Täglich grüßt das Integrationspapier...

Foto der "Monument to Multiculturalism" Skulptur

Kommentar von Mark Terkessidis

Ein bisschen erstaunlich ist ja schon, mit welcher Selbstverständlichkeit der Begriff Integration inzwischen wieder im Zentrum der Debatte um die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft steht. Schließlich handelt es sich um ein Konzept, das in den mittleren 70er Jahren zum ersten Mal die Runde machte. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es zwei Ausprägungen des Begriffes. Auf der einen Seite diente die Bezeichnung dazu, die Defizite der „Ausländer“ anzuprangern: Es ging um Sprachprobleme, um den mit „unseren“ Werten nicht kompatiblen kulturellen Hintergrund, um anpassungsfeindliche patriarchale Erziehungsmethoden, um die zunehmende „Ghettoisierung“ usw. Auf der anderen Seite standen ernsthafte Versuche, ein Bündel von aufeinander abgestimmten Maßnahmen zu entwickeln, um das Ziel der Integration tatsächlich zu erreichen. Das legendäre Memorandum des ersten „Ausländerbeauftragten“ Heinz Kühn ist ein Beispiel für diese zweite Ausprägung.

30 Jahre Integrationsdebatte

Wenn man dieses Memorandum nun noch einmal liest, dann erscheint es ungeheuer aktuell – zumal im Vergleich mit dem derzeitigen Grundsatzpapier der Grünen zum Thema. Der „Integrations-Fahrplan“ ähnelt sich sehr. Das bedeutet aber auch, dass man in der Zwischenzeit nur mäßig weitergekommen ist, was die Realisierung der Maßnahmen betrifft. Wenn man nun einen Blick wirft in die Mediendebatten der letzten Jahre, dann ist auch die erste Ausprägung des Begriffes nicht verschwunden. Die Defizite der „Ausländer“ scheinen dieselben wie damals – wenn auch ein paar neue Ausdrücke wie „Parallelgesellschaft“ dazu gekommen sind.

Was ist Integration?

Was Integration eigentlich bedeutet, das wissen wir allerdings immer noch nicht. Im Papier der Grünen wird klar, dass es primär um Chancengleichheit geht. Warum aber heißt Chancengleichheit Integration, wenn es um Migranten geht? Dass es seit 30 Jahren ein Zusammenspiel gibt von nicht realisierten Maßnahmen und immergleichen Vorwürfen gegenüber Migranten, das deutet darauf hin, dass Integration eine Sonderleistung ist, die in erster Linie von den Einwanderern erwartet wird. Wann aber das korrekte Niveau der Integration erreicht ist, das kann jede einheimische gesellschaftliche Gruppe je nach Gusto bestimmen – es gibt ja keine klaren Zielvorgaben.
Die fehlen auch im Papier der Grünen. Es ist wohlfeil, eine „interkulturelle Öffnung“ der Verwaltung zu fordern, doch solange diese Forderung ohne konkreten Inhalt auskommt, kann man darunter fast alles verstehen. Diese Uneindeutigkeit führt oft dazu, dass der Begriff Integration überhaupt nicht integrierend wirkt, sondern trennend – die Spaltung zwischen „ihr“ und „wir“ wird forciert.

Spaltung zwischen „Wir“ und „Sie“

Das Papier der Grünen spricht stets von der „aufnehmenden Gesellschaft“ und „den Migranten“. Aber wer ist die „aufnehmende Gesellschaft“? Ist man nicht Bestandteil dieser Gesellschaft, wenn man mit Migrationshintergrund hier geboren ist? Nun muss man das Thema ja angehen, also spricht man notgedrungen von „den Migranten“. Aber wenn man nun nachliest, was deren „Rolle“ sein soll, dann kann einem schon mulmig werden. So wird etwa erwartet, dass Menschen, die „dauerhaft hier leben wollen“, sich für „unsere Gesellschaftsordnung öffnen“. Das klingt, als seien „sie“ gerade erst nach Deutschland gekommen. Und wer ist nun mit dem „Wir“ in dem Ausdruck „unsere Gesellschaftsordnung“ gemeint?
Tatsächlich haben auch viele Grüne das Problem, dass sie Migranten nicht mit letzter Konsequenz als Bestandteil der politischen Gemeinschaft betrachten. In einer Einwanderungsgesellschaft sind die Personen mit Migrationshintergrund auch Bestandteil des „Wir“. Und dadurch wird dieses „Wir“ verändert. Und es ist genau diese Veränderung, der die Gesellschaft gerecht werden muss.

Das Konzept „Diversity“

Der Begriff Integration klingt ein wenig altbacken, ein bisschen so, als könnten wir alle noch einmal eine große Familie werden. In den englischsprachigen Einwanderungsländern und auch in vielen internationalen Unternehmen ging es in den letzten Jahren aber vielmehr um „citizenship“ und um „diversity“, also um Staatsbürgerschaft und um Vielfalt. Es wurden Maßnahmen ergriffen, um die politischen Partizipationsmöglichkeiten der Einzelnen zu verstärken. Und es wurde eine Veränderung der Institutionen in Angriff genommen – im Hinblick auf die unterschiedlichen Hintergründe der Menschen. Diese Institutionen müssen Chancengleichheit und Anti-Diskriminierung gewährleisten, wobei eben nicht nur Ethnizität eine Rolle spielt, sondern auch Schichtzugehörigkeit, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung etc.

Echte Veränderungen

Gegen solche Konzepte und die Konsequenz, mit der Veränderungen teilweise in Angriff genommen wurden, wirkt die hiesige Debatte etwas antiquiert. Tatsächlich braucht es mehr Phantasie, aber auch weit mehr Durchsetzungsvermögen, um die verknöcherten Strukturen in Deutschland aufzubrechen. Das ist die Aufgabe der Zukunft. In den letzten dreißig Jahren freilich hat man hierzulande eher in einem Film gelebt, der den Titel trug: „Und täglich grüßt das Integrationspapier“.

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Mark Terkessidis ist Dipl.-Psychologe und freier Autor. Er veröffentlicht zu den Themen Jugend- und Populärkultur, Migration und Rassismus. Sein neuestes Buch "Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung - Von Migranten und Touristen" erschien im September 2006