Die EU-Broschüre "Chancengleichheit verwirklichen. Welche Rolle soll positiven Maßnahmen zukommen?"

von Andreas Merx

Die neue Broschüre der Europäischen Kommission zeigt anschaulich, wie positive Maßnahmen in der Praxis umgesetzt werden können, ohne gegen Antidiskriminierungsrecht zu verstoßen. Sie ist zur vertiefenden Auseinandersetzung mit der Rolle von positiven Maßnahmen gut geeignet und soll hier kurz vorgestellt werden.

Im ersten Teil leistet Mark Bell eine Einführung in das Konzept der positiven Maßnahmen, klärt zentrale Begriffe, unterscheidet zwischen "harten" und "weichen" Maßnahmen und weist insbesondere auf den Unterschied zu illegitimen "positiven Diskriminierungen" hin. In einem weiteren Beitrag bietet Marc de Vos einen Abriss über die europäische Rechtsentwicklung im Bereich der positiven Maßnahmen und ordnet die aktuellen Bestimmungen der EU-Richtlinien vor dem Hintergrund der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs ein.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit positiven Maßnahmen im Bereich der Beschäftigung. Anhand einiger ausgewählter praktischer Beispiele wird auf die Wichtigkeit der positiven Maßnahmen als Instrument hingewiesen, das tatsächliche Änderungen bewirken und sowohl kurz- als auch mittelfristig einen Beitrag zum Abbau struktureller Ungleichgewichte leisten kann.

In Belgien zum Beispiel wendet das Belgische Föderalamt für die Personalauswahl (Selor) einen klar strukturierten Ansatz zur Anwendung positiver Maßnahmen zur Steigerung der Vielfalt der Arbeitskräfte des öffentlichen Sektors an. Vincent Van Malderen, Leiter des Diversitätsprojekts bei Selor, stellt in seinem Artikel heraus, welche Rolle Aufklärungskampagnen, Datenbanken und andere Instrumente bei Anwerbungs- und Auswahlverfahren spielen können.

György Makula von der ungarischen Polizei skizziert die Arbeit eines internationalen Verbandes zur Förderung der besseren Repräsentation von Roma bei den Strafverfolgungsbehörden, einer besseren Zusammenarbeit und von mehr Verständnis zwischen der Polizei und Roma-Gemeinden. Positive Maßnahmen zielen nicht nur auf eine stärkere Anwerbung von Roma ab, sondern auch auf die Unterstützung bereits eingestellter Beamter mit Roma-Herkunft.

Paul Lappalainen ist leitender Rechtsexperte bei der schwedischen Integrationsbehörde und Autor eines Berichts über strukturelle Diskriminierung in Schweden. Er streicht heraus, wie bestimmte Klauseln in Verträgen im öffentlichen Auftragswesen sich positiv auf Anwerbungs- und Einstellungsverfahren privater Unternehmen auswirken können. Die finanziellen Auswirkungen eines Vertragsbruchs, so seine Argumentation, stellten einen starken Anreiz für die Unternehmen dar, integrativ und nicht ausgrenzend zu denken und ihre eigenen positiven Maßnahmen zu entwickeln.

Der dritte Teil der Broschüre befasst sich mit positiven Maßnahmen außerhalb von Beschäftigung und Beruf und nimmt die Bereiche Bildung, Gesundheitswesen und Politik in den Blickwinkel.Nach Auffassung von Professorin Kathleen Lynch, Inhaberin des Lehrstuhls für Gleichstellungswissenschaft am University College Dublin, können positive Maßnahmen in der Bildung kurz- und mittelfristig willkommene Auswirkungen haben. So können sie zuvor benachteiligten Bevölkerungsgruppen den Zugang zu Hochschulen ermöglichen. Frau Lynch betont jedoch, dass diese Zugangsmöglichkeit unterstützender Begleitmaßnahmen bedürfe, und dass eine Zugangsberechtigung noch keine Arbeitsplatzgarantie für benachteiligte Bevölkerungsgruppen bedeute. Sie fordert eine „Bedingungsgleichheit“, bei der den breiter angelegten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einflussfaktoren Rechnung getragen wird.

Trish Pashley vom Gleichberechtigungs- und Diversitätsprogramm beim britischen Gesundheitsausschuss gibt einen Überblick über dessen Vorgehensweise in Sachen Gleichbehandlung. Für den Ausschuss ist es in seiner Rolle als Sachverständigen- und Regulierungsorgan von größter Wichtigkeit, dass er bei seinen internen Richtlinien eine Vorbildfunktion übernimmt. In seiner Rolle als Arbeitgeber hat sich der Ausschuss vorgenommen, ein besseres Abbild der Gesellschaft zu sein. Der Gesundheitsausschuss hat seine Maßnahmen gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse um ein Gleichstellungsprogramm für Behinderte erweitert. Sowohl an der Ausarbeitung des Programms wie auch an seiner Ausführung sind Behinderte beteiligt. Das Programm ist Bestandteil des weiterreichenden Vorhabens des Ausschusses, seine internen Abläufe unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten zu überprüfen. Dabei arbeitet er eng mit Partnerorganisationen und Partnerbehörden zusammen, die sich mit Gleichstellungsfragen beschäftigen.

PolitikerInnen sind unsere gewählten VertreterInnen und treffen in unserem Auftrag wichtige Entscheidungen. Es ist unerlässlich, dass diese Gruppe ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, für die sie tätig wird. Raül Romeva, Stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter des Europaparlaments, weist auf die niedrige Frauenquote in Entscheidungspositionen hin und spricht sich dafür aus, dass positive Maßnahmen auch bei der Lösung allgemeiner Probleme der Gleichberechtigung von Mann und Frau eine Rolle spielen sollten.

Im  vierten teil erfolgt ein Ausblick auf die Weiterentwicklung von positiven Maßnahmen in der zukünftigen Antidiskriminierungspraxis.

Robin Allen umschreibt hier fünf unverzichtbare Bausteine für wirkungsvolle positive Maßnahmen. Dabei handelt es sich um:

  • einen angemessenen analytischen Rahmen, innerhalb dessen sich Probleme der materiellen Gleichstellung erkennen lassen;
  • die Bereitstellung hinreichender Daten oder sonstiger Angaben, die für eine Analyse innerhalb dieses Rahmens geeignet sind;
  • den erforderlichen politischen Willen zum Voranbringen eines Programms zugunsten der materiellen Gleichstellung;
  • eine öffentliche Aufklärungskampagne über Zweck und Notwendigkeit der Maßnahme;
  • gesetzliche und ordnungsrechtliche Rahmenbedingungen, die der Notwendigkeit einer Fördermaßnahme dieser Art gerecht werden, und die Gewährleistung, dass die Grenzen für das Ergreifen einer solchen Maßnahme anerkannt werden und ihnen ohne ungebührliche Einschränkung Geltung verschafft wird.

Für Patrick Simon sind Statistiken ein wichtiges, wenn nicht unentbehrliches Hilfsmittel zur Feststellung und zum Nachweis des Vorhandenseins von strukturellen Diskriminierungen. Diese sind nützliches Beweismaterial vor Gericht und Grundlage für die Durchführung von positiven Maßnahmen. Gleichzeitig müssen sich die positiven Maßnahmen hinsichtlich ihrer Berechtigung und Wirksamkeit anhand statistischer Daten überprüfen lassen.

Abschließend stellt Mark Bell die Überlegung an, ob gesetzliche Verpflichtungen zur Förderung der Gleichstellung eine zukünftige Perspektive für positive Maßnahmen sein könnten. Solche Verpflichtungen wurden in einigen Ländern wie Großbritannien und Finnland mit großem Erfolg eingeführt und sind ein eindeutiges politisches Signal, dass eine echte Gleichstellung angestrebt wird. Gleichzeitig verweist Bell darauf, dass diese Selbstverpflichtungen kein Patentrezept sind. Der Abbau lang gewachsener und tief verwurzelter struktureller Diskriminierungen hat in den europäischen Gesellschaften noch einen langen Weg vor sich.

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Andreas Merx ist Politologe und Diversity-Experte.

 

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