Das unsichtbare Bild - illegalisierte Migration im Film

Michael Winterbottom
Teaser Bild Untertitel
Plakat mit Michael Winterbottom, Regisseur des Films "In this world"

 

von Olaf Berg

Der in Deutschland wohl bekannteste Film über illegalisierte Migration nach Europa ist Michael Winterbottoms „In this world“, der 2003 den Goldenen Bären auf den Berliner Filmfestspielen erhielt und im Laufe des selben Jahres in die deutschen Kinos kam (Arsenal Filmverleih ). Anhand dieses durchaus gut gemeinten Films soll im Folgenden gezeigt werden, wie mit der Visualisierung einer Flucht nach Europa ein wirkmächtiges Bild über Migration konstruiert wird, das eine scheinbare Realität hervorbringt, die jedoch zentrale Aspekte der Migration nicht in den Blick nimmt: Die Situation von MigrantInnen ohne gültige Papiere und die repressive Politik der EU gegenüber MigrantInnen werden im Film unsichtbar.

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Quelle: www.in-this-world.de

 

 

Szene aus dem Film von Michael Winterbottom "In this world" aus 2003
 

Dem soll im zweiten Teil der Film „Kurz davor ist es passiert“ von Anja Salomonowitz gegenübergestellt werden, der 2007 auf der Berlinale den Caligari Filmpreis gewann und ebenfalls im Kino angelaufen ist (Filmgalerie 451). Dieser Film lenkt den Blick auf die Unsichtbarkeit der migrantischen Geschichten und verweist die Zuschauenden auf den Zusammenhang zwischen der Struktur der Gesellschaft und der Struktur der Migration.

„Kurz davor ist es passiert“, 2007 
Film von Anja Salomonowitz

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„In this world“: Einfühlen und dabei sein

Erklärtes Anliegen von Winterbottom ist es, die Trennung in politische und wirtschaftliche Flüchtlinge nicht mitzumachen und für mehr Mitgefühl und Akzeptanz gegenüber den MigrantInnen in Europa zu werben. In der Tat stellt der Regisseur an den Anfang des Films die selbstbewusste Entscheidung der beiden Protagonisten zur Migration. Enayatullah arbeitet als Markthändler im pakistanischen Peshawar nahe der afghanischen Grenze und wird von seiner Familie nach London geschickt, um dort Geld zu verdienen. Jamal lebt in einem Lager für afghanische Flüchtlinge und überzeugt seinen Onkel Enayatullah davon, ihn wegen seiner Englischkenntnisse mitzunehmen. Die beiden Afghanen sind also nicht nur Opfer des von Staaten der EU mitgeführten Afghanistankrieges und ihrer globalen Wirtschaftspolitik, sondern auch Akteure, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, auf der Suche nach einem besseren Leben.

Auf dem Landweg über den Iran durch Kurdistan in die Türkei und weiter mit dem Schiff nach Italien führt der Weg in die EU. Ohne Visa sind die beiden Helden des Films auf die Transportdienstleistung von auf illegale Grenzübertritte spezialisierten Anbietern angewiesen.  Der Willkür der Fluchthelfer aus diesem Netzwerk sind die Reisenden ebenso ausgeliefert, wie den Polizisten und Grenzbeamten auf die sie treffen. Durch notwendige Schmiergeldzahlungen und extra Forderungen für einen zweiten Grenzübertritt oder eine Übernachtung sind die beiden schnell ihrer letzten Reserven beraubt. In der Türkei müssen sie die Kosten der Überfahrt als blinde Passagiere in einem Container nach Italien in einem kleinen Betrieb erarbeiten.

In der dramaturgischen Anlage des Films steht den beiden als positive Identifikationsfiguren angebotenen Flüchtlingen in diesem Teil des Films eine Gruppe von Personen entgegen, die aus der Not der Flüchtlinge Kapital schlagen. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist, dass sie aus fremden, exotischen Ländern kommen, dem unbekannten Orient. Seinen tragischen Höhepunkt findet diese Konfrontation mit der Ankunft in Italien. Eingesperrt in einen Container, ist ein Teil der blinden Passagiere erstickt und fällt den entsetzten Italienern beim Öffnen des Containers entgegen.

