Von Sabine Schiffer
Richtig deutsch lernen sollten sie, sich sittlich benehmen und vor allem nicht auffallen in der Mehrheitsgesellschaft – die Juden im ausgehenden 19. Jahrhundert. Nicht nur der gut dokumentierte Berliner Anitsemitismusstreit um 1880 – etwa in der Ausgabe von Walter Boehlich - gibt Aufschluss über die gängigen Argumentationsmuster der damaligen Zeit, aber hier sind quasi die lange zuvor und immer wieder danach aufgebrachten Motive deutlich sichtbar. Und diese müssen wir heute wiedererkennen, wenn öffentlich Leitkultur und Patriotismus beschworen werden - mit den gleichen Argumenten wie damals.
Allen Argumenten vorgeschaltet scheint eine Epistemologie des Forderns, d.h. Dinge, die teilweise längst erfüllt sind oder gar von der kritisierten Seite – damals die Juden, heute die Muslime – selbst angemahnt wurden, werden nun von den Vertretern der Mehrheitsgesellschaft eingefordert, wie etwa das Erlernen der deutschen Sprache, die äußerliche Anpassung an Kleidungsbräuche und Speisesitten, sowie Predigten in deutscher Sprache und die Ausbildung von religiösen Gelehrten in Deutschland. Letzteres etwa ein von Muslimen seit langem gehegter und geäußerter Wunsch, der aus hochschulpolitischen Gründen bisher nicht realisiert wurde, steht nun als Forderung im Raum und hat damit Aussicht auf Umsetzung. Der Eindruck, dass der Islam damit vor allem „im Zaum gehalten“ werden muss, wird durch die Umkehrung der Verwirklichungsrichtung kreiert – ähnlich bei der Forderung nach islamischem Religionsunterricht.
Im Zaum gehalten auch darum, weil die Quellentexte Schlimmes anzudrohen scheinen. So wie einst Auszüge aus der Torah herhalten mussten, um die Überheblichkeit, den Expansionismus, die Unehrlichkeit und damit Gefährlichkeit des Judentums zu belegen, so wird heute in gleicher Weise selektiv und verallgemeinernd Zitatgut aus dem Koran extrahiert. Seines Kontextes und seiner Deutung beraubt, entfaltet dieses vor dem Hintergrund schrecklicher Ereignisse in und aus der sog. islamischen Welt seine eigene Dynamik. Die authentischen Zitate, gepaart mit einigen ebenso authentischen Aussagen von wem auch immer von muslimischer Seite, scheinen ein Gefährdungspotenzial zu „beweisen“ - wie die um 1700 von Eisenmenger zusammengetragenen Stellen aus Altem Testament, den Gesetzeswerken Halachot, aus der Kabbala, sowie philosophischen Büchern und Morallehren des Judentums, die durch ihre Pseudowissenschaftlichkeit ebenso bestachen wie durch ihre Langlebigkeit – nachzulesen bei Jacob Katz.
Zwei andere Vertreter des antisemitischen Diskurses – Rühs und Fries - stehen für den Streit, ob man das Judesein beheben könne, indem man das Christentum annimmt oder nicht. Bezeichnend für diesen heute wieder aktuellen Aspekt der Diskussion ist, dass das Christentum auch von Säkularen als genuin deutschnational empfunden wurde und somit explizit oder implizit den Maßstab für Moral und Integrität darstellte. Als Heinrich von Treitschke 1879 erneut eine Diskussion über die Juden lostrat, sprach man nicht von einer deutschen Leitkultur – aber genau um diese ging es. Seit dem Börsen- und Gründerschwindel im Jahre 1873 rissen die Polemiken gegen die Juden nicht mehr ab. Interessant ist, dass zunächst nicht so offen gegen Juden polemisiert wurde, sondern dass etwa ein Otto Glagau bei denjenigen Börsenmaklern ihre Religionszugehörigkeit einfach mit erwähnte, die „mosaischen Glaubens“ waren, während er diese Art von Markierung bei den christlichen Verbrechern unterließ. So entstand der Eindruck, dass die Spekulationsuntaten vor allem jüdische waren. Und die Verbindung zwischen Geld und Judentum hatte ja schon lange Tradition und existiert auch heute noch – heute wie damals verallgemeinernd die vielen nicht reichen und auch nicht einflussreichen Juden übersehend.
Entgegen einigen Hitzköpfen sprach sich nun Professor Treitschke explizit gegen antijüdische Aktionen aus. Er hielt es für unmöglich, dass man ihnen ihren Rechtsstatus wieder aberkannte, und begrüßte den Status Quo der Gesetzgebung, die gleiches Recht zusprach und somit auch gleiche Gesinnung verlangen konnte. Diese jedoch sprach er „den Juden“ rundweg ab – von einigen Ausnahmen abgesehen, die ja immer die Regel zu bestätigen drohen. Sein Ansehen verlieh seinen Aussagen Gewicht und Glaubwürdigkeit, obwohl ebenso hochrangige Akademiker vor einem Entgleisen solcher verbaler Brandsätze warnten wie der Historiker Theodor Mommsen, der dies mehr oder eher weniger geschickt tat und nebenbei das Motiv „die Juden seien ein Element der Docomposition“ festigte.
Natürlich kann man aus heutiger Sicht die damaligen Ängste auf die wirtschaftlich unsicheren Umbruchzeiten zurück führen. Dennoch waren die Ängste geschürt und irrational, was aber weder Fakten noch Zahlen entkräften konnten. Dies lag u.a. daran, dass es keine gesicherten Zahlen über den Anteil jüdischer Mitbürger am gesellschaftlichen Leben gab und so wurde auch von Treitschke die Wiedereinführung der Konfessionsangabe gefordert, um die "Judengefahr“ richtig einschätzenzu können.
Wie wir wissen, wurde viel später im ersten Weltkrieg tatsächlich eine solche Judenzählung durchgeführt mit einem Ergebnis, dass nicht mehr veröffentlicht wurde. Die Behauptung, die Juden beteiligten sich nicht an der Verteidigung des Vaterlandes, ließ sich schlichtweg widerlegen. Wahrscheinlich aber hätten auch die veröffentlichten Zahlen nicht das Stereotyp vom „schmarotzenden“ jüdischen Mitbürger aushebeln können, denn derlei Vorurteile sind erstaunlich resistent. 1880 jedenfalls stellte Treitschke fest, die Juden hätten sich nicht integriert – wie man heute sagen würde. Damals sprach man von nicht erfolgter Assimilation.
Neben der wirtschaftlichen Unterwanderungsunterstellung gab es auch andere Befürchtungen, wie die Ritualmordmythen belegen, aber auch die realen Morde an Regenten Ende des 19. Jahrhunderts, wie etwa der an Zar Alexander, sowie die Diskussion um besonders geschickte Versteller, die sich nur modern gaben, aber in Wirklichkeit… . Bemerkenswert ist, dass es aus dem Teufelskreis von Misstrauen und Verdacht kein Entrinnen gab, denn behielten die Juden etwa ihre äußeren Merkmale bei, dann bestätigten sie den Verdacht, dass sie mit dem „deutschen Volk“ nichts zu tun haben wollten, legten sie die Merkmale aber ab, dann bestätigten sie den Verdacht, dass sie „die Deutschen“ unterwandern wollten – dies eben nur geschickter. Dieser Kreisschluss des Misstrauens findet sich heute etwa in der Formulierung „Schläfer strebten besonders nach Einbürgerung“.
Auch damals haben sich viele Zeitgenossen Treitschkes gewundert über die formulierte Zuspitzung seiner Beobachtung, dass er alle Juden als Fremdkörper empfand – Deutschsein und Judesein schloss sich seiner Meinung nach aus. Der darin begründete Loyalitätskonflikt von deutschen Juden gestern, deutschen Muslimen heute, französischen Muslimen, europäischen usw. wurde kürzlich in Bezug auf Tariq Ramadan diskutiert, der durch sein offenes, pro-europäisches, aber dezidiert islamisches Auftreten ebenso verdächtig ist, wie das sog. Reformjudentum im Deutschland des 19. Jahrhunderts.
Das Religiöse vor allem wurde als Verrat und verdächtig eingestuft. In einer aufgeklärten Zeit schien es keinen Platz mehr zu haben und das Jüdische galt als unvereinbar mit der Moderne sowie als Gefahr für die Werte der liberalen Gesellschaft. Der 50 Jahre später bei den Nazis Karriere machen sollende Satz „Die Juden seien unser Unglück“ stammt aus dieser Zeit – von Treitschke. Die Markierung der Juden als „anders“ ist bis heute geblieben. Natürlich gab es konservative Juden, die sich traditionell kleideten und somit auch in der Öffentlichkeit als solche sichtbar waren.
Es gab Gemeindespaltungen in liberalere und konservativere Zweige, die die Reaktionen der jüdischen Mitbürger auf die immer wieder aufkeimenden Diskussionen um ihre Andersartigkeit und ihre angebliche Gefährlichkeit wiederspiegeln. Dennoch hat wohl kaum jemand wirklich daran geglaubt, dass passieren könnte, was viel später passiert ist – auch nicht die Juden, die sich durchaus an der öffentlichen Diskussion beteiligten und mit ihren defensiven bis aggressiven Argumentationen teils glücklich teils unglücklich die Debatte weiter nährten. So fehlte ihnen als Betroffenen oft der Überblick über die Gesamtsituation und sie argumentierten aus ihrem jeweilig eigenen Erfahrungsbereich heraus. Dabei wurde Vergehen eingeräumt oder geleugnet, idealisiert und gewarnt bis hin zum Hochlob auf die eigene Abkehr vom Glauben – à la Bassam Tibi heute. Alles in allem eine unwürdige und schließlich unglaubwürdige Debatte, die der Gesellschaft auf jeden Fall geschadet - weil spaltend gewirkt - hat.
Der Fehler lag aber im System, nicht etwa bei den Juden: die Thematisierung des Jüdischseins als Problematik, als etwas, das dem Deutschsein widerspräche – also das Abwägen von religiöser und nationaler Kategorie - darin lag der schwere Kategorienfehler, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun wieder passiert. „Parallelgesellschaften“ kann man definieren: Jugendliche, Chinesen, Türken, die High-Society-Ghettos in Berlin uvm. Damals hatte Marr das in Bezug auf die jüdischen Mitbürger „Staat im Staate“ genannt.
Nun wird über den Islam und die Muslime diskutiert, weil es Terroristen gibt, die ihre Taten tatsächlich mit dem Islam begründen. Statt sie für ihren Frevel zu verurteilen und gemeinsam gegen ungünstige Entwicklungen vorzugehen, die von der asymmetrischen Weltpolitik genährt werden, gehen wir nun verbal in Talkshows, Zeitungen, auf Parteitagen und schließlich auch noch Bundestagsdebatten einseitig auf die Muslime los und homogenisieren aktiv die sehr heterogene Gruppe. Die vergiftete Stimmung wird in Kauf genommen, das ungünstige Wechselspiel unbewusst vorangetrieben. Denn wer verliert nicht den Mut angesichts der Glaubwürdigkeitskrise des langjährigen Dialogs und seiner Protagonisten?
Dass sich die Geschichte im Wesentlichen wiederhole ist ebenso eine Binsenweisheit wie falsch. Allenfalls wiederholen sich Teile von ihr. Da diese Teile zudem mit anderen Ausprägungen in den jeweils neuen Situationen so verschiedentlich aussehen und sich unterschiedlich weiter entwickeln können, erkennen wir bestimmte Parallelen häufig nicht. Vor allem dann, wenn etwas psychisch äußerst
belastend ist – Angst. Dies betrifft heute weniger die Juden als vielmehr die Muslime, aber auch Ausländer u.a. andere sog. out-groups. Auch die Vorurteile gegenüber Juden sind nicht weniger geworden. Dass es sich um Vorurteile und nicht etwa um Wahrheiten handelt, kann man erlernen, wenn man will. Irrationale Ängste jedoch erschweren den notwendigen Prozess der Selbstreflexion.
Wenn wir Angst haben, reagieren wir oft irrational und Emotionalität bestimmt die Debatten – wie sachlich diese dann auch vordergründig erscheinen mögen. So wurden etwa die Anschläge in New York und Moskau völlig anders bewertet als die in Istanbul während erstere unsere ungebrochene Solidarität hervorriefen, machte sich nach den Istanbuler Anschlägen sofort einausgrenzendes Moment breit: Warnungen statt Solidarität.
Ein Problem öffentlicher Diskurse, mit dessen Lösung wir beginnen können, wäre die Frage: Wie kann man Missstände benennen, ohne damit in die Generalisierungsfalle zu tappen? Denn weder die jüdische Kultur zeichnet sich durch Einfluss und Geld, noch die islamische durch Unterdrückung und Bin Laden noch die „christlichabendländische“ durch Kinderpornos und Heimatschutzgesetze aus, wie uns eine krisenorientierte Berichterstattung schnell glauben machen kann, weil es diese Fakten ja tatsächlich gibt.
Politik und Medien tragen hier eine besondere Verantwortung – aber auch die Wissenschaft, wie das Beispiel von Treitschkes belegt. Da wir uns beim jüngeren Geschichtsbewusstsein zunehmend auf eine ritualisierte Erinnerungskultur verlegt zu haben scheinen, werden derlei Zusammenhänge, wie sie hier geschildert wurden, leicht übersehen. Zwar gab es keine Zwangsläufigkeit zur Entwicklung in den Holocaust, aber die Vorbereitung im Denken der Menschen war lange zuvor geschehen – ein Verteidigungsmythos kreiert, die Entmenschlichung des Gegenübers vor allem durch die Verwendung bedrohlicher Metaphern vorangetrieben und damit Legitimation geschaffen für vermeintlich defensive Maßnahmen, die sich zunächst in vergleichsweise harmlosen Gesetzesänderungen und Bürgerrechtseinschränkungen niederschlugen. Alles Motive, die wir ganz aktuell erleben. Also, im Großen und Ganzen nichts Neues.
Literatur
Andics, Hellmut (1965): Der ewige Jude. Ursachen und Geschichte des Antisemitismus. Wien: Fritz Molden.
Boehlich, Walter (Hg.) (1988): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt/Main: Insel Verlag.
Flohr, Anne Katrin (1991): Feindbilder in der internationalen Politik. Münster u.a.: LIT. Goldhagen,
Daniel Jonah (1988): Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler TB.
Goldhagen, Daniel Jonah (1988): Hitlers willige Vollstrecker. Ganzgewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler TB.
Jäger, Siegfried & Link, Jürgen (1993): Die vierte Gewalt. Rassismus und die Medien. Duisburg: DISS.
Katz, Jacob (1989): Vom Vorurteil bis zur Vernichtung: der Antisemitismus 1700-1933. München: Beck.Klemperer, Victor (1991): LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam.Lakoff,
George & Johnson, Mark (1980): Metaphors we live by. Chicago: University Press.
Lakoff, George & Johnson, Mark (1980): Metaphors we live by. Chicago:University Press.
Mann, Golo (41962): Der Antisemitismus. Wurzeln, Wirkung und Überwindung. Frankfurt/Main: Ner- Tamid-Verlag. (Vom Gestern zum Morgen Bd. 3)
Schrattenholz, Josef (1894): Antisemiten-Hammer. Eine Anthologie aus der Weltliteratur. Düsseldorf: Lintz (mit einem Vorwort von Dr. Jacob Moleschott).
Schiffer, Sabine (2004): Die Darstellung des Islams in der Presse. Sprache, Bilder, Suggestionen. Eine Auswahl von Techniken und Beispielen. Inauguraldissertation an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (erscheint in Kürze neu im ERGON-Verlag)
Tajfel, Henri (1982): Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen. Bern u.a.: Huber.
Ustinov, Peter Sir (42005): Achtung! Vorurteile. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Verein zur Abwehr des Antisemitismus (21900): Antisemiten-Spiegel. Die Antisemiten im Lichte des Christenthums, des Rechtes und der Wissenschaft. Danzig: Hafemann.
Sabine Schiffer ist Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin. Sie leitet das "Institut für Medienverantwortung" in Erlangen.