von Detlef Foljanty
Samstag nachmittag in Warschau. Die schneeweiße amerikanische Limousine, mit einem leuchtenden Blumengebinde auf der Kühlerhaube und allerlei weißen Bändern geschmückt, gleitet durch die Innenstadt vorbei am Amtssitz des Präsidenten, stoppt schließlich vor dem Königsschloß. Ein Brautpaar steigt zum Fototermin aus – es sind Vietnamesen. Vielleicht sind beide in Warschau geboren und haben dort mehr oder weniger ihr ganzes Leben verbracht. Inzwischen wächst ja bereits die dritte Generation der einstigen Vertragsarbeiter zu sozialistischen Zeiten heran.
Nachdem einige gut einstudierte Posen vor historischer Kulisse auf den Film gebannt sind, geht es weiter, vielleicht zu anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Vielleicht aber auch zum vietnamesischen Kulturzentrum im Stadtteil Praga auf der anderen Seite der Weichsel. Auf dem Gelände des Zentrums steht eine Nachbildung des berühmten, Konfuzius geweihten Tempels der Literatur in Hanoi, in gemeinschaftlicher Arbeit von der vietnamesischen Community hergestellt. Die Warschauer Replik auf dem Rücken eines zehn Meter langen, Feuer speienden Drachen stellt eine Location dar, vor der sich junge vietnamesische Paare aus der polnischen Hauptstadt gern das Ja-Wort geben.
Vietnamesen sind, nach Ukrainern, die zweitstärkste Migrantengruppe in Warschau. Sie beherrschen den Textilmarkt im unteren Preissegment. Einige von ihnen haben sich im Lauf der Jahre von der Peripherie her, dem legendären Freiluft-Basar „Jarmark Europa“, bis in innerstädtischen Lagen vorgearbeitet. Ein zweiter, Erwerbsbereich sind kleine Garküchen, bar oder barek genannt, mit ostasiatischem Essen zu Imbißbuden-Preisen. Doch gerade hier ist die vorherrschende Stellung der Südostasiaten in der letzten Zeit ins Wanken geraten. Ausgehend vom Zentralbahnhof frißt sich nämlich immer weiter ein dichtes Netz von Döner-Buden in die Stadt hinein. Vor allem über dem Uni-Bereich hat sich eine Kumin-geschwängerte Duftwolke festgesetzt, die es der studentischen Jugend schwer macht, sich auf ihre Haupttätigkeit, das Denken, zu konzentrieren.
Der Umstand, daß seit einem Jahr die Stadt ihre Zuschüsse zum Mensaessen in andere Sozialtöpfe umgeleitet hat und so die Studis zwingt, rund 10 Zloty (ca. 2,50 Euro) für ein Mensaessen auf den Tisch zu blättern, hat die Imbißbuden aller Couleur im Stadtzentrum aus dem Boden sprießen lassen wie Bambus nach einem warmen Regen. Und daß im Kampf um die Gunst vor allem der männlichen Jung-Akademiker die Türken (oft aus Berlin zugewandert) die Nase gegenüber den Vietnamesen vorn haben – wen wundert’s? Erstens können polnische Jungs kaum kochen, werden sie doch in ihren Familien mit Bedacht den Küchen ferngehalten. Zweitens bedarf es geringerer Kunstfertigkeit, einen Döner zu vertilgen als ein vietnamesisches Reisgericht, selbst wenn man es ohne Hilfe der Eßstäbchen zu sich nimmt. Und schließlich kommt die fleischzentrierte Türkenkost den polnischen Vorstellungen von einem ordentlichen Essen bedeutend näher.
Doch die Fexibilität der Vietnamesen ist nicht zu unterschätzern, es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis sie mit einem neu entwickelten Ho-Chi-Minh-Burger zurückschlagen, die Semmel aus Reismehl kross gebacken. Denn sie haben keine Wahl, eine Heimkehr ist ausgeschlossen. Sie müssen sich hier und jetzt ökonomisch als überlebensfähig erweisen.
Wahrscheinlich wird aber der Burger als Geheimwaffe nicht den Namen des Revolutionsführers tragen. Denn politisch orientieren sich die Warschauer Vietnamesen durchaus am polnischen Weg zur Demokratie. So hat denn auch im Juli 2004 der erste Kongreß der demokratischen Opposition Vietnams in der polnischen Hauptstadt stattgefunden.
In ihrem Gastland haben die Vietnamesen eine kulturelle Infrastruktur aufgebaut, die ihnen die Heimat ein wenig ersetzt: Sie reicht von dem erwähnten Kulturzentrum bis hin zu einer egenen Fußballliga und einer eigenen Miß-Wahl. Man kann dies auch als Zeichen ihrer andauernden Außenseiterrolle sehen, denn noch sind sie nicht in die polnische Gesellschaft integriert, leiden unter einer Haltung der Polen, die zwischen Nicht-Wahrnehmung und Diskriminierung liegt. Vor allem vietnamesische Mädchen wissen ein leidvolles Lied von der vielfältigen Anmache zu singen, der sie auf den Straßen wegen ihres Aussehens ausgesetzt sind. Warschau zählt nicht zu den fremdenfreundlichsten Städten in Europa, selbst Polen klagen über eine latente Xenophobie. Eine T-Shirt-Aktion mit Aufschriften wie „Ich bin eine Araberin“, „Ich bin ein Schwarzer“ oder auch „Ich bin schwul“ sollte die Menschen zu mehr Weltoffenheit und Liberalität hinleiten. Promis ließen sich mit diesen Hemden ablichten, auf der Straße aber suchte man sie vergebens.
Polen ist seit alters her ein Zuwanderungsland. Als die Juden nach den Pogromen im 14. Jahrhundert (man gab ihnen die Schuld an der großen Pest-Epidemie um 1350) ihres Lebens in West- und Miteleuropa nicht mehr sicher waren, bot ihnen der polnsiche König Kazimierz III., der Große (reg. 1333-1370), eine neue Bleibe, verbunden mit Garantien und Privilegien. Die Juden brachten in das mittelalterlich vor sich hindämmernde Polen dank ihrer internationaler Handelsbeziehungen einen Hauch globaler Kultur. Kaum ein Adliger ohne sein jüdisches Faktotum, kaum ein Dorf ohne jüdischen Gastwirt, dessen Kneipe zugleich Kaufhaus und Bank war. In dem 1918 als Staat wiedererstandenen Polen war jeder zehnte Bürger ein Jude.
Oft allerdings lebten die in der Parallelwelt des Schtetl, viele sprachen nicht einmal die Landessprache, so daß in einigen Fällen, wie Alfred Döblin 1924 berichtet, eine Kommunikation zwischen dem Innenministerium und Gemeinderäten nicht möglich war.
Zu dieser Zeit hatte bereits eine andere Gruppe religiös Verfolgter Polen erreicht, Armenier, die dem Genozid von 1915 im Osamanischen Reich entkommen waren. 1988, nach einem schweren Erdbeben in der Kaukasusregion erreichte eine zweite Welle armenischer Migranten Polen - oft hatten sie familiäre Bande dorthin geführt. Und als der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Enklave Nagorno -Karabakh eskalierte, wanderten weitere Armenier zu. Vielfach erschien den Neuankömmlingen angesichts des vorgefunden landmannschaftlichen oder familiären Netzwerks eine Legalisierung ihres Aufenthalts entbehrlich. So leben heute rund 15-30.000 Armenier in Polen, von denen schätzungsweise die Hälfte keinen legalen Aufenthaltsstatus besitzt.
Die zahlenmäßig größte Mirgrantengruppe aber kommt aus der Ukraine. Da bis zum EU-Eintritt Polens am 1. Mai 2004 Visumfreiheit bestand, war es für sie leicht, in Polen Geld zu verdienen. Und seither können sie mit einem kostenlosen Tourstenvisum einreisen. Leicht war es auch aus einem anderen Grund: Viele Polen begaben sich zur Erwerbsarbeit nach Westeuropa, in ihre Positionen im Heimatland rückten Ukrainer und Weißrussen nach. So sollen, wenn die polnischen Landwirte in großer Zahl als Erntearbeiter nach Deutschland ziehen, in zahlreichen polnischen Dörfern mehr Ukrainer als Polen im Ernteeinsatz sein. Gefragt, warum er angesichts der besseren Verdienstmöglichkeiten nicht gleich nach Deutschland gehe, antwortete ein Ukrainer in Warschau: das deutsche Visum sei zu teuer, man müsse dafür 1.500 Dollar zahlen. Er meine damit natürlich den Schwarzmarktpreis. Und der ist dabei eigentlich recht preiswert, für die USA zahlt man das Vierfache.
Die Landwirtschaft hat schon immer Saison- und Wanderarbeiter beschäftigt, gleichgültig woher sie kamen. Doch auch in anderen Bereichen haben Ukrainer in Polen Fuß gefaßt, dort verrichten sie Tätigkeiten, die für den gezahlten Lohn zu tun kein Pole bereit ist. Da sind einmal die Hauswirtschafts- und Pflegetätigkeiten, meist verbunden mit Kost, Logis und geringfügiger Bezahlung. Sie werden oft im Rotationsprinzip ausgeführt: Eine Gruppe von Ukrainern löst sich auf dem polnischen Arbeitsplatz im Turnus einiger Wochen oder Monate ab, so daß es mit der Gültigkeitsdauer des Touristenvisums keine Probleme gibt und vor allem ein größerer Personenkreis an den polnischen Fleischtöpfen Platz findet.
Dann gibt es Niedrigstlohntätigkeiten, etwa die Arbeiten im Zusammenhang mit der Anlieferung von Gemüse in die Hypermärkte, die sogar legal an Ausländer vergeben werden. Das geht so: Um eine Arbeitsgenehmigung erteilen zu können, braucht das Arbeitsamt den Nachweis, daß für die angebotene Tätigkeit kein Pole zu finden ist. Es werden also Anzeigen geschaltet, die einen leitenden Angestelten im Marketingbereich mit türkischen Sprachkenntnissen suchen, Monatsgehalt 900 Zloty (etwa 220 Euro). Natürlich meldet sich darauf kein Pole, der Weg ist frei für die Besetzung mit einem Ausländer. Das einzige, was dann in der Praxis von dieser Offerte bleibt, ist die Bezahlung. Für Stundenlöhne von 2,50 Zloty (0,60 Euro; in Warschau reicht das, um einmal mit der Tram zu fahren – ohne Umsteigen!) gehen solche Jobs beispielsweise an Ukrainer, die dann auch schon mal 12 Stunden am Stück arbeiten, um sich nach Feierabend ein Bier leisten zu können. Und sie verzichten auch gern auf freie Wochendenden und Feiertage, das Unternehmen hat ja auch an diesen Tagen geöffnet, selbst im katholischen Polen.
Aber auch qualifizierte Arbeitnehmer rücken im Zuge der wundersamen Westverschiebung nach Polen vor: Als in den polnischen Werften die Schweißer knapp wurden, da die polnischen alle „nach Westen gemacht“ hatten, zogen Ukrainer in die Docks ein. Übrigens nennt man die Arbeitsmigration ins Ausland auf polnisch: na saksy – „nach Sachsen“. Von dort kamen im 18. Jahrhundert einige der polnischen Wahlkönige. Vielleicht besteht ja unterschwellig die Hoffnung, man könne als Schwarzarbeiter reich wie ein König heimkehren.
Seit einiger Zeit werden in den strukturschwachen Randgebieten vor allem Südost-Polens, also in Grenznähe zur Ukraine, zunehmend ukrainische Englischlehrer an den öffentlichen Grundschulen beschäftigt. Jeder Pole, der ein bißchen des Englischen mächtig ist, versucht sein Glück lieber in Großbritannien und Irland, nahezu die einzigen EU-Staaten, die den Arbeitsmarkt für Polen nicht dicht gemacht haben. So muß denn die linguistische Grundversorgung des Nachwuchses in fremde Hände gelegt werden.
Überraschenderweise waren bei einer Razzia nach Schwarzarbeitern im November 2004 in Warschau neben zahlreichen Osteuropäern auch zehn Franzosen, acht US-Amerikaner und sechs Deutsche verhaftet und abgeschoben worden. Der Arbeitsmarkt in Polen ist in eine Phase tektonischer Verwerfungen eingetreten: Die Zahl der angebotenen Stellen ist seit Anfang 2002 steil angestiegen, ohne daß die Arbeitslosigkeit (bei knapp 19%) entsprechend abgenommen hat. Das ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß der Arbeitsmarkt sich im strukturellen Umbruch befindet, neue Qualifikationen werden gefordert.
Schließlich gibt es noch eine weitere Gruppe Fremder in Polen, die allerdings schon seit Generationen dort leben und auch die polnische Staatsbürgerschaft besitzen. Es handelt sich um Angehörige von Minderheiten, Überbleibsel des national-ethnischen Flickenteppichs nach dem Zusammenbruch der Teilungsmächte im 1. Weltkrieg, den man nach 1945 trotz entsprechender Bemühungen nicht hatte vollständig „säubern“ können. In einer nach elfjährigem politischen Ringen Anfang 2005 verabschiedeten Novelle des Minderheitengesetzes wurde ihnen das Recht zugesprochen, in Gemeinden, wo sie einen Anteil von mehr als 20% stellen, ihre Sprache als Amts-Hilfssprache zu verwenden. In dem Gesetz wird zwischen nationalen, ethnischen (ohne Herkunftsstaat, z.B. Tartaren) und sprachlichen (Kaschuben) Minderheiten unterschieden. Bei den nationalen Minderheiten liegen die Deutschen mit knapp 150.000 an der Spitze, gefolgt von Weißrussen (48.000), Ukrainern (27.000), Litauern (5.700), Russen (3.200), Slowaken (1,700) und Tschechen (390).
Die abgeschobenen deutschen Schwarzarbeiter sind vielleicht die ersten Schwalben eines gesamteuropäischen Sommers. Zunehmend mehr junge Menschen aus West- und Mitteleuropa entdecken die polnische Stadt als ein Feld nahezu unbegrenzter Experimentiermöglichkeiten. Viele Künstler sind darunter, Maler, Fotografen, Theaterleute, aber auch Radiomacher wie zwei junge Italiener, die über eine Internetstation senden. Im Gefolge der globalen Handelsaristokratie, Fastfoodketten ebenso wie Baumärkten und Hypermärkten, haben sie „Go East“ auf ihrem Lebens-Kompaß entdeckt. Und so könnte die Plastik-Palme, die der Welt im Rahmen des Kunstprojekts Pozdrowienia z Alej Jerozolimskich – „Grüße von der Jerusalemer Allee“ - zusendet, bald zum Leuchtturm für kulturelle Weltenbummler werden.
Detlef Foljanty beschloss nach einem erfüllten Berufsleben als Japanologe sich mit der Pensionierung einem Nachbarn zuzuwenden: Polen. Er lebte eineinhalb Jahre in Warschau und veröffentlicht seine Erfahrungen im Buch "Besuch beim Nachbarn".