Auch Enayatullah ist unter den Toten, Jamal hingegen hat überlebt und es gelingt ihm, unerkannt aus dem Hafenbereich in die Stadt zu gelangen. Der Kontakt zur gebuchten „Transportkette“ jedoch ist abgebrochen, er muss sich alleine durchschlagen. Auf redliche Weise wird Jamal die Kosten seiner Weiterreise nicht so schnell bestreiten können, also entreißt er einer Touristin die Handtasche, um sich ein Bahnticket nach London zu kaufen. Das ist natürlich nicht ganz so einfach, aber – so suggeriert der Film – bis nach Sangatte an der französischen Ärmelkanalküste reist es sich als Flüchtling ohne Papiere im Europa des Schengenabkommens ohne weitere Schwierigkeiten.

Gerade im Kontrast des mühseligen und gefahrenreichen Wegs durch Asien mit dem scheinbar problemlosen Reisen durch die EU, bei der sich kein Polizist oder Grenzbeamte mehr in den Weg stellt, entwirft der Film ein Bild des wilden und gefährlichen Orient im Gegensatz zum sicheren und humanen Westeuropa. Dieser europäische Humanismus wird angerufen und bei den BetrachterInnen des Films um Verständnis und Unterstützung für die Flüchtlinge geworben. Die europäische Politik der Grenzabschottung und der alltägliche Rassismus bleiben dabei unsichtbar. Die Verantwortung für den Erstickungstod im Container tragen im Film die skrupellosen Transporteure, nicht die EU-Abschottungspolitik, die mit immer ausgefeilteren Methoden die irreguläre Einreise erschwert und damit die Menschen in die Container und auf immer gefährlichere Routen treibt (vgl. Beitrag von Elias Bierdel).

Auch die Darstellung des symbolträchtigen Transitlagers für vor allem irakische und afghanische Flüchtlinge in Sangatte entspricht dieser Grundlinie. Am Eingang des Eurotunnels gelegen, war das Lager Ausdruck eines Interessenkonflikts zwischen Frankreich und England. Da das Ziel der Flüchtlinge England war, hatte Frankreich durchaus ein Interesse, die ausreisewilligen Flüchtlinge gewähren zu lassen, um sie loszuwerden. Die Flüchtlinge ihrerseits begannen sich an diesem Ort zu organisieren und mit spektakulären Aktionen wie dem massenhaften Eintritt in den Tunnel am Weihnachtsabend ihrer Forderung auf Weiterreise Nachdruck zu verleihen.  Nichts von alle dem erscheint im Film. Darin ist es lediglich die letzte Station, bevor Jamal auf der Achse eines Lasters heimlich nach London gelangt.

Ganz offensichtlich möchte Winterbottom das sonst unsichtbare Leben der Menschen ohne Papiere sichtbar machen, die Zuschauenden im Kinosaal Jamals Reise von Pakistan nach London miterleben lassen. Er weiß, dass jede Kamera, auch die des Dokumentarfilms, einen Eingriff in die Situation bedeutet und im Falle der erzwungener Maßen heimlichen Reise der Flüchtlinge, dieser Eingriff die Reise selbst gefährden würde. Darum wählt er das Format eines Spielfilms, lässt aber nichts unversucht, um seine Bilder als authentische zu kodieren. Beginnend beim Filmtitel, der auf das in-der-Welt-Sein verweist, und den begleitenden Pressemitteilungen, die auf die umfangreiche Recherche und die Originaldrehorte im Iran und der Türkei hinweisen, bis zur filmästhetischen Umsetzung mit eingeblendeten Videografiken im Stil einer TV-Reportage und wackeliger digitaler Handkamera, nach dem Motto „je schlechter das Bild technisch ist, um so authentischer erscheint es“.

Winterbottoms Film schafft Betroffenheit, die Zuschauenden können sich in die Handlungen der Protagonisten einfühlen, weil sie allgemein menschliche Reaktionen sind. Das fremde Leben, die Reise durch fremde Länder wird durch Analogiebildung erschlossen – auch Jamal und Enayatullah sind Menschen wie du und ich. Doch so nah uns das Kinoerlebnis auch geht, so fern bleibt die Geschichte unserer Lebensrealität. Von der Sichtbarkeit der Reise werden die gesellschaftlichen Strukturen, welche die Bedingungen der Reise definieren, verdeckt.

