
Parallelen und Tangenten Was ist eigentlich parallel an der sogenannten Parallelgesellschaft? Die erste Bekanntschaft mit Parallelen machen die meisten von uns im Geometrie-Unterricht in der Schule. Dort lernen wir, dass zwei Geraden parallel sind, wenn sie nebeneinander liegen und sich nie oder allenfalls „in der Unendlichkeit“ überschneiden. Die Metapher ist stark, auch ohne den transzendenten Ausblick. Sie suggeriert ein hermetisch abgeschlossenes Soziotop, das zwar innerhalb der territorialen, aber außerhalb der sozialen und kulturellen Ordnung eines Gemeinwesens existiert, ohne mit ihm in Beziehung zu treten. Sozialwissenschaftliche Versuche, aus der blumigen Metapher ein tragfähiges Analysekonzept zu machen, definieren Parallelgesellschaften im Wesentlichen über drei Kriterien: Homogenität im Inneren, (Selbst-)Segregation nach außen und die „nahezu komplette Verdopplung der mehrheitsgesellschaftlichen Institutionen“ (Halm/Sauer 2006: 18). Das aufklärerische Verdienst solcher Ansätze besteht darin, die Auseinandersetzung über Segregation und Integration zu versachlichen und Alltagserfahrungen von Fremdheit empirisch zu relativieren. Zugleich allerdings, und hier liegt die Crux, adeln sie ein Ressentiment mit akademischer Würde und drohen auf diese Weise zum Teil des Gefährdungsdiskurses zu werden.
Die hier versammelten Beiträge verstehen sich als eine Art Zwischenbilanz der gemeinsamen Arbeit und stellen unterschiedliche Variationen des oben beschriebenen Leitmotivs einer „Tangentengesellschaft“ dar. Im Folgenden werde ich in aller Kürze die gemeinsamen wissenschaftlichen Anknüpfungspunkte für unser Unterfangen darstellen. Dazu gehören zunächst die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung und kultursoziologische Debatten über eine „relationale“ Soziologie (Abschnitt 2), ferner religionswissenschaftliche Überlegungen zu einer Netzwerkperspektive auf religiöse Dynamik (Abschnitt 3) und schließlich kultur- und sozialanthropologische Beiträge zur religiösen Diaspora (Abschnitt 4). Im Anschluss an diese theoretische Tour d’Horizon ordne ich die einzelnen Beiträge in diesen Diskussionsrahmen ein (Abschnitt 5).
Im Jahr 1997 veröffentlichte der amerikanische Soziologe Mustafa Emirbayer im American Journal for Sociology sein „Manifesto for a Relational Sociology“, in dem er nicht weniger als einen Paradigmenwechsel des sozialwissenschaftlichen Denkens anmahnt (Emirbayer 1997). Gleich zu Beginn bestimmt er den Gegensatz von substantialistischen und relationalistischen Zugängen als Grundsatz- und Gretchenfrage der modernen Soziologie: „Sociologists today are faced with a fundamental dilemma: whether to conceive of the social world as consisting primarily in substances or in processes, in static ‚things‘ or in dynamic, unfolding relations.“ (Ebd.: 281) Für Emirbayer löst die Spannung zwischen der statisch-dinghaften und der dynamisch-relationalen Perspektive ältere soziologische Leit-Dualismen ab, etwa Individuum und Gesellschaft, Struktur und Handeln oder Materialismus und Idealismus (vgl. ebd.: 282). Sein Anliegen ist es, die Grundgedanken und den ideengeschichtlichen Vorlauf der Relationalen Soziologie zu rekonstruieren und soziologische Kernkonzepte wie Macht, Freiheit und soziales Handeln entsprechend zu reformulieren. Im Mittelpunkt steht dabei nicht etwa die Verbindung substantialistischer und relationalistischer Ansätze, sondern ganz dezidiert eine „reine Lehre“ des Relationalismus. Es ist Emirbayers erklärtes Ziel „to prevent the sort of eclecticism, the easy mixing together of substantialist and relational assumptions, that renders even many innovative studies today partially problematic“ (ebd.). Im Unterschied zu den angesprochenen Debatten über Relationale Soziologie und ihre Alleinstellungsmerkmale geht es mir an dieser Stelle nicht darum, eine substantialistische Betrachtung von Religion und Migration an sich zu problematisieren. Ich möchte vielmehr auf die Leerstellen hinweisen, die sich aus einem allzu einseitigen Blick auf religiöse Migrantengemeinden ergeben können. Daher möchte ich ausgehend von Emirbayer und White für die prinzipielle Angemessenheit einer relationalistischen Perspektive bei der Analyse von Migrationsprozessen votieren: Migration fordert bestehende Identitäten, Organisationen und gesellschaftliche Strukturen der Wandernden und der „Bewanderten“ gleichermaßen heraus und setzt einen Prozess der Neuverhandlung in Gang. Mir geht es weniger darum, wie hegemonial dieser Prozess (im Sinne einer „Leitkultur“) gestaltet ist oder sein darf. Vielmehr beschränke ich mich auf das Argument, dass der grundlegende Charakter der Migrationssituation ein relationaler ist – und eine relationalistische Perspektive daher viel versprechend und sachgemäß erscheint. Allgemein gesprochen, betrachtet eine solche Perspektive in erster Linie die Beziehungen, Verbindungen und Kontakte, die sich im Prozess des Auswanderns, Ankommens und Sich-Einrichtens wandeln und neu ergeben.
