Der Mythos von Ghettos und was für die Zuwandererstadtteile getan werden muss

von Andreas Kapphan

 

Berlin hat ein wertvolles Potenzial, das durch den seit vielen Jahren gepflegten Ghetto-Diskurs und die Debatte über Parallelgesellschaften überdeckt wird. Wer in den 1980er Jahren über das Zusammenleben von Zuwanderern und Deutschen berichtete tat dies oftmals am Beispiel Berlin-Kreuzberg. Sozialplaner und Reformer nutzten das Beispiel Kreuzberg um zu zeigen, dass das Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen gelingen konnte. Zuwanderer und angestammte Bewohner hatten zusammen Bewohnerinitiativen gegründet. Sanierungspolitik und Erhalt von Altbauhäusern war zusammen mit den Zuwanderern möglich. Gerne wurde auf das exemplarische Vorgehen in Kreuzberg verwiesen, da dort mit der behutsamen und sozial sensiblen Erneuerung nicht nur arme sondern auch ausländische Bewohner in ihren Wohnungen bleiben konnten. Kreuzberg ist heute ein Stadtteil mit hohem Zuwandereranteil und einer Fülle von Vorzeigeprojekten und Initiativen.

Auf der anderen Seite ist Kreuzberg auch Symbol für eine türkische Lebenswelt in Deutschland, für die größte "türkische Stadt" außerhalb des türkischen Staates. Kreuzberg ist in der öffentlichen Wahrnehmung das „türkische Ghetto“. In den 1990er Jahren gipfelte die Negativ-Beschreibung Kreuzbergs in dem Bonmot des ehemaligen Innensenators Schönbohm, dass man sich in Kreuzberg in einigen Teilen nicht mehr in Deutschland fühle. Die Medien berichten gerne von den unkontrollierten Zuständen in Kreuzberg, die sich seit 20 Jahren an den 1.Mai-Krawallen festmachen lassen. Zum Ghetto-Image trugen die Berichterstattung über Bandenkrieg und Jugendgangs, Schutzgelderpressungen und organisierte Kriminalität, Fundamentalisten und Ehrenmorde wesentlich bei.

In den 1990er bekam ein anderer Berliner Bezirk zunehmend mediale Aufmerksamkeit. Neukölln errang den Ruf, Deutschlands größtes Sozialamt zu sein. Und dann war auch vom hohen Zuwandereranteil die Rede. Der Neuköllner Bürgermeister verkündete, in Neukölln ließe sich zweifelsfrei die Existenz von Parallelgesellschaften nachweisen. Überraschend ist, dass es dafür keines wissenschaftlichen Belegs bedurfte. Die Parallelgesellschaft ließ sich einzig auf der Grundlage von hohen Zuwandereranteilen, Armut, schlechten Schulerfolgen, ethnischer Ökonomie und einer gewissen Jugendkriminalität behaupten. Durch die Geschehnisse an der Rütli-Schule und Bucks Film „Knallhart“ wurden die Bilder gefestigt. Alle Versuche, positive Entwicklungen und Projekte in Neukölln öffentlich zu machen, werden vor dem Hintergrund der aussichtlosen Entwicklung interpretiert: „selbst in Neukölln gibt es erfreuliche Initiativen“.

Die Medien basteln immer wieder an den Bildern der Stadtteile. Charlottenburg wurde aufgrund seines 5%-Anteils von Russen gleich als „Charlottograd“ bezeichnet, Marzahn-Nord als Plattenbaughetto wegen des hohen Anteils von Russlanddeutschen, der Beusselkiez in Moabit als Kriminalitätsschwerpunkt, unter anderem natürlich wegen des hohen Zuwandereranteils. Man kann die von außen in den Stadtteil hineingetragenen Bilder dort in Interviews mit Bewohnern wieder erzählt bekommen: Der Beusselkiez habe ein Problem mit der Kriminalität. Überraschend ist, dass sich die Bewohner extrem sicher fühlen in ihrem Stadtteil. Die medialen Bilder über Stadtteile und die dort lebenden Zuwanderer bestimmen maßgeblich die öffentliche Wahrnehmung. In den meisten Fällen bilden sie aber nicht die Wirklichkeit ab sondern verzerren und übertreiben. Es lohnt sich daher, einen unvoreingenommenen wissenschaftlich fundierten Blick auf die Stadtteile zu werfen und den Mythos von Segregation, Ghettos und Parallelgesellschaften zu entzaubern.

