass sie von meinen Eltern zu Karfreitag eingeladen wurde und wir gemeinsam Ostern feierten. Ironischerweise war das der Tag als wir uns näherkamen. Wir haben ein bisschen Wein getrunken und sind schlafen gegangen. Als sie mir erzählte, dass sie das Gefühl hatte von einer flüchtigen Bekannten angemacht worden zu sein, verspürte ich zum ersten Mal Eifersucht. Wir küssten uns.

Es war ein Feuerwerk der Gefühle und im nächsten Moment wurde mir schlecht. Mit dem Feuerwerk aus Zuneigung und der Sehnsucht nach körperlicher Nähe stellte sich bei mir fast gleichzeitig das schlechte Gewissen ein, gesündigt zu haben und mir wurde so schlecht, dass ich mich übergeben musste. Sie dachte natürlich, dass es mit ihr zu tun hätte, dass ich den Kuss widerlich fand und rannte weg, während ich im Badezimmer war.

Ich wusste nicht wie mir geschah und tat am nächsten Tag so, als wüsste ich aufgrund des Alkoholkonsums nicht, was passiert war. Nachdem sie mir vom Kuss erzählt hatte, kamen wir zu dem Schluss, dass uns eine so tiefe Freundschaft verband, die aufgrund der starken Gefühle, die wir füreinander hatten, aus dem Ruder gelaufen sei. Wir einigten uns auf eine tiefe Freundschaft und gingen wieder schlafen.

Wir versuchten es als Ausrutscher abzutun. Ich wollte nicht lesbisch sein. Irgendwann nachts wachten wir auf und es blieb nicht beim Kuss. Danach wurde mir klar, dass ich homosexuelle Neigungen hatte. Am nächsten Tag, als sie nach Hause ging, blieb ich alleine und weinte den halben Tag vor lauter Schuldgefühlen. Ich betete und bat Gott um Vergebung, weil ich gesündigt hatte. Am meisten hatte ich Angst vor der Strafe Gottes, die aufgrund meines Verhaltens andere Familienmitglieder treffen könnte. Es war eine belastende Bürde, die ich noch für lange Zeit danach trug, auch während unserer Beziehung, die folgte.  

Hast du jemals die Beichte diesbezüglich abgelegt?

Nein, dazu hatte ich keinen Mut. Ich hätte es nicht ertragen vom Priester verurteilt zu werden. Ich wusste, was mich erwarten würde. Also beschloss ich nie die Beichte diesbezüglich abzulegen. 

Welche Rolle spielte der Glaube in Bezug auf deine sexuelle Orientierung?

Ich hatte lange Zeit die Hoffnung und hielt an der Überzeugung fest, dass es eines Tages vorübergehen würde, dass die Neigung irgendwann verschwinde. Die Beziehung führten wir mit einem vereinbarten Verfallsdatum. Zunächst gaben wir uns ein Jahr, dann drei Jahre und irgendwann bis zu unserem 25. Lebensjahr, um im Sinne der Gesellschaft und gleichzeitig im Rahmen des Glaubens die Möglichkeit zu haben, eine „ernsthafte“ Beziehung zu einem Mann aufzubauen, um eine Familie zu gründen. Entgegen dieser Vorstellung blieben wir schließlich fast 20 Jahre zusammen. 

Hattest du Schuldgefühle aufgrund des Glaubens?

Anfangs ja, sehr starke. Im Laufe der Zeit, durch die Erfahrung und das Zusammenwachsen in der Beziehung wurden die Schuldgefühle immer kleiner, bis sie sich schließlich auflösten. Aber es hat eine relativ lange Zeit gedauert.

Besonders stark ausgeprägt ist im katholischen Glauben das Dogma „kein Sex vor der Ehe“. Wie stehst du dazu? 

Meine Eltern thematisierten das zwar nicht direkt, aber es war klar, dass einer Frau, die als Jungfrau in die Ehe geht, dem Glauben nach ein Mehrwert zugesprochen wird. Diese Wertschätzung steht in direkter Verbindung damit Mutter zu werden. Wenn sie nicht als Jungfrau in die Ehe ginge, laufe sie Gefahr nicht diese Wertschätzung vom Mann zu bekommen und dann müsste sie sich bei negativen Konsequenzen in der Ehe nicht wundern, warum das so ist.

Welchen Einfluss hatte das Dogma auf deine Sexualität im praktischen Sinne?

Sexuelle Praktiken haben nach der katholischen Lehre den Sinn der Fortpflanzung. Dieser entfällt ja bekanntlich beim homosexuellen Geschlechtsverkehr, sodass es schwierig ist das Dogma mit der Homosexualität zu vereinen. Man könne zwar auch den Sex genießen, aber nur, wenn er in diesem Sinne vollzogen wird. Das bedeutet, Sex kann ausschließlich zwischen Mann und Frau stattfinden.

Somit sind homosexuelle Praktiken verwerflich, genauso wie analer oder oraler Sex, unabhängig von der sexuellen Orientierung. Insbesondere die Verwerflichkeit des oralen Sexes schränkte mich natürlich in meinem lesbischen Sexualverhalten enorm ein, vor allem zum Nachteil meiner Partnerin. Ich kann ihn zwar zulassen, aber selbst nicht an jemandem vollziehen. Vielleicht wirkt der religiöse Moralkodex in dieser Hinsicht in mir immer noch nach.

In meiner persönlichen Moralvorstellung gab es eine Art Abstufung der Verwerflichkeit, d.h. dass der Sex zwischen zwei Männern mir verwerflicher erschien, als der Sex zwischen Frauen. Wir tauschten ja quasi „nur“ Zärtlichkeiten aus. Obwohl ich wusste, dass homosexueller Geschlechtsverkehr an sich eine Sünde darstellt, war es für mich eine Art Schadensminimierung im Sinne von „Ich habe zwar gesündigt, aber nicht so stark, wie es Männer tun“. 

Wie vereinbarst du für dich persönlich den Glauben mit deiner sexuellen Orientierung?

Heute kann ich das, aber es war ein schmerzhafter und langwieriger Prozess. Meiner Meinung nach sollte der Glaube nicht dazu dienen, um die Menschen einzuschränken. Er ist ansonsten einfach nicht mehr zeitgemäß. Im Laufe der Zeit und durch meine persönlichen Erfahrungen habe ich eine geistige Verbundenheit zu Gott, die nicht mehr gekoppelt ist an Dogmen oder die katholische Kirche.

Aufgrund meiner Erfahrungen bin ich sogar davon überzeugt, dass Homosexualität eine viel bewusstere Liebe ist, da sie nicht auf das Geschlecht ausgerichtet ist. Die Liebe, die ich für meine Partnerin empfunden habe, entwickelte sich auf einer tieferen Ebene, eine Verbundenheit zwischen zwei Menschen, die völlig unabhängig von äußeren Merkmalen wie dem Geschlecht ist, sondern sich ausschließlich an die innere Werte des Menschen richtet. Die Trennung des Glaubens von der kirchlichen Institution hat mir enorm geholfen, um den Glauben mit meiner sexuellen Orientierung zu vereinen.

Findest du, dass die katholische Kirche reformbedürftig ist? Wenn ja, wie sollte die Reform aussehen?

Ja, auf jeden Fall. Die katholische Kirche sollte ehrlicher, glaubhafter und zeitgemäßer sein und sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren und anpassen, denn schließlich bestehen ständig Änderungsprozesse innerhalb der Gesellschaft. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass sie an ihrer Dogmatik festhält, um ihre Glaubwürdigkeit, Macht und Autorität beizubehalten, die sie seit Jahrhunderten ausübt.

Wenn sich die Katholiken öffnen würden hinsichtlich den Themen Homosexualität, Sex vor der Ehe, Enthaltsamkeit der Priester oder Abtreibung und diese Dogmen aufgeben würden, läuft sie Gefahr nicht nur ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, sondern auch einen Teil ihrer Anhänger. Allerdings denke ich, dass dieser Verlust von kurzzeitiger Dauer wäre und längerfristig betrachtet ein Anstieg der Gläubigen die Folge wäre.

Das Beibehalten des Status quo hat zur Folge, dass Menschenrechte eingeschränkt werden, die in der heutigen Gesellschaft bereits rechtlich bestehen. Das kann nicht Sinn und Zweck des Glaubens sein. Schließlich sind wir auf der Welt um glücklich zu sein und nicht unglücklich.

Die Aussagen des Papstes zum Thema Homosexualität sind kontrovers. Im April 2019 wurde er für seine liberale Aussage, dass Homosexualität keine Sünde ist, gefeiert. Glaubst du, dass es eine Öffnung der katholischen Kirche geben wird in Bezug auf dieses Thema?

Ich glaube, dass die Aussagen des Papstes nur politische Schachzüge sind. Die katholische Kirche ist sich sehr wohl der gesellschaftlichen Veränderungen bewusst und dass sie mit ihrer Lehre nicht mehr die Menschen erreicht und die Änderungsprozesse auch nicht mehr aufhalten können. Die Passagen in der Bibel zur Homosexualität beschreiben, dass es ausschließlich schlecht für einen selbst ist und nicht gegenüber seinem Nächsten.

Es ist aus diesem Grund keine Todsünde homosexuell zu sein. Dies lässt einen Interpretationsspielraum zu, der von der katholischen Kirche bzw. dem Papst, je nach Bedarf, zur Imagepolierung ausgenutzt wird. Daraus entstehen dann auch kontroverse Aussagen, die ständig revidierend zurückgenommen werden können. 

Vor kurzem wurde in der jüdischen Gemeinde eine Organisation namens Keshet gegründet, die z.B. freitags einen queeren Shabbat organisiert, um zu zeigen, dass Homosexuelle Teil der jüdischen Glaubensgemeinschaft sind. Könntest du dir vorstellen oder würdest du dir wünschen, dass es so etwas auch in der katholischen Kirche gibt?

Für mich persönlich spielt das keine große Rolle mehr, da ich nach langjährigen Strapazen der Identitätsfindung meine Persönlichkeit geformt habe und einen Weg gefunden habe meinen Glauben mit meiner sexuellen Orientierung zu vereinen. Aber ich würde mir für die nachkommenden und jüngeren Generationen wünschen, dass sie es leichter haben.

Ich denke, dass es ein guter Ansatz ist, um Vorurteile zu durchbrechen, die Möglichkeit zu zeigen, dass Homosexuelle ein Teil dieser Gesellschaft sind, einfach nur liebende Menschen und auch ein Teil der Glaubensgemeinschaft sein können, trotz ihrer sexuellen Orientierung. Es sollten keine Verbote bestehen, die besagen, welches Geschlecht man lieben soll. Leider glaube ich, dass es noch seine Zeit dauern wird bis die katholische Kirche so etwas zulässt.

Gibt es etwas, was du gerne noch loswerden möchtest zum Thema Glaube und Homosexualität?

Love is love.