Als Sofia Ztaliou in die fünfte Klasse ging, zog sie sich heimlich die Stöckelschuhe ihrer Mutter an und spielte Lehrerin für ihren jüngeren Bruder. Bald wird Sofia selbst Mutter. Die 31-jährige Frau ist im neunten Monat schwanger. Wenn sie jetzt morgens aufwacht, vermisst sie die Arbeit und ihre SchülerInnen der Raitelsberger Hauptschule, an der sie unterrichtet. Beinahe alle ihrer Stuttgarter SchülerInnen haben keine deutsche Herkunft. Sie selbst hat griechische Wurzeln. Die Lehrerin ist eine der Ersten, die sich für das Projekt „Migranten machen Schule“ engagiert. „Vielfalt im Klassenzimmer – Vielfalt im Lehrerzimmer“ ist das Motto des in Stuttgart 2008 gestarteten Projekts. Es soll SchülerInneninnen und SchülerInnen mit Migrationshintergrund für den Lehrerberuf interessieren und unterstützen. Migrationserfahrung soll als wertvolle Ressource wahrgenommen werden.
Sofia Ztaliou. (Foto: Gabriel Hensche)
Lieblingslehrerin Frau Ztaliou
Sofia selbst bringt ihre Migrationserfahrung in ihre Arbeit als Lehrerin ein. Immer wenn es Halbjahreszeugnisse gibt, legt die Klassenlehrerin eine besondere Folie auf den Tageslichtprojektor: Ihr Hauptschulzeugnis von einst. „Das spornt die SchülerInnen an“. In den Augen der SchülerInnen ist sie eine, die es geschafft hat. Von der Hauptschule weiter auf die Werkrealschule. Von dort auf das Wirtschaftsgymnasium, dann auf die pädagogische Hochschule. Sofia hat ein besonderes Verhältnis zu ihren SchülerInnenn. Begeisterung klingt in ihrer Stimme, wenn sie von ihrem Unterricht erzählt. „Offenheit ist das wichtigste.“
In der Klasse ist es kein Geheimnis, dass Sofia in ihrer Freizeit am liebsten das Stadion besucht, wenn der VFB Stuttgart spielt. Sofia macht keinen Hehl daraus, wenn sie einmal schlechte Laune hat. Dann erklärt sie eben die Gründe dafür. Die SchülerInnen sind dankbar für das Vertrauen der Frau, die jedem von ihnen zum Abschied persönlich die Hand reicht. So kann es schon mal vorkommen, dass ihre SchülerInnen mit einem Geburtstagskuchen in der Hand an der Wohnungstür des neuen Mehrfamilienhauses im kleinen Stuttgarter Vorort klingeln. Als sie ihre neunte Klasse, die sie vier Jahre über begleitet hat, vor den Sommerferien ins „Leben“ entlassen musste, wollten einige SchülerInnen gar nicht gehen. „Natürlich hatten sie teilweise auch Angst, weil sie nicht wussten, was auf sie zukommt. „Aber auch ich litt unter dem Abschied“, erinnert sich die Klassenlehrerin.
Sofia sucht den Kontakt zu den Eltern der SchülerInnen. „Die Eltern müssen sich auch kümmern“, weiß sie aus eigener Erfahrung. Sie hat es geschafft, dass beinahe alle Eltern wieder zu den Elternabenden kommen. Sie akzeptiert es nicht, wenn Eltern nicht erscheinen oder nur die großen Geschwister vorschicken, weil diese besser Deutsch können. Sofia geht offen und direkt auf die Eltern zu: Als bei einem Elternabend nur drei Eltern der zwanzig SchülerInnen anwesend waren, reagierte Sofia mit einem Elternbrief. Sein unmissverständlicher Tenor: „Es sind Ihre Kinder. Sie müssen sich um ihre Kinder kümmern!“
Beim nächsten Elternabend kamen die Eltern der übrigen siebzehn SchülerInnen. So gelingt es ihr, Kontakt zu ihnen aufzubauen. „Einmal war eine türkische Mutter bei mir, die aus ihrem Alltag erzählt hat: ‚Ja, und ich muss mich um meine Schwester kümmern, um meinen Bruder kümmern...‘ und dann vergisst sie schon mal das ‚Sie‘: ‚aber du weißt das ja, bei euch ist das ja genau so‘. Solche Sätze kommen immer wieder, und ich merke, dass es den Eltern einfach gut tut, dieses Gefühl: Sie hat Verständnis, weil sie auch aus einer anderen Kultur kommt. Wenn Eltern zum Gespräch kommen, habe ich den Eindruck, sie genieren sich nicht, wenn sie einen Fehler machen oder etwas nicht richtig aussprechen, manchmal fragen sie auch: ‚Und wie ist das bei Ihren Eltern, sprechen die gut Deutsch?‘ Ich bin da ganz offen und erzähle von meiner Familie. Ich berichte, dass ich auf der Grundschule keine so guten Noten hatte, dann auf die Hauptschule gegangen bin, dass ich mich auch später entwickelt habe. So versuche ich, ihnen Mut zu machen.“
Wieso Migrantin?
Wie wichtig die Unterstützung der Eltern für die SchülerInnen ist, hat Sofia selbst erlebt. Nicht nur, dass ihre Eltern 1992 mit ihr zur Meisterschaftsfeier des VFB fuhren, sie unterstützten sie auch an der griechischen Schule, die sie neben der Grundschule besuchte. Trotz der guten Noten, die Sofia dort bekam, reichte es im deutschen Schulsystem nur für die Hauptschule. Da die Eltern bei den Deutsch-Hausaufgaben nicht helfen konnten, bekam Sofia Nachhilfeunterricht. In der siebten Klasse bekam sie einen Klassenlehrer, der sie motivierte und ihre guten Leistungen lobte. Ihre Noten wurden besser und später begann sie sogar für die Lokalzeitung zu schreiben.
Sofia hat gute Erinnerungen an ihre Schulzeit. Gerade deshalb wollte sie an die Hauptschule. Nicht weil sie einen Migrationshintergrund hat, sondern, weil sie selbst Hauptschülerin war. Während ihrer Schulzeit und im Studium fühlte sie sich nie als Migrantin. Erst während ihres Referendariats wurde sie sich ihrer nichtdeutschen Herkunft bewusst, als ein Kollege fragte: „Wie, sie sind keine Deutsche?“ Auch wenn sie an ihrer jetzigen Schule die einzige Lehrerin ohne deutsche Abstammung ist, hat sie nicht das Gefühl, dass ihr Migrationshintergrund für ihre Kollegen eine Rolle spielt. Sie, die Griechenland nur aus Urlauben und den Besuchen der Großeltern kennt, fühlt sich nur als „Migrantin“, wenn man sie darauf anspricht.
In Albstadt, wo sie aufgewachsen ist, im Süden Baden-Württembergs, war sie eine der wenigen „Ausländer“, wie man damals noch sagte. Sie musste sich integrieren. Heute sei dies für viele schwieriger, da viele MigrantInnen unter sich blieben. In den Parallelgesellschaften brauche man kein Deutsch, um hier in Deutschland zu leben. Die Sprache sei aber das wichtigste für die Integration. Und natürlich müsse auch jeder Lehrer gut Deutsch sprechen können, betont die Deutschlehrerin. Es gäbe zwar viele Angebote, um Deutsch zu lernen, doch werden Kurse wie „Mama lernt Deutsch“ viel zu wenig besucht. Umso wichtiger sei es, den Eltern klar zu machen, wie wichtig Ihre Unterstützung für ihre Söhne und Töchter sei. Wie man das mache? „Herzlich aber direkt“.
Dezember 2009