von Sabine Schiffer
Meinungs- und Pressefreiheit sind hohe Güter und für eine verantwortungsbewusste Demokratie unerlässlich. Darum mutet es einschränkend an, wenn die Ergänzungsrichtlinie des Presserates 12.1 die Erwähnung von bestimmten Merkmalen einer Person ausdrücklich als „nicht erwähnenswert“ deklariert. Der Text lautet:
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründeter Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, daß die Erwähnung Vorurteile gegenüber schutzbedürftigen Gruppen schüren könnte.
Wie kann es sein, dass die Nennung von Fakten Vorurteile schürt? Ist die Wahrheit nicht immer wertneutral? Nein, denn ,die Wahrheit’ ist immer eine Auswahl aus unzählig vielen Fakten, die genannt werden könnten. Die Entscheidung für bestimmte Merkmale von Tätern suggerieren aber einen Zusammenhang zwischen dem Erwähnten und der Tat: So ist immer häufiger im Zusammenhang mit Straftaten zu lesen, dass es sich bei einem Täter um einen Handwerker handelte. Das Faktum ,Beruf’ steht mit dem Sachverhalt ,Mord’ in keinem „begründeten Sachbezug“, scheint aber für die Beschreibung eines Täters zulässig, da es sich ja um ein reales Merkmal desselben handelt - schließlich sehen sich Journalisten der Realität verpflichtet.
Hier liegt ein idealtypischer Trugschluss vor, der zu rassistischen Darstellungen führt - und das häufig in bester Absicht. Ergebnisse aus der Rassismusforschung, der Sprachhandlungstheorie und der Sozialforschung können hier brauchbare Anhaltspunkte liefern. Vorab sei geklärt, dass es keine Menschenrassen gibt. Biologen haben bewiesen, dass die Menschenrassenvorstellung ein Irrtum war. Der Begriff Rassismus dient also der Beschreibung einer Geisteshaltung anderen Menschen gegenüber, die ich gelernt habe, als ,andere’ wahrzunehmen und in Gruppen einzuteilen. Denn mit dieser Wahrnehmung als ,etwas anderes’ beginnt tatsächlich bereits der Rassismus - nicht erst mit der Negativbewertung der ,anderen Gruppe’ oder gar konkreten physischen Handlungen.
Zunächst wird die Kategorie gebildet: Schwarze, Frauen, Juden, Ausländer, Muslime, Nachbarn usw. Das Spektrum ist beliebig. Nun werden sie einwenden: „Aber die gibt es doch!“ Freilich gibt es viele verschiedene Menschen mit vielen verschiedenen Eigenschaften und das ist gut so. Es wäre auch wirklich schade, den Unterschied zwischen Männern und Frauen zu eliminieren. Aber, wir müssen feststellen, dass auf diesen Unterschied unverhältnismäßig mehr Aufmerksamkeit gelenkt wird, als es den Sachverhalten entspricht, um die es eigentlich gehen soll. Wenn es um Berufliches, Straßenverkehr, Immobilienfonds, politische Ämter und dergleichen geht, ist das Merkmal ,Geschlecht’ völlig irrelevant. Häufig wird es aber miterwähnt - weil es ja der Realität entspricht: „Der Anteil von Frauen im Bundestag steigt“, „Eine Frau zeigt, wo’s lang geht“, „Die evangelische Kirche ermöglicht Frauen den Aufstieg“.
Ersetzen Sie doch einmal den Begriff ,Frau’ durch ,Mann’ - das würde überhaupt keinen Sinn ergeben und zeigt zweierlei: 1. Der Mann ist die Norm, die nicht erwähnt werden muss. 2. Die Frau ist immer noch markiert, d.h. die hier geschilderte Rolle widerspricht der Erwartungshaltung Frauen gegenüber. Sie wird als Ausnahme empfunden - und Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Auch wohlmeinende, vermeintlich harmlose Äußerungen - wie die genannten - erhalten die Kategorie ,Frau ist anders’ aufrecht. Die Negativbewertung einer markierten Kategorie ist dann schnell passiert: Stichwort ,Einparken’.
So geht es quer durch die Berichterstattung: wir können lesen von Polen, die Autos stehlen, von Schwarzen, die Frauen nachstellen, von Türken, die herumschlägern, von Muslimen die Attentate verüben, von Juden, die in den Medien Einfluss nehmen. Das sind alles Fakten. Alles Einzelfälle, die das Merkmal der Gruppenzugehörigkeit fokussieren, obwohl dieses für die jeweilige Handlung völlig irrelevant ist. Umgekehrt könnten wir uns angewöhnen, etwa die Schuhgröße von Attentätern mitzumelden - die ist ebenso real. Statistisch lässt sich beweisen, dass ab Schuhgröße 39 eine erhöhte Kriminalitätsgefahr besteht. Spätestens hier erkennen wir, dass die Entscheidung für bestimmte Realitätsausschnitte, die berichtet werden, nicht die Realität abbilden. Wir sind es gewöhnt zur Charakterisierung einer Person ,Geschlecht’, ,Nationalität’, ,Beruf’ und neuerdings zunehmend wieder ,Religion’ zu erwähnen.
Hier steckt weniger Absicht dahinter als vielmehr die unreflektierte Übernahme von Darstellungstraditionen, die sich durch ständige Wiederholung als Muss geradezu aufdrängen. Hält man sich nicht an das vorgegebene Muster, steht schnell ein Unterlassensvorwurf im Raum - nämlich die Unterstellung, man wolle sein Publikum täuschen. Dabei täuscht man es häufig gerade durch die Nennung irrelevanter Merkmale, weil unsere Wahrnehmung automatisch einen Sinnzusammenhang konstruiert zwischen den einzelnen Äußerungsteilen. Würden wir uns angewöhnen die Haarfarbe von Personen mitzuerwähnen, dann würden wir bald die Menschen in Blonde und Dunkelhaarige einteilen. Auch hier würden sich - dem Prinzip der stereotypen Traditionenbildung entsprechend - Gruppenmerkmale einstellen, die dann später den Blick auf die fehlerhafte Kategorienbildung verstellen.
Unsere Aufgabe ist es, zu unterscheiden, in welchen Kontexten die genannten Merkmale relevant sind und wann nicht - auch wenn hier alte Gewohnheiten bestehen. Denn die suggerierten Rückschlüsse sind fatal. Kausale Zusammenhänge werden wahrgenommen zwischen Kriminalität und Nationalität, politischem Einfluss und Religionszugehörigkeit usw., obwohl die Statistiken anderes belegen und genügend Gegenbeispiele existieren. So ist für einen Mord der Beruf des Täters völlig irrelevant, ebenso wie seine Nationalität oder Religion. Da das Miterwähnen irrelevanter Merkmale aber eben Relevanz für den Sachverhalt, um den es eigentlich gehen soll, suggeriert, führt dies zu falschen Rückschlüssen, die unsere zukünftige Erwartungshaltung bestimmen. Dann nehmen wir vermehrt genau dieses Gruppenmerkmal wahr und finden: „Ja, stimmt doch, was man über die da sagt.“ So etwa: „ Der Täter war doch ein Schwarzer. Also stimmt es, was man über die Schwarzen nie sagen durfte.“ Nicht nur das omnipräsente Prinzip der Verallgemeinerung trägt hierfür die Verantwortung, sondern auch die Aktualisierung einer Kategorie - in dem Fall ,Hautfarbe’ - außerhalb eines relevanten Kontexts.
Eine solche überflüssige Markierung geschah bezüglich der Juden im 19. Jahrhundert. Beim Börsenskandal 1873 wurde die Religion von Börsenmaklern und Firmengründern dann miterwähnt, wenn es sich um Juden handelte - sonst nicht. Der Vorwurf des Rassismus wurde damals erfolgreich mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, dass die genannten Personen doch real Juden seien. Ein vermeintlich harmloses und doch erschreckendes Beispiel für die Nennung von Fakten in falschen Kontexten angesichts der historischen Entwicklung. Denn wäre die Kategorie ,Jude ist anders’ und die fatalen Rückschlüsse daraus nicht längst etabliert gewesen, hätten es die nationalsozialistischen „Rassengesetze“ später nicht so leicht gehabt.
Nicht erst die offene Beschimpfung, sondern bereits die Markierung der Gruppe als ,anders’ hat hier vorbereitende Arbeit geleistet. Also, eine historische Aufgabe, die Relevanz der zu nennenden Merkmale zu überprüfen.Schwierig wird es aber dann, wenn Täter ihre Taten auch noch mit einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit begründen - wie dies zur Zeit vor allem bei so genannten islamistischen Attentätern geschieht. Auch hier ist zu prüfen, inwiefern das Merkmal ,Religion’ wirklich relevant ist bzw. inwiefern man sich als Journalist zum Sprachrohr verblendeter Täter macht. Hier wartet viel Arbeit auf einen aufgeklärten Journalismus ebenso wie auf den Presserat, um nicht dem Trugschluss zu erliegen: wenn man nur Fakten berichte, könne man nicht rassistisch sein.
Die unbewusste Unterwerfung unter die etablierte Tradition, die unseren Blickwinkel erheblich einschränkt, entwickelt dabei ihre ganz eigene Dynamik. So fällt kaum noch die Stereotypenhaftigkeit auf, wenn bei Attentaten die kleine Zusatzinformation, dass es sich beim Täter um einen Muslim handelte, mitgemeldet wird. Dies geschah unter anderem bei dem Mörder von Washington, der in einer Attentatsserie Ende 2002 zusammen mit seinem Stiefsohn 13 Menschen erschoss, als auch bei dem Anschlag auf US-Soldaten durch einen Kameraden kurz vor dem Irak-Krieg 2003. Diese Markierungen zeigen, wie virulent die Kategorie ,Islam’ inzwischen ist, denn für die Sachverhalte war diese Gruppenzugehörigkeit völlig irrelevant.
Diese Beispiele aus dem Medienalltag machen deutlich, dass die Praxis nicht als Maßstab für die Beurteilung von Beschwerden beim Presserat gelten kann. Darum ist fraglich, ob eine Beteiligung von Redakteuren - wie erst kürzlich gefordert – eine Verbesserung in punkto ,nicht-rassistische Berichterstattung’ bedeuten würde. Die gängige Praxis zeigt nämlich gerade, wie unverstanden die Botschaft von 12.1 ist und wie viel Schaden dieses Unverständnis anrichten kann. Markierung ist der Beginn von Diskriminierung und die Liste der betroffenen Merkmale in der Ergänzungsrichtlinie 12.1 ist noch lange nicht vollständig. Fachkenntnisse über sozialstereotype Kategorienbildung, die Wirkung von Darstellungstraditionen auf die Wahrnehmung - auch von Journalisten - sowie über die Faktizierung von Realitätsausschnitten durch Sprache würden bei der Beschwerdeprüfung hilfreich sein. Wir sind hier erst am Anfang.
Angesichts der Tendenz zur Angleichung in der Berichterstattung, sollte zudem eine Diskussion über die noch nicht vorhandene Verbindlichkeit der Richtlinien des Presserats geführt werden, denn „wenn alle das gleiche schreiben, muss es doch stimmen“ - oder?
Sabine Schiffer ist Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin am Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg.