Entwicklung durch Migration: Globalisierung auch für Menschen

von Dietrich Thränhardt

Transfers durch Migranten: effektiver als Entwicklungshilfe

Gut geregelte Migration kann in einer offenen Welt große positive Wirkungen entfalten, und zwar für die Entwicklungsländer, für die Einwanderungsländer und für die Migranten selbst. Das ist die Botschaft, die mit dem Bericht der Global Commission on International Migration vom Oktober 2005 in ein breites Licht der Öffentlichkeit gestellt worden ist. Die OECD hat in ihrem International Migration Outlook 2006 eine ganz entsprechende Studie über International Migrant Remittances and Their Role in Development vorgestellt. Schon im Jahr 2004 hatte das International Development Committee des britischen Unterhauses ebenfalls herausgearbeitet, dass die finanziellen Transfers von Migranten entscheidende Anstöße zur Armutsbe-kämpfung in den Herkunftsländern geben können (House of Commons 2004).

Schaubild 1: Ressourcenübertragungen in Entwicklungsländer (Mrd. US-Dollar)
Bild entfernt.

 
Quelle: House of Commons 2004, Abbildung. 6 (Übersetzung des Autors)

Die Ressourcenübertragungen durch Migranten aus den reichen in die armen Länder haben sich in den letzten Jahren weit dynamischer entwickelt als die staatliche Entwicklungshilfe. Sie erreichen die Bevölkerung mit weit geringeren Reibungsverlusten und sind weniger Schwankungen unterworfen als Entwicklungshilfe und private Direktinvestitionen. Außerdem ergeben sich Know-how-Transfers durch Rückwanderungen und den Aufbau von Netzwerken. In politisch und ökonomisch stabile Länder fließen die Transfers über offizielle Kanäle und werden in die jeweilige Landeswährung getauscht. Im Fall von failed states sind dagegen die Diaspora-Netzwerke besonders wichtig, die zur Restabilisierung beitragen und wichtige Lebenslinien aufrechterhalten können. Wichtig sind auch die politischen Erfahrungen von Emigranten in demokratischen Staaten, wie in den letzten Jahren in so unterschiedlichen Staaten wie Litauen, Lettland, Serbien und Afghanistan zu verfolgen war. Allein in Afghanistan amtierten im Jahr 2006 drei Minister, die in Deutschland gelebt und auch die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatten.

Das Beispiel der EU-Beitrittsländer

Die Mittelmeerländer und Irland, aus denen vor vierzig Jahren Migranten in die alten Indust-rieländer kamen, sind heute in ihrer Entwicklung weit fortgeschritten. Dies ist nicht allein auf die Migration zurückzuführen, sie war vielmehr ein Element der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Öffnung, zusammen mit dem Tourismus, der Aufhebung der Zollschranken und der Konvergenz in einem zusammenwachsenden Europa. Wie in Nationalstaaten wurden dabei die weniger entwickelten Gebiete und Länder besonders gefördert, was im Fall von Irland – einem klassischen Auswanderungsland mit einer langen Tradition des Teufelskreises von Unterentwicklung und Auswanderung – einen so weitgehenden Erfolg hatte, dass es Geberländer wie Deutschland inzwischen überflügelt hat.

Obwohl der europäische Integrationsprozess demonstriert, dass man die Grenzen öffnen, die Grenzkontrollen zwischen dem Nordkap und dem Mittelmeer abschaffen und die Visumpflicht auch für Umbruchsländer wie Rumänien und Bulgarien abschaffen kann, existieren kaum Szenarien zum weiteren Abbau der Grenzen und der Schaffung einer offenen Welt.

Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei Wissenschaftlern gab es vor den beiden großen EU-Erweiterungen um weniger entwickelte Länder – 1981/86 um Griechenland, Spanien und Portugal, 2004 um Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Malta und Zypern - extreme Befürchtungen vor einer „Überflutung“ durch Zuwanderer. Ernsthafte Probleme stellten sich nicht ein. Im Fall von Spanien, Portugal und Griechenland setzte sogar eine starke Rückwanderung ein, die von parallelen Alters- und Luxus-Migrationen an die Mittelmeerküsten begleitet wurde. Seit dem Jahr 2005 konstatieren wir entsprechende Rückwanderungen von Deutschland nach Polen. Im Jahr 2006 bilanzierte die EU-Kommission, dass Länder wie Großbritannien und Irland, die ihren Arbeitsmarkt für Bürger Polens und anderer Beitrittsländer geöffnet hatten, beträchtliche Wohlstandsgewinne verzeichnen konnten.

Faktisch existiert die weltweite Reisefreiheit bereits heute für die Bewohner der reichen Triade Europa-Amerika-Japan, während die Menschen aus den meisten Entwicklungsländern in dieser Beziehung stark eingeschränkt sind. Statt Interesse an einer Öffnung der Grenzen und einer schrittweisen Erweiterung der Globalisierung um die Bewegungsfreiheit für Menschen ist die Literatur beherrscht von Titeln wie „Das Weltflüchtlingsproblem“ (Opitz 1995), in denen Migration ausschließlich als Belastung und Bürde dargestellt wird. Selbst Liberale vertreten zu wenig das Ideal einer selbst regulierenden Welt, in der die Menschen ihr eigenes Schicksal bestimmen. Sie sprechen sich stattdessen häufig für Quoten, Kontingente und Punktesysteme aus – also planwirtschaftliche Mechanismen. Selten werden die Migranten als unternehmende Subjekte analysiert, statt dessen meist ihre Defizite beschrieben.

Vom Defizitansatz zur positiven Verknüpfung

Entwicklungs- und Migrationsforschung waren bisher in Öffentlichkeit und Forschung weithin von weithin von Defizitansätzen geprägt:

  • Migranten wurden in der Öffentlichkeit und in der Literatur weithin als defizitäre Wesen und als „Problem“ geschildert. Die Konzentration der öffentlichen Diskussion in den letzten Jahren auf „Integration“ und „Integrationsdefizite“ hat diesen Denkansatz noch verstärkt, da der Wert der mitgebrachten Kulturelemente damit implizit ausgeklammert wird (Michalowski 2007). Ein neueres Beispiel für derartiges Denken findet sich in der Argumentation der Herzog-Kommission der CDU. Sie lehnt Migration als Teillösung des demografischen Problems ab, ohne aber andere Lösungen anzubieten und ohne positive Aspekte der Migration auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen (Bericht 2003). Dagegen weist der sehr gründlich ausgearbeitete interfraktionelle Bericht „Migration and Development“ des britischen Unterhauses darauf hin, dass auch bei rein monetärer Betrachtung der Nutzen von Migration die Kosten übertrifft (House of Commons 2004).
  • Die Entwicklungsländer sind in ähnlicher Weise immer wieder als Defizit-Länder geschil-dert worden, die es mit westlicher Hilfe zu befähigen gelte. Die Entwicklungsliteratur schil-dert eine Kette von Misserfolgen, die auf Korruption, Inkompetenz, politische Instabilität und mangelnde kulturelle Voraussetzungen zurückgeführt werden. Betroffen von derartigen Sze-narien ist insbesondere Afrika, das in den Medien überwiegend mit Katastrophen in Verbin-dung gebracht wird.
  • Jahrzehntelang sind die beiden Bereiche mit einer dritten Defizit-Idee verbunden worden: dem brain drain, dem Verlust der bestausgebildeten Spezialisten an die reichen Länder (Braun/Topan 1998). Aus diesem Grund hat die deutsche Entwicklungspolitik konsequent an der Rückführung der hier Ausgebildeten festgehalten, sofern sie die Beschränkungen nicht umgehen konnten, etwa über eine Eheschließung.

Die Politik ist faktisch gescheitert, weil die USA seit dem Clinton-Boom dazu übergegangen sind, sich für die „besten Köpfe“ aus der ganzen Welt zu öffnen. Auch in Deutschland Ausgebildete können in die USA gehen, wenn Deutschland ihnen keine Chance eröffnet, und sie haben dies in großem Ausmaß getan. Auch Länder wie Kanada, Australien und auch Irland und Großbritannien verfolgen ähnliche Strategien, was ihre Attraktivität auch für hochqualifizierte Studierende außerordentlich steigert (McLaughlan/ Salt 2002). Bezeichnend für diesen Zusammenhang ist es, dass ausgerechnet deutsche Entwicklungshilfe am Beginn der Überproduktion von Computerspezialisten in Indien stand (Saxenian 2001; Hunger 2000). Viele dieser Spezialisten gingen anschließend in die USA und bildeten eine wesentliche personelle Grundlage für den IT-Boom in Kalifornien. In späteren Jahren kehrten einige von ihnen schließlich nach Indien zurück und begründeten dort eine blühende Computerindustrie (Hun-ger 2005). Gewonnen hatten damit die USA, Indien und auch die Auswanderer selbst (Triple-Win-Situation). Deutschland hat sich insofern durch seine Politik selbst bestraft und seine wirtschaftlichen Chancen nicht wahrgenommen - ganz abgesehen vom Export seiner eigenen Spitzenwissenschaftler in die USA, die wegen der kontraktiven Bildungspolitik in Deutschland keine Chance finden.

Entwicklung bringt zunächst mehr Migration, erst später weniger

Damit ist zugleich ein anderer Debattenstrang falsifiziert: die Idee, man könne mit einer besseren oder besser finanzierten Entwicklungszusammenarbeit die reiche Welt vor der Migration aus der armen Welt abschirmen. Gleichwohl wird dieser Zusammenhang in der Öffentlichkeit immer wieder beschworen, sobald unerwünschte Migranten an den Küsten Südeuropas landen - in verklausuliertes Form noch 2005 durch den EU-Ministerrat (The European Council 2005). Wissenschaftliche Analysen und praktische Erfahrungen zeigen aber, dass Wirtschaftswachstum Auswanderung in der ersten Phase nicht verhindert. Im Gegenteil: Wenn ein Land sich dynamisch hin zu einer offenen Marktwirtschaft entwickelt, werden durch Transformationsprozess zunächst mehr Arbeitskräfte freigesetzt. Deswegen entsteht mehr Migration – im Inneren und nach Außen. Steigende Einkommen und eine größere Marktförmigkeit der Wirtschaft erleichtern es zudem, Migrationsentscheidungen zu treffen und durchzuführen. Dies hängt damit zusammen, dass nicht die allerärmsten Schichten der Bevölkerung migrieren, sondern eher Menschen, die in Modernisierungsprozessen stehen und auch über das Mindestmaß an Mitteln verfügen, das Voraussetzung für Migration ist. Erst in einem späteren Stadium nimmt die Migrationsneigung ab, weil die weiter wachsende Wirtschaft mehr Arbeitskräfte aufnehmen kann und wegen der veränderten Anreizstrukturen die Geburtenraten sinken.

Schaubild 2: Der Migrationsbuckel
Bild entfernt.

Quelle: House of Commons 2004, Abbildung 4 (Übersetzung des Autors).
Zone A: vor der ökonomischen Öffnung: wenig Wanderung und Austausch
Zone B: Ökonomische Öffnung und Auswanderung
Zone C. Demographische Wende, befriedigendes Einkommen, Rückgang der Auswanderung

Es ist schwierig, Migrationsverläufe exakt zu quantifizieren. So ist die entsprechende Prognose Philip Martins über eine anfängliche Steigerung der mexikanischen Migration in die USA als Resultat des NAFTA-Prozesses (Martin 2002) zwar eingetreten, auf Grund der mexikanischen Wirtschaftskrise aber sehr viel stärker ausgefallen als vorausgesagt, und es gibt auch kein Anzeichen für ein Ende des Migrationsdrucks. Insofern ist die schematische Darstellung des britischen Unterhaus-Berichts instruktiv, die zunächst mehr Migration und anschließend ein Auslaufen der Entwicklung zeigt, auch wenn sie keine Aussage zu den Zeiträumen und Quantitäten macht. Kein Zweifel besteht aber daran, dass Modernisierung und wirtschaftliche Aktivierung eines Landes zunächst Migration freisetzen. Auch historisch lässt sich dies belegen: man denke etwa an Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Bade 2000) und an Spanien zwischen 1960 und 1973 (Kreienbrink 2004). Ein Rückgang der Auswanderung tritt erst dann auf, wenn die die Lage sich ökonomisch und auch politisch stabilisiert hat.

Zirkuläre Migration?

Das Schäuble-Sarkozy-Papier vom Oktober 2006 greift verdienstvoller Weise die Idee auf, dass Migranten aus ärmeren Ländern in den reicheren Ländern arbeiten und dann auch zurückkehren. Das Papier geht aber in zweifacher Weise am Problem vorbei. Erstens geht es für Deutschland und Frankreich von einer Null-Varianten aus und ändert damit nichts. Zweitens konzipiert es die Hin- und Herwanderung nicht als freie Entscheidung der Betroffenen, wie es im internen Erfolgsrezept der EU enthalten ist, sondern als Aufgabe der Staaten, die dann Hin- und Rückführungen zu organisieren hätten (zur Analyse der Migrationsregime der Welt vgl. Thränhardt 2003). Die ist eine hypertrophe Selbstüberschätzung der Regelungsapparate, die im Zeitalter der Globalisierung obsolet und nach allen Erfahrungen auch nicht durchführbar ist. Vielmehr führt gerade die freie Entscheidungsmöglichkeit dazu, dass viele Migranten zurückkehren – vor allem dann, wenn sie sicher sind, wieder kommen zu können. Sinnvoller wäre es, entsprechende ökonomische Anreize zu setzen, etwa über die Mitnahmemöglichkeit der Sozialversicherungsabgaben.

Literatur

  • Bade, Klaus J. 2000: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München.
  • Braun, Gerald / Angelina Topan 1998: Internationale Migration. Ihre Folgen für die Ursprungsländer und Ansät-ze eines Migrationsregimes, Sankt Augustin  (Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studien Nr. 153).
  • Bericht der Kommission “Soziale Sicherheit“ zur Reform der sozialen Sicherungssysteme; http://www.cdu.de/, 30.9.2003.
  • Freeman, Gary 2004: Political Science and Comparative Immigration Politics, in: Michael Bommes/ Ewa Mo-rawska (Hrsg.), International Migration Research: Constructions, Omissions and the Promises of Interdiscipli-narity, Aldershot 2004, S. 111-128.
  • Global Commission on International Migration 2006: Migration in einer interdependenten Welt: Neue Hand-lungsprinzipien. Bericht der Weltkommission für internationale Migration, Berlin. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen 2006 (englische Originalausgabe 2005 unter http://www.gcim.org/).
  • House of Commons. International Development Committee, Migration and Development: How to work for pov-erty reduction. Sixth Report of Session 2003-04, London: The Stationary Office 2004. S. 81-98.
  • Uwe Hunger, Vom ‚brain drain’ zum ‚brain gain‘. Migration, Netzwerkbildung und sozio-ökonomische Ent-wicklung: das Beispiel der indischen ‘Software-Migranten’, in: IMIS-Beiträge, Nr. 16, 2000, S. 7-22.
  • Hunger, Uwe 2005: Vier Thesen zur deutschen Entwicklungshilfepolitik für Indien. In: APUZ 27, 4. 7 . 2005, 12-19.
  • Kreienbrink, Axel 2004: Einwanderungsland Spanien. Migrationspolitik zwischen Europäisierung und nationa-len Interessen, Frankfurt: IKO.
  • Martin, Philip 2002: Economic Integration and Migration: The Mexico-US Case, Arbeitspapier der University of California, Davis.
  • McLaughlan, Gary Gail /John Salt 2002: Migration Policies Towards Highly Skilled Foreign Workers. Report to the Home Office;
  • Michalowski, Ines 2007: Bringschuld des Zuwanderers oder Staatsaufgabe? Integrationspolitik in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden, phil. Diss. Münster.
  • OECD 2006: International Migration Outlook. SOPEMI 2006, Paris: OECD.
  • Opitz, Peter J. 1995: Das Weltflüchtlingsproblem. Ursachen und Folgen, München: Beck.
  • Saxenian, AnnaLee 2001: Silicon Valley’s New Immigrant Entrepreneurs, in: W.A. Cornelius, T.J. Espenshade, I. Salehyan (Hrsg.): The International Migration of the Highly Skilled. Demand, Supply and Development Con-sequences in Sending and Receiving Countries, San Diego, S.197-234. (CCIS Anthologies 1).
  • The European Council, The EU and Africa: Towards a Strategic Partnership, 15.-16. 12 2005, 15961/05
  • Thränhardt, Dietrich/ Hunger, Uwe (Hrsg.), Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, Leviathan-Sonderheft 2003, Wiesbaden 2003, S. 253-273.

Bild entfernt.

Dietrich Thränhardt ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Münster