Segregation ist Folge der Mechanismen des Wohnungsmarktes
Die Bevölkerung Berlins ist ungleich über die Stadt verteilt. Es gibt dünn besiedelte Stadtteile und es gibt solche, in denen die Menschen enger zusammenleben. Es gibt Stadtteile mit höheren Anteilen von Akademikern und solche mit hohen Anteilen von gering Qualifizierten und Arbeitslosen. Es gibt ältere und jüngere Stadtteile. Und es gibt Stadtteile mit höheren und solche mit niedrigen Anteilen von Zuwanderern. In den Sozialwissenschaften spricht man von Segregation, d.h. der ungleichen Verteilung von Individuen über den Raum. Dabei konzentrieren sich bestimmte Merkmale von Individuen in bestimmten Räumen. Der Konzentration von älteren Damen und Akademikern in Zehlendorf steht die Häufung von jungen Familien in Marzahn und von Hauptschulabgängern in Wedding gegenüber. Die Konzentration von Zuwanderern in bestimmten Gebieten der Stadt ist nur ein weiteres Merkmal, das sich ungleich verteilt.

13,8 % der Berliner haben keinen deutschen Pass, 23,8% sind Personen mit Migrationshintergrund, also Einwohner, die zugewandert sind oder zumindest einen zugewanderten Elternteil haben, unabhängig davon, ob sie Ausländer, Eingebürgerte, Aussiedler oder deren Nachkommen sind. Bis heute hat Kreuzberg den höchsten Zuwandereranteil, gefolgt vom nördlichen Neukölln, Wedding, Tiergarten, Schöneberg-Nord. Gestiegen ist der Anteil von Zuwanderern in den letzten 15 Jahren vor allem in den innerstädtischen Bereichen des Ostteils und in Marzahn, sowie in den Großsiedlungen des Sozialen Wohnungsbaus, zum Beispiel in Spandau. Besonders geringe Anteile von Zuwanderern haben die Villen- und Einfamilienhausgebiete am Stadtrand. Die Wohngebiete von Zuwanderern haben sich immer weiter über die Stadt verteilt. Die Segregation von Zuwanderern hat dabei abgenommen, ein Trend, der auch für andere westeuropäischen Großstädte beobachtet wird, die seit langem Zuwanderung verzeichnen.

Die ungleiche Verteilung von Bevölkerungsgruppen in der Stadt ist Ergebnis der Mechanismen des Wohnungsmarktes. Dabei spielt eine Rolle, wie viel jemand verdient, welchen sozialen Status, welches Alter, wie viele Kinder er hat und wie er aussieht. Denn die Vermieter reagieren unterschiedlich auf Geschäftsanzug und Hautfarbe, auf gewählte Ausdrucksweise, legeres Verhalten, geringe Sprachkenntnisse oder Alkoholfahne. Vermieter bevorzugen bestimmte Mietergruppen und bestimmen damit, wer wo wohnen kann. Wenn Bevorzugung massenhaft und als gesellschaftlich weit verbreitetes Phänomen stattfindet, ist dies ein sicherer Hinweis auf die Diskriminierung der anderen Gruppen.

Segregation entsteht nicht in erster Linie dadurch, dass Zuwanderer zusammen wohnen und sich absondern wollen. Segregation wird in erster Linie bestimmt durch die finanziellen Möglichkeiten der Mieter und Käufer, zweitens durch Bevorzugung und Diskriminierung, und  erst in dritter Linie durch individuelle Präferenzen der Wohnungssuchenden. Dabei haben jene die höchsten Wahlmöglichkeiten, die am meisten Geld haben. Segregation geht also von denen aus, die über finanziellen Möglichkeiten verfügen, sich abzusondern. Die Reichen sondern sich ab, die Armen werden abgesondert. Die besten Möglichkeiten, Segregation abzubauen liegen in der Ermöglichung und Förderung des sozialen Aufstiegs von Zuwanderern und im Kampf gegen Diskriminierung.

Segregation führt nicht zu Ghettos
In den 1980er Jahren besuchte ein amerikanischer Sozialwissenschaftler Berlin, um das "türkische Ghetto" in Kreuzberg zu erforschen. Er fand es nicht: Ghettos sehen in Amerika anders aus. Er fand statt dessen einen ethnisch gemischten Stadtteil vor, mit Armen, Akademikern, Ausländern und Punks, und schrieb einen Aufsatz vom Mythos des türkischen Ghettos in Berlin. Die Berliner Stadtteile sind dadurch geprägt, dass zwar nicht überall die deutschen Bewohner die Mehrheit stellen aber in jedem Fall die größte Gruppe darstellen.

Die Konzentration von Zuwanderern ist Ergebnis niedriger Einkommen und ethnischer Diskriminierung, ist aber weder als Ghetto noch als Parallelgesellschaft zu verstehen. Parallele, also unverbundene Gesellschaften gibt es weder in einzelnen Stadtteilen noch in Berlin insgesamt. Denn überall dominieren die Überschneidungen und Vernetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen und Strukturen. Selbstverständlich gibt es Menschen, die sehr kleine Verkehrskreise haben und die daher vielleicht auch ohne spezifische Sprachkenntnisse klar kommen. Aber im Regelfall wissen sie sehr wohl, in welchem Land sie leben, welche Regeln hier gelten. Die Brücken in die Gesellschaft sind in der Regel nicht abgebrochen sondern zum Teil lediglich nicht intakt.

Das zentrale Thema der Stadtteile mit hohem Zuwandereranteil ist nicht die Abschottung sondern Rückzug und Resignation. Ob Kreuzberg oder Neukölln, ob Wedding, Moabit oder Marzahn-Nord, in allen Stadtteilen stellen Armut und Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, und die Schwierigkeiten der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen mit Armut und Zuwanderern umzugehen die zentralen Probleme dar. In den 1990er Jahren stieg die Arbeitslosigkeit in Berlin stark an, und zwar insbesondere in den Stadtteilen, in die der Wohnungsmarkt die Bevölkerungsgruppen mit den geringsten Chancen lenkte. Nicht das Quartier ist schuld an Arbeitslosigkeit, geringer Lebenserwartung und schlechter Infrastruktur. Die Verantwortung liegt in der Politik, die für diese Quartiere gemacht wird.

In Amerika wird in die Ghettos der Schwarzen kein Geld mehr investiert, weder in die kommerzielle noch in die staatliche Infrastruktur. In Berlin und anderswo hat man damit begonnen, gezielt Investitionen und soziale Maßnahmen in die benachteiligten Gebiete zu lenken. Die Stadtentwicklung hat mit dem Bund-Länder Programm „Soziale Stadt“ Geld für Investitionen und soziale Projekte bereit gestellt. Bedeutende Mittel kommen auch aus dem Ganztagsschulprogramm. Aber weiterhin fehlt es an Geldern und an politischen Entscheidungen, um die Chancen von Zuwanderern und sozial Benachteiligten nachhaltig zu verbessern.

Was getan werden muss
Die Zuwanderer brauchen einen verfestigten Aufenthaltstitel und eine abgesicherte Rechtssituation. Mit der Verweigerung einer Aufenthaltsperspektive für Geduldete hat Deutschland jahrelang eine Integrationsperspektive für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus dem Libanon, dem Irak und anderen Ländern verhindert. Dadurch haben viele Jugendliche keine Möglichkeit, in Deutschland eine Berufsausbildung zu absolvieren. Mit der jüngst ausgehandelten Bleiberechtsregelung besteht zumindest für einen Teil der Geduldeten eine Chance, im Land zu bleiben. Auch die Hürden für die Einbürgerungen müssen gesenkt werden, da diese integrationspolitisch erwünscht ist, aber oftmals wegen niedriger Einkommen, geringer Sprachkenntnisse oder auch geringfügiger Vorstrafen nicht möglich ist. Und schließlich brauchen alle Zuwanderer einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt.