In seinem Beitrag „Studying Religion in Motion“ trägt der amerikanische Religionssoziologe Manuel Vásquez (2008) die angesprochenen Anliegen der Relationalen Soziologie ganz nah an den Gegenstandsbereich von Religion und Migration heran. Vásquez votiert für eine dynamische Perspektive auf Kultur und Religion, spricht sich aber anders als Emirbayer für eine Verbindung zwischen relationalistischen und substantialistischen Ansätzen aus: „Widespread flows of people, capital, goods, and ideas make it increasingly untenable to map the world according to the tidy logic of one nation, one culture, one language, one religion, one history, and one selfcontained social formation. These flows, however, have not produced a totally deterritorialized world.“ (Ebd.: 152) In diesem Sinne ist das relationale Element bei Vásquez die Spannung zwischen der Dynamik religiöser Symbolsysteme und ihrer Bindung an geografische, kulturelle oder politische Räume. Diese Spannung findet ihren Widerhall in der allgemeineren Frage, wie sich Religion in einem globalen Kontext überhaupt definieren lässt. Hier hebt Vásquez zum einen die „itinerancy“ und zum anderen die Materialität von Religion hervor. Der Ausdruck „itinerancy“ ist ebenso bildhaft wie schwer zu übersetzen. Gemeint ist die Neigung religiöser Ideen, Symbole, Praktiken und Objekte zum Umherwandern. Diese Wanderung vollzieht sich nicht körperlos und abstrakt, sondern ist ihrerseits beziehungsgesättigt: Sie beruht auf konkreten Trägergruppen, seien es Händler, Missionare oder Arbeitsmigranten, die den Raum durchmessen und Grenzen überschreiten (vgl. ebd.: 153). Zu den materiellen Aspekten von Religion gehören für Vásquez „embodied practices, emplaced institutions, and the sacralized artifacts that sustain complex relations with global commodity and financial flows“ (ebd.: 156). Träger religiöser Weltbilder – und Vehikel religiöser Dynamik – sind in diesem Verständnis nicht nur Akteure oder Gruppen, sondern auch Gegenstände und Institutionen. Vásquez Antwort, und darin liegt die relationale Relevanz seiner Überlegungen, ist die Verbindung von Raum- und Flussmetaphern in einem Netzwerkkonzept: „Perhaps what we need then is the strategic combined use of the spatial, hydraulic, and connective metaphors, privileging each cluster of tropes to highlight certain saliences in the ‚data‘ at hand.“ (Ebd.: 178) Netzwerke sind hier definiert als „relatively stable but always contested differentials of power“ (ebd.: 169). Genauer handelt es sich um „socio-politically, culturally, and ecologically embedded relational processes that constrain and enable practices as diverse as place-making and identity-construction“ (ebd.). In der Theoriesprache der Relationalen Soziologie ausgedrückt, sind Netzwerke verdichtete und abgrenzbare Prozesse, die sich durch Kohärenz und kausale Autorität auszeichnen (vgl. Emirbayer 1997: 304). Ihre Kohärenz beruht auf habitualisierter Interaktion und Vertrauensbeziehungen. Ihre kausale Autorität beruht auf der Handlungssicherheit bzw. der normativen Ordnung, die religiöse Netzwerke als strukturierende Struktur stiften. Zugleich ist das Netzwerk eine strukturierte Struktur, insoweit es in gesellschaftliche, politische und kulturelle Umwelten eingebettet ist, die seine Gestalt und seine kollektive Identität entscheidend mitbestimmen können. Es ist genau diese Verbindung aus einem Augenmerk auf die institutionellen Opportunitäten und Restriktionen und einem weiten, diskursiven Religionsbegriff, die für Vásquez Verständnis von Religion in Bewegung charakteristisch ist: dem ätherischen Fluidum religiöser Weltbilder und Ideen steht die strukturierende Kraft des Raums gegenüber. Eine besondere Rolle spielen hier grenzüberschreitende religiöse Transaktionen, wobei Vásquez eine starke Unterscheidung zwischen Transnationalismus und Diaspora als idealtypischen „Modalitäten“ mobiler Religion vorschlägt (Vasquez 2008: 159). Dabei grenzt er sich von früheren Versuchen ab, die Diaspora idealistisch als einen mentalen Zustand und Transnationalismus materialistisch als gelebte Austauschbeziehungen verstehen (ebd.: 163). Stattdessen verweist Vásquez auf die „präsentische“ Gestalt transnationaler Religion im Unterschied zur ätiologischen Natur der Diaspora: „Transnationalism entails a strategic presentism, a multiple embeddeness in the now, as the transmigrant seeks to creatively adjust to the rapidly changing demands of flexible production in contemporary capitalism. Diaspora, in contrast, retrieves or invents a common origin and tradition and commemorates idealized geographic spaces as a way to dwell in an inhospitable present and perhaps bring about a return to the future.” ( Ebd.: 162f., Hervorhebung A.-K.N.)
