Leitkultur statt Multikultur? Ende einer Debatte
Von Claus Leggewie
Bei der Diskussion über Einwanderung und Integration sind zwei Jahrzehnte verloren gegangen. Zunächst behaupteten Parteien und Verbände gegen alle Evidenz, Deutschland sei kein Einwanderungsland – dafür steht der vermeintliche Euphemismus Zuwanderung. In der nächsten Runde wurde dem ebenso evidenten Faktum der Multikulturalität der Kampf-Begriff „deutsche (oder europäische) Leitkultur“ entgegengesetzt. Doch zeigt das US-amerikanische Beispiel, dass ein (wie auch immer begründeter) inklusiver Patriotismus keineswegs im Gegensatz steht zur Anerkennung und Pflege des kulturellen und religiösen Pluralismus. Einer der Initiatoren der Leitkultur-Debatte, Bundestagspräsident Norbert Lammert, hat jüngst ausdrücklich erklärt, Multikulturalität sei in Deutschland seit langem ein Faktum, das man für die Gestaltung einer vernünftigen Einwanderungs- und Integrationspolitik fruchtbar machen müsse.
Aber Migration hat ihren Charakter verändert. Weltweit herrscht heute eine transnationale Wanderung vor. Transmigranten unterscheiden sich von klassischen Einwanderern dadurch, dass sie nur für einen bestimmten Zeitraum ihres Lebens auswandern, dabei ihre familiären und kulturellen Bindungen an die Herkunftsregion aufrechterhalten und dort, wo sie geboren sind, oft auch begraben werden möchten. Eine fremde Staatsangehörigkeit streben sie nur an, wenn es sich nicht vermeiden lässt, um etwa bestimmte Aufenthaltsrechte im Aufnahmeland zu bewahren; auch die zweite und dritte Generation bevorzugt häufig noch den „Doppelpass“. Damit stehen die jeweilige Verkehrs- und Amtssprache und die früher so rasch wie möglich angestrebte Assimilation an „einheimische“ Lebensgewohnheiten unter dem Vorbehalt von Muttersprache und Vaterland. Die Übergangsexistenz dieser transnationalen Wanderung bietet diskrepante Erfahrungen - die „Heimat“ wird fremd, die Chancen in der „Fremde“ verringern sich; und so kann sie ungünstigenfalls als generationenlange Opfergeschichte kodiert werden, die nach Anerkennung ruft. Diskriminierungserlebnisse und strukturelle Xenophobie verstärken Ressentiments gegen die „Mehrheitskultur“ und können zur Ghettobildung führen.
Zwei Schlussfolgerungen kann man für ein Integrationsprogramm ziehen:
Erstens muss das Zentrum einer kulturell pluralistischen (alias multikulturellen) Gesellschaft leer bleiben, es darf mit anderen Worten nicht durch eine wie auch immer (ethnisch, religiös oder „kulturell“) bestimmte Substanz gefüllt werden. Im Kern pluralistischer Gesellschaften stehen verfassungsmäßige, vor allem prozedurale Regeln, die eine strikte Friedenspflicht bei der Artikulation und Austragung sozio-politischer Konflikte dekretieren, unter Einschluss der Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols und einer Reihe unverbrüchlicher Grund- und Bürgerrechte. Dass in diese Rechte substantielle, also inhaltlich aus einer bestimmten Kultur (namentlich des Christentums) geschöpfte Ideen und Traditionen eingeflossen sind, ist eine Binsenweisheit; ebenso selbstverständlich sollte aber sein, dass sie Einwanderern, die aus einer anderen Kulturtradition stammen, nicht als Apriori aufoktroyiert werden dürfen, sondern mit ihnen diskursiv erarbeitet werden müssen. Diesbezüglich gibt es erfreuliche Ansätze eines kulturübergreifenden Diskurses universalisierbarer Menschenrechte.
Auch in den USA ist eine solche Auffassung keineswegs Konsens. Nativistische Tendenzen und der Anspruch anglo-amerikanischer bzw. anglo-protestantischer Inhalte auf die Bildung einer Leitkultur werden durch die demografische Entwicklung, besonders im Blick auf die „Hispanics“, wieder zunehmen. Ungeachtet dessen haben sich die USA seit den 1960er Jahren von einer tief rassistisch geprägten Gesellschaft, die vom dualen Konflikt zwischen Weißen und Schwarzen geprägt war, in eine dezentrierte, multipolare Gesellschaft entwickelt, die nicht von einem großen, alles überschattenden Zentralkonflikt beherrscht wird, sondern von einer vielseitigen und unübersichtlichen Interaktion zwischen ethnisch-kulturellen Gemeinschaften. Man kann diese, wie es „harte“ Multikulturalisten propagieren, mit Identitätspolitik in den communities einsperren und so in der Tat Parallelgesellschaften entstehen lassen. Eine vernünftige Variante von Multikulturalität lässt Herkunft und Kultur aber immer nur als Angebote einer temporären und dynamischen Verwurzelung von Individuen gelten. Deren wichtigstes Recht ist folglich, jederzeit aus ihren Gemeinschaften austreten zu dürfen. Multikulti hat nicht das Geringste mit Beliebigkeit (normativer Indifferenz), Parallelgesellschaften (sozio-kulturelle Segregation) und Standpunktlosigkeit (Kulturrelativismus) zu tun; und kultureller Pluralismus ist kein Hindernis, sondern eine Voraussetzung für eine demokratische Lebenswelt.
Zweitens muss man die Prämissen des Kulturbegriffs überprüfen, die im Konzept Leitkultur enthalten sind. Es handelt sich nämlich wesentlich um ein Ordnungskonzept, das politisch-rechtliche Institutionalisierung reklamiert und dabei den kulturellen Mainstream im Auge hat. Es ist normativ aufgeladen und bezieht sich vornehmlich auf Fragen der Rechtsordnung oder Policy, wobei hier insbesondere das staatliche Gewaltmonopol in einem Top down-Ansatz unterstrichen wird. Das ist ein einseitiger und problematischer Kulturbegriff, der weniger mit „Ordnung“ als mit „Experiment“ und „Tumult“ assoziiert wird und Phänomene der Kreativität und Hybridität in den Blick nimmt. Kultur ist ihrem Wesen nach aber Inspiration, Probehandeln und Vorschein künftiger Entwicklungen, was nicht von oben verordnet werden kann(z.B. durch Kulturpolitik), sich vielmehr bottom up in der populären Massenkultur wie in avantgardistischen Ansätzen aufbauen und entwickeln muss.
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Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaft an der Uni Giessen. Er ist Autor von „Multikulti. Spielregeln der Vielvölkerrepublik“ und „Der Weg zur Moschee“, Mitinitator des "Manifests der 60 für eine rationale Einwanderungspolitik".