Die Zuwandererstadtteile brauchen bessere Schulen, um den Schülerinnen und Schülern aus den bildungsfernen Schichten die gleichen Chancen zu geben. Die Vermittlung von schulischer Bildung ist auch dort möglich, wo die Mehrzahl der Kinder aus Zuwandererfamilien kommt. Nur müssen dann die Rahmenbedingungen stimmen und die Institutionen auf die Situation eingestellt sein. Dafür braucht man eine gute Kooperation mit den Kitas, eine gute Ausstattung mit Unterrichtsmaterialien, mehr Lehrer, Sozialpädagogen und Betreuer in den Klassen, die interkulturell geschult sind und auch die Familiensprachen der Schüler sprechen. Auch Lehrer brauchen professionelle Unterstützung, denn viele wissen nicht, wie sie mit den Schülern und Eltern umgehen sollen und wie sie diese bei Problemen ansprechen können.

Die Stadtteile benötigen mehr soziale Projekte, die Menschen ermuntern und befähigen, Verantwortung in ihrem Stadtteil zu übernehmen. Erfolgreiche Projekte müssen verstetigt und hierfür Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Stadtentwicklungspolitik und Integrationspolitik müssen miteinander verzahnt werden. Erkenntnisse der Quartiersentwicklung, die zum Beispiel im Bund-Länder-Programm Soziale Stadt gemacht werden, müssen in gesamtstädtische Strategien eingebunden werden. Auf der anderen Seite müssen übergeordnete Integrationsziele auch in den Stadtteilen umgesetzt werden.

Unsere Gesellschaft ändert sich nachhaltig. Der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund steigt. In den Verwaltungen und den Regeldiensten, in den städtischen Einrichtungen, Schulen, Kitas, der Jugend-, Familien- und Seniorenarbeit müssen Zuwanderer präsent sein und die Mitarbeiter interkulturell geschult werden. Die interkulturelle Öffnung und die Schulung von Mitarbeitern in interkultureller Kompetenz ist bisher nicht selbstverständlich. So gibt es zum Beispiel in der Jugendarbeit wenig Wissen über religiöse und kulturelle Hintergründe, die das Verhalten von Jugendlichen prägen. Dies schränkt die Möglichkeiten der Jugendarbeit und die Integrationsfähigkeit der Angebote erheblich ein und führt zu dem oftmals beobachteten Scheitern von Maßnahmen.

Deutschland und Berlin benötigt einen Paradigmenwechsel. Bereits heute kommt jeder vierte Jugendliche aus einer Zuwandererfamilie. In vielen Stadtteilen stellen sie die Mehrheit. Zum Problem wird dies erst, wenn diese Jugendliche nicht als Teil unserer Gesellschaft betrachtet werden. Zuwanderung ist kein Fremdkörper in unserer Gesellschaft sondern eine Bereicherung. Kulturelle Vielfalt schafft Neues durch die Vermischung unterschiedlicher kultureller Einflüsse. Kulturelle Vielfalt und die Vermischung von unterschiedlichen Kulturen brauchen identifizierbare Orte, die der Selbstvergewisserung der Kultur dienen können. Das ist der Hintergrund einer Lokalpolitik, die eine Aneignung des Raumes durch Zuwanderer fördert. Hierdurch kann sich im Stadtteil eine neue Identität und wechselseitige Anerkennung entwickeln.

Berlin verändert sich. Morgen schon wird die Stadt anders aussehen. Die Wirtschaftskraft der Stadt hängt entscheidend davon ab, wie die Politik mit den Zuwanderern umgeht und ob sie ihre Potentiale nutzt. Die Integration ist nicht gescheitert, wir stehen nur noch ganz am Anfang. Damit Integration gelingt müssen wir eine Vision haben, wo wir mit unserer Gesellschaft hin wollen. Berlin hat ein wundervolles Mosaik unterschiedlicher Kulturen und Szenen. Die Vielfalt der Stadt und ihre permanente Veränderung macht sie so lebenswert und so anziehend für Besucher aus der ganzen Welt. Und die kulturelle Vielfalt kann unserer Wirtschaft von Nutzen sein, denn die internationale Verflechtung im Handel und in den Dienstleistungen erfordert tragfähige internationale Beziehungen und ein fundiertes Verständnis für die Kulturen und Denkweisen der Partnerländer. Das Potential hierfür hat die Stadt und die in ihr lebenden Zuwanderer.

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Dr. Andreas Kapphan ist Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Stadtentwicklung und Migration. Er arbeitet als Referent bei der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration.