von Norbert Cyrus
In der wissenschaftlichen Diskussion der Transnationalisierung der sozialen Welt werden internationale Migrationsprozesse als soziale ‚Transnationalisierung von unten’ analysiert, die nicht nur Chancen eröffnet, sondern für MigrantInnen auch erhebliche Risiken beinhalten kann, die mit Regulierungsmaßnahmen eines institutionalisierten politischen ‚Transnationalismus von oben’ vermieden werden sollten. Aktuell lässt sich allerdings beobachten, dass der bestehende institutionalisierte transnationale Rahmen des Systems der Vereinten Nationen, in dem Normen zur Regulierung von Migrationsprozessen vereinbart wurden und weiter entwickelt werden, in der internationalen Migrationspolitik an Relevanz verliert.
Die internationale Migrationspolitik ist aktuell durch den Aufbau und die Umsetzung eines außerhalb des UN-Systems operierenden Migrationsmanagements bestimmt, das als Tendenz der Re-Nationalisierung interpretiert werden kann. Die Erwartung, dass Globalisierung zu einer politischen Transnationalisierung von oben führt, erweist sich für die internationale Migrationspolitik daher als zu simpel. In diesem Beitrag will ich die Agenda des Migrationsmanagements, die seit etwa zehn Jahren die internationale Politik beherrscht, vorstellen und die grundlegenden konzeptionellen und empirisch begründeten Kritikpunkte darstellen, die eine Erreichung der Ziele des Migrationsmanagements sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund wird empfohlen, Überlegungen über alternative Gestaltungsmöglichkeiten von Migrationsprozessen zu intensivieren, die in einer transparenten und wissensgestützten Diskussion zum Aufbau einer globalen Migrationsordnung im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen beitragen.
Die Agenda für ein internationales Migrationsmanagement
In den Analysen der Transnationalisierung der sozialen Welt (1) gelten internationale Migrationsbewegungen als elementarer Bestandteil der aktuellen Globalisierungsprozesse und Aspekt eines ‚Transnationalismus von unten’. Auch in der internationalen Politik wird zunehmend die Normalität von Migrationsprozesen betont. Dabei wird mit Begriffen wie der dreifachen ‚Win-Win-Win-Situation’ auf mögliche positive Effekte hingewiesen, die gleichermaßen für die Herkunfts- und Zielländer sowie für die MigrantInnen selber möglich sind. Eindringlich betont werden aber auch die Gefahren ungesteuerter und irregulärer Migration, die schwerwiegende negative Konsequenzen für Herkunfts- und Zielländer sowie die MigrantInnen selber habe und die nationalstaatliche Souveränität und Sicherheit bedrohe. Aufgabe internationaler Politik sei daher der Aufbau eines internationalen Migrationsmanagements, um positive Auswirkungen von Migration zu maximieren und negative Konsequenzen zu minimieren. (2)
Das Konzept des Migrationsmanagements, das vor gut zehn Jahren durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) gemeinsam mit der Schweizer Regierung in der so genannten Bern-Initiative entwickelt (3) und im Jahr 2004 nach einer Reihe hochrangiger Konsultationen und Regierungskonferenzen in allen Regionen der Welt als ‚Internationale Agenda für ein Migrationsmanagement’ (IAMM) konkretisiert wurde, ist inzwischen Leitbild der internationalen Politik. Mit der Agenda wurde eine neue Rhetorik bzw. positivere Bewertung von Migration und Mobilität in die internationale Migrationspolitik eingeführt, die sich deutlich von der bis dahin vorherrschenden negativen Darstellung von Migration und der einseitigen Betonung der Notwendigkeit von Migrationskontrollen abhebt. Die IAMM verspricht einen ganzheitlichen Ansatz, der die Elemente der Ermöglichung legaler Migration, des Schutzes der Rechte von MigrantInnen, der Verhütung und Bekämpfung irregulärer Migration sowie der Komplementarität von Migration und Entwicklung verknüpft.
Die positiv formulierten Inhalte und Rhetoriken des Migrationsmanagements prägen inzwischen die internationale Migrationspolitik und die Programme aller mit Migration befassten internationalen Organisationen und Institutionen. Dabei lassen sich durchaus verschiedene Schwerpunktsetzungen erkennen: Bei der IOM liegt der Schwerpunkt auf Programmen zur Verhinderung irregulärer Migration. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) dagegen betont Initiativen zur Ausweitung des Schutzes der Rechte von WanderarbeitnehmerInnen. Und vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) wird vielmehr die erleichterte Zulassung von MigrantInnen zum Arbeitsmarkt in den Zielländern herausgehoben.
Rechtliche Basis und politische Orientierungsmarke des Migrationsmanagements ist das von den Nationalstaaten in Anspruch genommene Recht, über die Einreisen und Aufenthalte von Nichtstaatsangehörigen souverän zu entscheiden. Damit werden die Regierungen der Nationalstaaten als entscheidende AkteurInnen und letzte Instanz des Migrationsmanagements bestätigt und bestärkt. Da aber Nationalstaaten aufgrund des transnationalen Charakters von Migrationsprozessen zu einer effektiven Steuerung alleine nicht in der Lage seien, wird die Notwendigkeit der migrationspolitischen Zusammenarbeit von Regierungen der Herkunfts-, Transit- und Zielländer betont. Dabei wird unterstellt, dass Herkunfts-, Transit und Zielländer angesichts der besonderen Bedeutung von Migration für Sicherheit und ökonomische, soziale und politische Stabilität ein gemeinsames Interesse an einem effektiven Migrationsmanagement haben. Mit dem Argument, dass die Umsetzung einer gemeinsamen internationalen Migrationspolitik durch Abstimmungen im Rahmen von UN-Organisationen zu langwierig und wenig aussichtsreich sei, wird eine Umsetzung der Internationalen Agenda für ein Migratonsmanagement auf Grundlage bi- und multilateraler Regierungsabkommen außerhalb des Systems der Vereinten Nationen verfolgt und die Operationalisierung an Internationale Organisationen delegiert. Migrationsbewegungen als soziale ‚Transnationalisierung von unten’ führen damit nicht zu einer Regulierung im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen, einem institutionalisierten politischen ‚Transnationalismus von oben’, sondern zu Re-Nationalisierung.
Konzeptionelle und politische Kritik
In der aktuellen Migrationsforschung werden die Diskurse, AkteurInnen und Praktiken des Migrationsmanagements zunehmend kritisch untersucht. In diesem Abschnitt sollen einige ausgewählte Kritikpunkte vorgestellt werden. (4)
a) Menschenrechtliche Rhetorik ohne Verbindlichkeit
Eine zentrale Kritik betrifft die Instrumentalisierung von Menschenrechtsargumenten. In den Diskursen des Migrationsmanagements wird kontinuierlich ein Bezug auf Menschenrechte hergestellt, wodurch auf lokaler Ebene eine gemeinsame Basis für die Zusammenarbeit mit menschenrechtlich orientierten Nichtregierungsorganisationen geschaffen wird. Doch trotz der Betonung der menschenrechtlichen Dimension beinhalten die Initiativen des Migrationsmanagements keine verbindlichen menschenrechtlichen Verpflichtungen für die beteiligten Staaten. Bevorzugt werden vielmehr Vereinbarungen zwischen Regierungen auf bi- oder multilateraler Basis, die in der technokratischen und entpolitisierten Form von ‚Empfehlungen’ oder ‚Beispielen bester Praxis’ formuliert werden. Staaten ist es mit der Beteiligung am Migrationsmanagement möglich, die politische und praktische Gestaltung des globalen Themas Migration außerhalb des Systems des Menschenrechtsschutzes der Vereinten Nationen zu verfolgen. Damit verringert sich jedoch die Bereitschaft zur Ratifizierung der von den Vereinten Nationen oder der Internationalen Arbeitsorganisation verabschiedeten Abkommen zum Schutz von MigrantInnen, die gemeinsame verbindliche Standards festlegen, (5) – ein eigentlich erklärtes Ziel des Migrationsmanagements.
b) Entpolitisierung der Migration
Die Verwendung einer technokratischen Sprache und die Berufung auf Ergebnisse von Auftragsforschung zur Legitimation migrationspolitischer Ziele bilden weitere Kritikpunkte. Bereits die im Englischen benutzte Bezeichnung ‚Management’ vermittelt einen unpolitischen und dezidiert sachlichen Eindruck. Die Betonung des unpolitischen Charakters des Migrationsmanagements wird auch in der zentralen Argumentation der dreifachen Gewinnsituation für Herkunfts- und Zielländer sowie MigrantInnen deutlich. Bestehende Machtunterschiede, gegensätzliche Interessen und konkurrierende Wertvorstellungen werden mittels der Zuschreibung von „Vorteilen für alle“ durch staatlich koordiniertes Migrationsmanagement überdeckt.
Der unpolitische Eindruck wird verstärkt durch die systematische Berufung auf Berichte, die im Auftrag oder eigenständig von internationalen Organisationen durchgeführt werden. Diese Untersuchungen sind in der politischen Orientierung durch den Entstehungskontext beeinflusst und auf eine Bearbeitung vorgegebener selektiver Fragestellungen beschränkt. Gleichwohl werden sie als wissenschaftlich objektive und politisch neutrale Darstellungen von Fakten und Daten präsentiert, die das Migrationsmanagement als wissenschaftlich fundiertes und politisch neutrales Programm stilisieren und legitimieren. Ausgeblendet bleibt dagegen, dass die Etablierung und Verfolgung des Migrationsmanagements das Ergebnis politischer Entscheidungen der Regierungen, und zwar überwiegend der Zielländer von Migration, ist.
c) Verfestigung bestehender Ungleichheits- und Machtverhältnisse zwischen Staaten
Die Programme im Rahmen des Migrationsmanagements werden den Herkunfts- und Transitländern durch internationale Organsiationen als „technische Hilfe“ zur Lösung von Migrationsproblemen angeboten. Die Finanzierung der von formell unabhängigen internationalen Organisationen durchgeführten Projekte erfolgt allerdings überwiegend durch die Regierungen der Zielländer und ist oft mit dem Ziel verknüpft, Systeme der Grenzsicherung und Migrationskontrolle einzuführen oder auszubauen. Die Möglichkeit nationaler Behörden und lokaler Organisationen, über die Entwicklung und Gestaltung der Gesellschaft selbstbestimmt zu entscheiden, wird mit der Fokussierung der Hilfe zur Lösung von Migrationsproblemen auf Sicherheitsfragen allerdings eingeschränkt. Die Einführung westlicher Rechtskonzepte kann dabei schwerwiegende Folgen für die lokalen Strukturen haben, wenn beispielsweise BewohnerInnen in Folge der Einführung einer Unterscheidung zwischen legaler und illegaler Migration ein illegaler Status zugeschrieben wird. (6)
d) Selektive Umsetzung
Die Akteure des Migrationsmanagements weichen mit ihrer auf Migrationskontrolle beschränkten Praxis von dem in offiziell vertretenen Diskursen vermittelten Anspruch eines ganzheitlichen Ansatzes ab. Dies wird exemplarisch am Beispiel der von der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten verfolgten internationalen Migrationspolitik deutlich. Der aktuell vertretene Gesamtansatz Migration umfasst dem Anspruch nach die Komponenten der guten Gestaltung der legalen Migration, der Prävention und Bekämpfung illegaler Einwanderung und eine enge Verknüpfung der Politikfelder Migration und Entwicklung.
Die bisherigen Erfahrungen mit der Umsetzung machen jedoch deutlich, dass die Agenda von der EU nicht ganzheitlich, sondern selektiv mit Schwerpunkt auf Verhinderung unerwünschter Migration (7) verfolgt wird. Beispielhaft ist die Kooperation mit der Regierung des westafrikanischen Landes Mali. (8) Um die Bereitschaft in Mali zur Zusammenarbeit beim Migrationsmanagement zu fördern, hatte die Europäische Union für malische Staatsangehörige befristete Arbeitsvisa in Aussicht gestellt. Über ein Jobcenter in der Hauptstadt Bamako sollte das Auswahl- und Zulassungsverfahren abgewickelt werden. Allerdings war kein EU-Mitgliedsstaat bereit, temporäre Beschäftigungsmöglichkeiten anzubieten. Das schließlich am 6. Oktober 2008 eröffnete und aus europäischen Mitteln mit 9 Mio. € finanzierte Zentrum für Information und Migrationssteuerung (CIGEM) erhielt daraufhin die Aufgaben, potenzielle MigrantInnen über die legalen Möglichkeiten der Migration zu informieren, über die Gefahren illegaler Migration aufzuklären, RückkehrerInnen zu betreuen, die malische Diaspora zum Engagement in ihrem Heimatland zu motivieren und Migrationsforschung zu betreiben.
Vergleichbar einseitig gestaltet ist der Vorschlag für ein Migrationsabkommen, den die deutsche Regierung im Juli 2009 an die ghanaische Regierung übermittelte. Darin wird nach Auskunft der Bundesregierung eine strukturierte und grundsätzlich befristete Wirtschafts- und Arbeitsmigration für ghanaische Staatsangehörige – in einem nicht weiter spezifizierten Umfang – angeboten. Die Erteilung der Arbeitsvisa soll grundsätzlich von der Rückkehr der zuvor befristet zugelassenen ghanaischen Staatsangehörigen abhängig sein. Allgemeine Erleichterungen bei Einreise und Visumsverfahren sind nicht vorgesehen. Der Abschluss des Abkommens soll die Voraussetzung schaffen, dass Ghana ein Rückübernahmeabkommen unterzeichnet und in der Bekämpfung illegaler Migration kooperiert.
Die von den Regierungen der Zielländer unter der Bezeichnung Migrationsmanagement verfolgten Maßnahmen konzentrieren sich auf die Verhinderung irregulärer Migration. Entwicklungspolitische Angebote an Herkunftsländer, wie sie zur Zeit mit den Konzepten der Mobilitätspartnerschaften und zirkulärer Migration diskutiert werden, sind mit der Verpflichtung zur Zusammenarbeit bei der Abwehr irregulärer Migration verknüpft. Initiativen zur guten Gestaltung legaler Migration, die Angebote zur Ermöglichung von Einreisen und Aufenthalten beinhalten, werden nicht eigenständig verfolgt.
Strukturelle Hindernisse für die Umsetzung des Migrationsmanagements
Zusätzlich zur grundlegenden konzeptionellen Kritik liefern Befunde der internationalen Migrationsforschung grundsätzliche Hinweise, dass eine erfolgreiche Umsetzung der Agenda für ein Internationales Migrationsmanagement ausgesprochen unrealistisch ist. Neben den in der politikwissenschaftlichen Migrationsforschung (9) betonten Interessensgegensätzen zwischen und innerhalb von Ländern ist auch die in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung (10) thematisierte soziale Eigendynamik von Migrationsprozessen relevant.
a) Widersprüche zwischen Ländern
Das mit der Internationalen Agenda für ein Migrationmanagement unterstellte gemeinsame Interesse der Herkunfts-, Transit- und Zielländer an einer effektiven Migrationssteuerung ist nicht zu erkennen. Während die Zielländer von Migration die Durchsetzung der Kontrolle über Einreisen und Aufenthalte als politisches Ziel verfolgen, verbinden die Herkunftsländer mit der Migration ihrer Staatsangehörigen durchaus Vorteile, da Arbeitslosigkeit verringert wird und durch Rücküberweisungen (auch von irregulären MigrantInnen) finanzielle Mittel in das Land fließen, die teilweise das Finanzvolumen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit deutlich übersteigen.
Um dennoch eine migrationspolitische Zusammenarbeit zu erreichen, unterbreiten die Regierungen der Zielländer kompensatorische finanzielle Angebote oder bauen diplomatischen Druck auf. Die Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer bietet dafür Beispiele: So wurde im Falle Albaniens dessen Kooperationsbereitschaft mit der Aussicht auf eine Assoziation mit der europäischen Union befördert. (11) Im Falle des 2008 vereinbarten Freundschaftsabkommens zwischen der italienischen Berlusconi-Regierung und dem libyschen Diktator Gaddafi, das die Grundlage für eine Kooperation bei der Verhinderung der irregulären Migration von Libyen nach Italien schuf, wurde eine Zahlung von 5 Mrd. Dollar vereinbart. (12)
Diese Aktivitäten entsprechen einer Strategie der Vorverlagerung von Migrationskontrolle in Transit- und Herkunftsländer wie Mali, Ghana oder Libyen. Mit Nachdruck verfolgt wird auch die Intensivierung von Kontrollen in den Zielstaaten (durch die Arbeitgebersanktionenrichtlinie und, vor allem an den Außengrenzen, durch den Aufbau der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX (13) sowie durch die Privatisierung der Migrationskontrolle, bei der Transportunternehmen und ArbeitgeberInnen zur Überprüfung von Personalien verpflichtet werden und bei Verstößen mit ernsthaften Sanktionen bedroht werden.