Der Begriff „Diaspora“ hat seinen Weg von der religiösen Ideengeschichte in akademische Debatten gefunden, ohne dass dieser Transfer vom religiösen zum wissenschaftlichen Gebrauch besonders gründlich thematisiert worden wäre (vgl. aber Cohen 2008: 21ff.). Als religionswissenschaftliches Konzept „bezeichnet Diaspora allgemein eine unter einer Mehrheit Andersgläubiger wohnende religiöse Minderheit“ (von Stuckrad 2006: 111), in sozialwissenschaftlicher Verwendung häufig auch andere kulturelle oder ethnische Minderheiten. An dieser Stelle kann es weder um eine umfassende Begriffsbestimmung gehen noch um eine erschöpfende Zusammenschau des Forschungsstandes. Ersteres ist verschiedentlich unternommen worden (vgl. Mayer 2005; Cohen 2008), letzteres aufgrund der Vielzahl und Verschiedenartigkeit von Diaspora-Studien inzwischen schlicht unmöglich. Ich möchte mich im Folgenden darauf beschränken aufzuzeigen, wie ein religiöses Deutungsmuster von Diaspora als Leidensgeschichte in der akademische Debatte wirksam wird, welche blinden Flecken sich daraus ergeben mögen und wo die Potenziale einer relationalen Lesart von Diaspora liegen könnten. Ein wesentliches Merkmal des klassischen Diaspora-Verständnisses ist die Verstreuung einer religiösen oder ethnischen Gruppe an mehrere Orte (s.o.). Während sich die substantialistische Lesart auf eine Topografie der Verstreuung und der jeweils lokalen Strukturen richtet, konzentriert sich der relationale Gebrauch auf die Verbindungen zwischen den einzelnen Standorten und ihre Beziehungen zum Herkunftsland. Beispiele dafür sind etwa religiös motivierte oder adressierte Transfers von Geld und Gütern (Remittances), aber auch Pilgerfahrten oder Reisen zu Übergangsritualen (Initiation, Hochzeit, Beerdigung). Umgekehrt können sich Missionare oder religiöse Experten vom Herkunfts- in das Aufnahmeland aufmachen. Diese Personenmobilität kann institutionalisiert und durch zwischenstaatliche Verträge abgesichert sein, wie im Fall von DiTiB, oder sich im Rahmen von Touristenvisa bewegen. So ist es durchaus möglich, dass unabhängige Moscheevereine in Deutschland im Dreimonatsrhythmus ihre Imame wechseln. Die Folge ist eine ausgeprägte Arbeitsteilung zwischen geistlichen Funktionären mit einer theologischen und seelsorgerischen Funktion und weltlichen Geschäftsführern, die sich um die organisatorischen Belange kümmern.
Nach dieser Tour d’Horizon von den großen Fragen der Relationalen Soziologie über spezifischere Überlegungen zu einer Netzwerkperspektive auf Religion und Migration bis hin zu den konkreten Herausforderungen eines relationalen Verständnisses von Diaspora sollte deutlich geworden sein, dass die Beiträge in diesem Band nicht einfach ein vorgegebenes Forschungsprogramm ausführen können, sondern eigenständige Versuche in einem Such- (und Finde-)Prozess darstellen. Den Rahmen dafür steckt die eingangs erwähnte Ausrichtung der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ ab, namentlich der Fokus auf die Mesoebene religiöser Gemeinschaften, der Fallstudiencharakter und die Eröffnung einer religionsvergleichenden Betrachtungsweise sowie eine Netzwerkperspektive, die auf die „Wechselwirkung“ zwischen sozialen Beziehungen und religiösen Bezugnahmen abhebt (Simmel 1908a: 5). Innerhalb dieses Rahmens umfassen die hier versammelten Beiträge eine große Bandbreite von Phänomenen und Entwicklungen, die für das Themenfeld von Religion und Migration in Deutschland relevant sind: Mit islamischen, freikirchlichen und hinduistischen Traditionen sind die zahlenmäßig bedeutsamsten „Migrationsreligionen“ angesprochen. Darüber hinaus werden unterschiedliche Herkunftsländer berücksichtigt, um der kulturellen Formung von Religion Rechnung zu tragen.
Dieser Text ist zuerst erschienen beim transcript Verlag in: Alexander-Kenneth Nagel. Diesseits der Parallelgesellschaft : neuere Studien zu religiösen Migrantengemeinden in Deutschland, (2013), p. 11-35.
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Dr. Alexander-Kenneth Nagel ist Juniorprofessor für Sozialwissenschaftliche Religionsforschung am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum und Leiter der NRW-Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt".