Kommentar von Rosemarie Sackmann
Im Folgenden wird zunächst das Grundsatzpapier "Gesellschaftlicher Integrationvertrag" von Bündnis 90/Die Grünen in seiner Gesamtheit betrachtet. Dabei werden die Ausrichtung des Integrationskonzeptes und der Integrationsbegriff analysiert; ein kritischer Blick richtet sich zudem speziell auf die Vertragsrhetorik Abschließend wird mit dem Bildungswesen ein einzelner Bereich gesondert berücksichtigt.
Der Charakter des Integrationskonzeptes
Das vorgelegte Integrationskonzept orientiert sich weitgehend am Rahmen moderner, differenzierter, pluraler und demokratischer Gesellschaften: Es gibt private und zivilgesellschaftliche Bereiche der Freiheit, in denen auch kulturelle Differenz ihren Platz hat, kulturelle Unterschiede sollen nicht grundsätzlich getilgt werden. Zudem wird darauf verwiesen, dass Vielfalt auch als Ressource gesehen werden kann (insbesondere gilt dies für Fremd-Sprachenkenntnisse - Diversity-Konzepte sind da übrigens meist noch etwas einfallsreicher). Es gibt in dem Grundsatzpapier eine grundsätzliche Orientierung an der Gleichheit der Person. Zwischen Ungleichheit und Vielfalt wird unterschieden. Dabei wird aber nicht nur Ungleichheit als Integrationsproblem gesehen, doch bestimmte Ausprägungen kultureller Differenz werden als problematisch angesehen.
Ist das Konzept multikulturell?
Es gibt bekanntermaßen verschiedene Theorien des Multikulturalismus. Doch welche davon man auch als Maßstab nimmt, das hier verfolgte Konzept kann kaum multikulturell genannt werden, da auch schwache Formen des Multikulturalismus (wie beispielsweise das Konzept von John Rex) doch irgendeine Art der besonderen Berücksichtigung kultureller Differenz beinhalten (wie: Ausnahmen von allgemeinen Regelungen, besondere Unterstützung zur Pflege der ‚Gruppenkultur’ o.ä.m.).
Im Gegensatz dazu ist beispielsweise das Konzept des Grundsatzpapiers darauf angelegt, die Religionsfreiheit weiter einzuschränken als dies bislang in der Rechtsauslegung der BRD gebräuchlich ist. Die Verpflichtung zur Teilnahme am Sportunterricht und am Sexualkundeunterricht kann bislang aus religiösen Gründen ausgesetzt werden. Selbst liberale Theorien, die ausdrücklich nicht multikulturell orientiert sind (wie die von Brian Barry) sehen hier doch noch andere Möglichkeiten. So kann man beispielsweise Sport für Mädchen und Jungen gesondert unterrichten, was heutzutage, da Koedukation keine ‚heilige Kuh’ mehr ist, durchaus im Rahmen möglicher Optionen läge (vgl. Brian Barry, Culture and Equality. An Egalitarian Critique of Multiculturalism, Oxford 2002). Der Vorteil einer solchen Regelung gegenüber den Ausnahmeregelungen liegt darin, dass die Gleichheit dabei strikter Bezugspunkt bleibt, ohne dass deshalb kulturelle Differenzen eingeebnet werden müssten. Momentan hat es den Anschein, als würde das Grundsatzpapier tiefer gehende kulturelle Differenzen, wie sie religiöse Auffassungen darstellen können, grundsätzlich ausschließen wollen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, Verhaltensweisen zu rechtfertigen, die eindeutig mit unserer Verfassung und unserem Rechtssystem in Widerspruch stehen. Gewalt in der Ehe und in der Familie ist verboten, das gilt für alle. Niemand kann Ehrenmorde rechtfertigen usw. In diesen Fällen gibt es klare und eindeutig vorgängige Prinzipien. Daneben aber gibt es Bereiche, in denen Persönlichkeitsrechte (auch Elternrechte) mit anderen, nicht eindeutig vorgängigen Prinzipien in Konflikt geraten können. Dies zu ignorieren bedeutet die Komplexität unseres Rechtssystems zu ignorieren.
Ein Integrationskonzept für Ausländer oder ein Konzept gesellschaftlicher Integration?
In manchen Abschnitten zeigt das Grundsatzpapier eine Orientierung an einem gesellschaftlichen Integrationskonzept (so beispielsweise in der Frage der Sprachtests für alle Kinder und nicht nur für Ausländer). In vielen anderen Abschnitten fehlt dieser allgemeine Ansatz. Ein einfaches Beispiel: Auch bei der Förderung benachteiligter Quartiere wäre zu betonen, dass es nicht nur um die Integration der dort lebenden Ausländer geht. Ebenso bei der Frage der Ganztagsschule: Ausländer sind aufgrund der Sozialstruktur besonders betroffen, aber auch für Deutsche gilt, dass die soziale Ungleichheit auf die Positionierungen im Bildungssystem durchschlägt. Es gibt auch deutsche Analphabeten, etc.
Die Fremdsprachigkeit von Zuwanderern und Ausländern kann in ein allgemeines Integrationskonzept integriert werden. Dies würde beispielsweise bedeuten, dass alle Schulen und alle Lehrer darauf eingestellt sin, nicht nur deutsche/deutsch-sprachige Kinder zu unterrichten. Dies ist auch wichtig, wenn es um neue Zuwanderungen (auch mittelfristiger Natur) geht.
Vertragsrhetorik in der Innenpolitik
Das Grundsatzpapier schlägt einen „gesellschaftlichen Integrationsvertrag“ vor. Die Rede von ‚Verträgen’ ist heute in der Innenpolitik recht verbreitet. Aber ist sie sinnvoll? Wer sind die Vertragspartner und was genau ist Gegenstand des ‚Vertrages’? Die Antwort scheint mir nicht völlig klar zu sein. Gravierender ist aber wohl, dass es doch um BürgerInnen gehen soll und nicht um Zuwanderer oder Ausländer. Ist für Zuwanderer Staatsbürgerschaft etwas anderes als für die Autochthonen? Auch hier wäre m.E. eine Orientierung an Gleichheit wünschenswert.
Jenseits der Vertragsrhetorik scheint es mir durchaus richtig und sinnvoll zu sein, dass die Verpflichtungen des Staates, die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure und die Rechten und Pflichten der Zuwanderer und der Autochthonen klar benannt werden.
Das Bildungswesen
Sehr überzeugend finde ich die Verzahnung des Erziehungs- und Bildungswesens (vom Kindergarten bis zum Beruf). Da gibt es sehr viel, was getan werden kann: So können auch Universitäten noch weit mehr Angebote entwickeln, durch die Schüler frühzeitig in Kontakt mit einer Einrichtung kommen können, die vielen doch völlig fremd ist. Auch der Gedanke, Schulen zu Zentren im Stadtteil zu entwickeln (bekannt aus den Niederlanden), scheint mir sinnvoll zu sein. Unklar finde ich die vielen Hinweise auf die Pflichten der Eltern. Klar ist: Eltern sollten Elternsprechtermine wahrnehmen. Sollen sie darüber hinaus Vollzeiteltern werden? Das scheint mir etwas unklar zu sein.
Fazit:
Die begrüßenswerte allgemeine Ausrichtung des Papiers auf „Gleichheit“ wird (leider) nicht immer durchgehalten (so geht es oft doch um „wir“ und „sie“). Viele einzelne Aspekte sind sicher zukunftsweisend. Manche Schlagworte (wie die Vertragsrhetorik oder die Frage der Elternverantwortung) müssen überdacht werden.
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Rosemarie Sackmann ist Privatdozentin und Fellow am Jean Monnet Centre der Universität Bremen.