b) Widersprüche innerhalb der Zielländer
Die Verwirklichung der Ziele der Migrationskontrolle wird aber nicht nur durch die unterschiedlichen Interessenslagen zwischen Herkunfts- und Zielstaaten beeinträchtigt, sondern auch durch Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen Politikfeldern und AkteurInnen innerhalb der Zielländer. Das wirtschaftspolitische Interesse an der Durchlässigkeit von Grenzen, um internationale Mobilität für Handel, Wirtschaft, Wissenschaft oder internationalen Tourismus zu ermöglichen, schränkt den Spielraum umfassender Migrationskontrolle faktisch ein. Tatsächlich erfolgen die meisten irregulären Aufenthalte im Anschluss an eine legale Einreise. Durch die Interventionen von Wirtschaftsverbänden, Selbstorganisationen von MigrantInnen oder humanitären Organisationen, die auf die Gestaltung und Umsetzung von Migrationspolitiken Einfluss nehmen, wird die Chance einer effektiven Kontrolle im Inland in bestimmten Bereichen wie z.B. Privathaushalten eingeschränkt. Schließlich sind die Nationalstaaten durch Selbstverpflichtungen, die sich aus der Verfassung, der Unterzeichnung von Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen oder der Mitgliedschaft in regionalen Systemen (z. B. Europarat) ergeben, in ihrer Souveränität faktisch eingeschränkt.
c) Die Eigendynamik der Migration
Die Ansprüche auf Migrationssteuerung werden zusätzlich durch die soziale Eigendynamik von Migration zunichte gemacht. (14) Die strukturellen und sozialen Faktoren, die die Migration motivieren, erweisen sich als stärker als staatliche Kontrollpraktiken. Strukturelle Faktoren für Migration ergeben sich vor allem aus einer ungleichen räumlichen Verteilung der Chancen auf Verwirklichung eines guten Lebens. In vielen Regionen der Erde besteht eine Kultur der Migration. Die Ausübung von Mobilität zur Verbesserung der Lebenssituation wird als selbstverständliche und legitime Praxis angesehen. Staatliche Beschränkungen werden als unfair oder illegitim betrachtet und nach Möglichkeit umgangen. (15) Ermöglicht wird das Unterlaufen bzw. Umgehen von Migrationsbeschänkungen durch vielfältige transnationale soziale Verflechtungen, die auch unerlaubte Zugangsmöglichkeiten eröffnen. Aufgrund einer kolonialen Geschichte, wirtschaftlicher oder militärischer Beziehungen sowie der Anwerbung von Arbeitskräften bestehen in allen Zielländern Diasporas, die weiteren MigrantInnen den Zugang erleichtern. Zur Ermöglichung einer Einreise mit oder ohne Erlaubnis kann auch auf die angebotenen Dienstleistungen einer florierenden Migrationsindustrie eingegangen werden. Im Zielland ergeben sich Anschlussmöglichkeiten durch die Nachfrage nach Arbeitskräften in offiziellen und informellen Beschäftigungsbereichen.
Nebenwirkungen eines unrealistischen Migrationsmanagements
Die Internationale Agenda für ein Migrationsmanagement lässt sich als Versuch der reichen Zielländer des Westens ansehen, durch den Aufbau bi- und multilateraler Vereinbarungen außerhalb des UN-Systems die ökonomische Nützlichkeit von Migration zu erhöhen und unerwünschte Migration abzuwehren. Eine regulierte Offenheit für die Mobilität hoch qualifizierter MigrantInnen wird mit einer Politik der Zugangsbeschränkungen gegenüber unerwünschter Migration kombiniert. Dieser aktuelle Trend in der internationalen Migrationspolitik lässt sich aufgrund der Machtungleichheit und Hierarchie zwischen Herkunfts-, Transit und Zielländern eher dem Idealtypus der Re-Nationalisierung als der Inter-Nationalisierung zuordnen.
Die Befunde der Migrationsforschung verdeutlichen allerdings, dass erhebliche strukturelle und soziale Hindernisse bestehen, die der erfolgreichen Umsetzung der Agenda entgegenstehen. Der staatliche Anspruch auf alleiniges Entscheidungsrecht über Einreise und Aufenthalt von Nichtstaatsangehörigen befindet sich im Spannungsfeld mit Interessenlagen und Wertvorstellungen der sozialen transnationalen Verflechtungszusammenhänge, die ihrerseits oft das Ergebnis vorheriger Politiken darstellen. (16) Für Aktivitäten und Programme zur Migrationssteuerung werden erhebliche finanzielle und personelle Ressourcen aufgewendet, ohne dass die Effektivität und Effizienz evaluiert oder Überlegungen für effizientere Mittelverwendungen angestellt werden würden. Die Intensivierung und Ausweitungen der Kontrollbemühungen ist mit Nebenfolgen verbunden: Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer irregulärer MigrantInnen wird länger, da eine Wiedereinreise schwieriger gemacht wird. Unerlaubte Einreisen werden riskanter und die Zahl der Todesfälle an den Grenzen nimmt zu. Dieser humanitäre Aspekt der Migrationskontrolle sollte die Legitimation des Migrationsmanagements grundlegend in Frage stellen. Zudem untergräbt die Diskrepanz zwischen der politischen Zielsetzung souveräner Migrationssteuerung und nicht vollständig zu kontrollierenden Migrationsprozessen das Vertrauen in politische Institutionen und bietet auch Anlässe für rechtspopulistische Mobilisierungen.
Alternativen zum Migrationsmanagement?
Lässt sich ein alternatives Konzepten zur Gestaltung internationaler Migration denken? Das für BürgerInnen der Europäischen Union bestehende Recht auf Binnenfreizügigkeit bietet eine Anregung für ein alternatives Modell zum Anspruch auf Steuerung der Migration. Trotz erheblicher Unterschiede bei Wirtschaftskraft, Einkommensniveau und Arbeitslosigkeit der Mitgliedsstaaten bestehen – abgesehen von zeitlich befristeten Übergangsregelungen für BürgerInnen neuer EU-Mitgliedsstaaten – keine Einschränkungen der individuellen Mobilitätsrechte. Die vor der Einführung der Freizügigkeit regelmäßig geäußerten notorischen Befürchtungen vor einer Massenzuwanderung in die wirtschaftlich stärkeren Länder, die negative Effekte auf die Arbeitsmärkte und Sozialsysteme der Zielländer haben sollte, erwiesen sich regelmäßig als unbegründet. Die Zuwanderungsmuster, die von der Bevölkerung der Zielländer zu Recht als problematisch angesehen werden, sind vor allem Ergebnis unangemessener rechtlicher Regulierung der Arbeitsmarktbeziehungen und nicht der Freizügigkeit. Die Erfahrungen mit der europäischen Freizügigkeit zeigen, dass die Regierungen der Zielländer durch angemessene Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen des Zugangs zu Beschäftigung und Sozialsystemen durchaus die Voraussetzungen für Freizügigkeit schaffen können.
Doch so wie jede Ausweitung der EU-Freizügigkeit stößt auch die Vorstellung einer globalen Freizügigkeit, die theoretisch die konsequenteste Alternative zur Agenda des internationalen Migrationsmanagements bildet, auf starke Vorbehalte. Für die Suche nach alternativen Möglichkeiten zur Gestaltung internationaler Migration sollte diese Möglichkeit aber nicht einfach verworfen werden. Die inzwischen differenzierte wissenschaftliche Diskussion über die Verwirklichung einer „Migration ohne Grenzen“ (17) ist als provokativer und anregender Anstoß anzusehen, um die gängige Rechtfertigung der für alternativlos gehaltenen Migrationspolitiken produktiv zu hinterfragen und die Debatte um fairere Migrationspolitiken voranzubringen.
Initiiert wurde die Diskussion von Joseph Carens. (18) Der liberale Philosoph argumentiert, dass Mobilität zu den grundlegenden menschlichen Freiheiten zählt, die nicht pauschal durch den nationalstaatlichen Anspruch auf Zulassung zum Territorium entwertet werden darf. Die Verweigerung des Zugangs und damit des Menschenrechts auf Mobilität bedarf vielmehr einer starken Rechtfertigung, die für Carens allein in einer Bedrohung der liberalen Grundinstitutionen besteht. Eine bloße pauschale Annahme, dass die liberalen Grundinstitutionen durch Migration zerstört würden, reiche allerdings nicht aus. Vielmehr müsse die Gefahr konkret und überzeugend nachgewiesen werden.
Über das Recht auf Mobilität wird in der politischen Philosophie inzwischen intensiv und kontrovers diskutiert. (19) Dabei wird auch der von Nationalstaaten vertretene Souveränitätsanspruch, in Fragen der Zuwanderung allein nach nationalen Interessen zu entscheiden, kontrovers diskutiert. Entgegnet wird, dass der nationalstaatliche Souveränitätsanspruch nicht absolut sein kann, sondern immer im Spannungsfeld mit individuellen Freiheits- und Menschenrechten bestimmt werden müsse. Faktisch werde die Souveränität der Nationalstaaten bereits durch die eingegangene Verpflichtung zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards eingeschränkt.
Stärker empirisch ausgerichtete Beiträge untersuchen die Bedingungen und Argumente, die gegen die Gestaltung der Migration ohne Grenzen vorgetragen werden. (20) Dabei werden die Hinweise auf eine mögliche Überlastung der Sozialsysteme und die starken Vorbehalte, die in der Bevölkerung gegenüber der Idee offener Grenzen bestehen und die sich zu antidemokratischen und rassistischen Stimmungen steigern könnten, sehr ernst genommen. Die Erfahrungen mit der europäischen Freizügigkeit lassen es jedoch durchaus als möglich erscheinen, dass mit politischer Führung und behutsamem Vorgehen eine Liberalisierung von Migration schrittweise möglich wäre. Bei dieser Diskussion lässt sich durchaus anknüpfen an das in der Agenda für ein Migrationsmanagement formulierte Ziel der guten Gestaltung legaler Migration und des Schutzes der Rechte von MigrantInnen.
Entwicklung einer globalen Migrationsordnung
Die mit der Internationalen Agenda für ein Migrationsmanagement verfolgten Aktivitäten schaffen aufgrund der dargestellten unterschiedlichen Interessenslagen und Schwierigkeiten keinen akzeptablen Rahmen für die Ermöglichung von Migration. Die hier vorgetragenen Beobachtungen und Überlegungen zeigen, dass der sozialen Transnationalisierung von unten bisher ein Rahmen verbindlicher Standards auch zum Schutz der Rechte von MigrantInnen durch einen institutionalisierten Transnationalismus von oben fehlt.
Eine globale Migrationsordnung, die bestehende Machtungleichheiten zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern in Verhandlungen bestehende Interessensunterschiede offen legt, diskursiv neutralisiert und der politischen Reflektion in einer offenen und transparenten Diskussion wieder zugänglich machen könnte, ist im Rahmen des UN-Systems zu entwickeln. Eine solche Ergänzung der sozialen Transnationalisierung von unten durch eine institutionalisierte migrationspolitische Transnationalisierung von oben, die nicht einseitig ein durch die Interessen der Zielländer bestimmt ist und für alle Vertragsparteien Normen setzt und verbindlich ist, steht noch aus.
Endnoten
1 Grundlegend Pries, L. 2008. Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2 So auch Weltkommission für Internationale Migration. 2005. Migration in einer interdependenten Welt: Neue Handlungsperspektiven. Bericht der Weltkommission für Internationale Migration, Berlin: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen.
3 Dieser Abschnitt basiert im Wesentlichen auf IAMM. 2004. International Agenda for Migration Management. Common Understandings and Effective Practices for a Planned, Balanced, and Comprehensive Approach to the Management of Migration. Geneva: IOM; sowie Geiger, M., Pécoud, A., eds. 2010a. The Politics of International Migration Management. Houndmills: Palgrave Macmillan.
4 Dieser Abschnitt basiert im Wesentlichen auf den Ausführungen von Geiger, M., Pécoud, A. 2010b. The Politics of International Migration Management. In: The Politics of Migration Management, ed. M. Geiger, A. Pécoud, pp. 1-20. Houndsmill: Palgrave Macmillan.
5 Eine Diskussion der Standards der internationalen Schutzbestimmungen bieten u.a. Cholewinski, R. 2005. Protecting Migrant Workers in a Globalized World. In: Migration Information Source () und Piper, N. 2006. Economic Migrationand the Transnationalization of the Rights of Foreign Workers – A Concept Note. Asia Research Institute Singapore Working Paper No. 58. Singapore: Asia Research Institute.
6 Vergleiche dazu Poutignant, P., Streiff-Fénart, J. 2010. Migration Policy Development in Mauretania: Process, Issues and Actors. In: In The Politics of International Migration Management, ed. M. Geiger, A. Pécoud, pp. 202-219. Houndsmill: Palgrave Macmillan.
7 Einen aktuellen Überblick über die Maßnahmen der Europäischen Union im Politikfeld ‚irreguläre Migration’ bieten Düvell, F., Vollmer, B. 2011. European Security Challenges. Background paper EU-US Immigration Systems 2011/01. Florence: European University Institute.
8 Vergleiche dazu die Presseerklärung der Europäischen Kommission, IP/08/1463 vom 6. Oktober 2008 sowie kritisch Janicki, J.J., Böwing, T. 2010. Europäische Migrationskontrolle im Sahel. In: Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, ed. S. Hess, B. Kasparek, pp. 127-44. Berlin und Hamburg: Assoziation-A.
9 Die Darstellung der Befunde der politikwissenschaftlichen Migrationsforschung beruhen im Wesentlichen auf Hollifield, JF. 2003. Offene Weltwirtschaft und nationales Bürgerrecht: das liberale Paradox. In: Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, ed. D. Thränhardt, U. Hunger, pp. 35-57. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
10 Die Darstellung der Befunde der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung beruhen im Wesentlichen auf Castles, S. 2005. Warum Migrationspolitiken scheitern. Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 25: 10-34.
11 Siehe Geiger, M. 2010. Mobility, Development, Protection, EU-Integration! The IOM's National Migration Strategy for Albania. In: The Politics of International Migration Management, ed. M. Geiger, A. Pécoud, pp. 141-59. Houndsmill: Palgrave Macmillan.
12 Siehe Marchetti, C. Ibid. Expanded Borders: Policies and Practicies of Preventive Refoulment in Italy. pp. 160-83. Houndmills; sowie Smoltczyk, A. 2009. Migration: Ertrunken, erschlagen, verdurstet. In: Spiegel 15/2009 vom 6. April 2009.
13 Siehe Müller, D. 2010. Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen. Metamorphosen einer umkämpften Kategorie am Beispiel der EU, Deutschlands und Polens; sowie Walters W. 2010. Imagined Migration Worlds: The European Union's Anti-Illegal Immigration Discourse. In The Politics of International Migration Management, ed. M. Geiger, A. Pécoud, pp. 73-95. Houndmills: Palgrave Macmillan.
14 Diese Bezeichnung wird verwendet von Hoerder, D., Lucassen, J., Lucassen, L. 2007. Terminologie und Konzepte in der Migrationsforschung. In: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, ed: K.J. Bade, PC. Emmer, L. Lucassen, J. Oltmer, pp. 28-53, Paderborn: Schonigh, Zitat p. 40.
15 Siehe u.a. Kalir, B. 2005. The Development of a Migratory Disposition: Explaining a "New Emigration". International Migration 43: pp. 167-96; Kyle, D., Siracusa, C.A. 2005. Seeing the State Like a Migrant. Why So Many Non-Criminals Break Immigration Laws. In: Illicit Flows and Criminal Things. State Borders, and the Other Side of Globalisation, ed. W. van Schendel, I. Abraham, pp. 153-76. Bloomington: Indiana University Press.
16 Siehe dazu Sassen, S. 1996. Losing control? Sovereignty in An Age of Globalization. New York: Columbia University Press
17 Siehe dazu Pécoud, A., De Guchteneire, P. 2006. International Migration, Border Controls and Human Rights: Assessing the Relevance of a Right to Mobility. Journal of Borderland Studies 21: pp. 69-86. [http://www.childtrafficking.com/Docs/intl_migration_brder_cntrl_070402…]
18 Siehe Carens, J. 1995. Aliens and Citizens: The Case for Open Borders. In The Rights of Minority Cultures, ed. W Kymlicka, pp. 331-49. Oxford: Oxford University Press.
19 Siehe dazu u.a. Casey, J.P. 2010. Open Borders: Absurd Chimera or Inevitable Future Policy? International Migration 48: pp. 14-62; Johnson, K.R. 2003. Open Borders? UCLA Law Review 51: pp. 193-265, sowie Kirloskar-Steinbach, M. 2007. Gibt es ein Menschenrecht auf Immigration? Politische und philosophische Positionen zur Einwanderungsproblematik. München: Fink
20 Siehe dazu Bauböck, R. 2004. Migration und innere Sicherheit: Komplexe Zusammenhänge, paradoxe Effekte und politiche Simplifizierungen. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 33: pp. 49-66. Pécoud, A., De Guchteneire, P. 2006. International Migration, Border Controls and Human Rights: Assessing the Relevance of a Right to Mobility. Journal of Borderland Studies 21: pp. 69-86
.
Dr. Norbert Cyrus ist wiss. Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Forschungsschwerpunkte u.a.: Ethnologie irregulärer Migration, politische Partizipation von EinwanderInnen.