Der Anspruch auf Einfühlung und Authentizität ist bei Winterbottom verbunden mit dem naiven positivistischen Glauben an die Wahrheit im Abbild. Doch schon Brecht wusste, dass die Außenansicht eines Industriekonzerns wie der AEG nichts über die AEG selbst aussagt. Ein kritischer Begriff von Realität muss gerade die Beziehungen, die Zusammenhänge zwischen den abgebildeten Dingen und Personen mit einbeziehen. Diese Zusammenhänge können nicht positiv im Bild ausgestellt werden, sie müssen aus der Montage, der Lücke zwischen den Bildern, den Leerstellen im Bild, der Differenz von Ton und Bild, etc. herausgelesen werden. 

„Kurz davor ist es passiert“: Film als Erkenntnisinstrument

An die Stelle der repräsentierenden Abbildung setzt Anja Salomonowitz den Film als Medium von Erkenntnis. In ihrem Film „Kurz davor ist es passiert“ über gehandelte Frauen macht sie nicht das Unsichtbare sichtbar, sondern die Unsichtbarkeit selber. Bereits der Titel weist darauf hin, dass die Dokumentation immer erst nach dem Ereignis kommt.

Das Ausgangsmaterial des Films sind Protokolle von Gesprächen mit Frauen, deren Migration und Arbeitsverhältnisse in Österreich Momente des Gehandeltwerdens aufweisen. Dabei wird der Begriff des Frauenhandels nicht auf Zwangsprostitution begrenzt, sondern auch auf Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen, die zum Beispiel als Haushälterinnen arbeiten, mit einem Tänzerinnenvisum oder durch Heirat eingereist sind und auf Grund ihres davon abhängigen legalen Status nicht frei darüber entscheiden können, aus diesen Verhältnissen auszubrechen und sich neu zu orientieren. Aus diesen Gesprächen, die in Zusammenarbeit mit Lefö, einer Migrantinnenberatung in Wien, entstanden sind, gewinnt Salomonowitz die im Film von anderen Personen mündlich vorgetragenen Geschichten.

Die Grundlage der Bildebene bilden Beobachtungen aus dem Alltag von Personen, die für das typische Umfeld stehen, in dem die Geschichten der gehandelten Frauen stattfinden. Ein Grenzbeamter steht am Fahrbahnrand und winkt Autos durch, sitzt hinter einer Schreibmaschine und verfasst einen Bericht, füttert zu Hause seine Fische im Aquarium. Eine Konsulin lässt sich die Füße maniküren, eine Handelsvertreterin trifft sich mit ihren Kundinnen aus der Nachbarschaft, um Vitaminpräparate anzupreisen, der Barkeeper eines Bordells wäscht Gläser und rückt Möbel zurecht, damit alles bereit ist, wenn die ersten Kunden kommen, ein Taxifahrer dreht seine nächtlichen Runden. Diese Menschen, in deren Alltag weitgehend unbemerkt Geschichten, wie die der gehandelten Frauen, stattfinden, unterbrechen ihre Tätigkeit für einen Moment, um mit Blick in die Kamera Auszüge aus den protokollierten Geschichten der Frauen zu zitieren. Der Film verdoppelt sich: Das Abbild des Alltags bildet gleichsam die Grundierung für ein zweites imaginäres Bild, das, auch darauf verweist der Titel, kurz vor der Leinwand entsteht. Die Protagonisten und Protagonistinnen müssen sich mit den Geschichten, die unsichtbar in ihrem Alltag geschehen, konfrontieren, die Zuschauenden werden aus dem voyeuristischen Dabei-Sein des Kamerablicks herausgerissen und müssen die Bilder lesen. An die Stelle der illusionären Behauptung, Wirklichkeit wiederzugeben, setzt Salomonowitz den Film als Instrument der Erkenntnis.

Anders als „In this world“ macht „Kurz davor ist es passiert“ kein Angebot zum Einfühlen in ein fremdes Leben, sondern wirft die Zuschauenden und die Darstellenden in ihr eigenes Leben zurück, zwingt zur Reflexion. Was findet in unserem Alltag statt, ohne dass wir es bewusst wahrnehmen? Welche Gesellschaftsstruktur ist mit diesem Regime der (Un-)Sichtbarkeit verbunden? Die formale Strenge des Films spiegelt die formal geregelte Gesellschaft, in der sich konkrete Menschen als Träger eines abstrakten Wertes aufeinander beziehen. Dennoch kann in jedem Moment der subversive Eigensinn (nicht nur) migrantischer Subjekte aufblitzen.

In der Gegenüberstellung der hier beschriebenen Filme zeigt sich das komplexe Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Film. Winterbottom gibt vor, in seinem Film die Perspektive der irregulären Migranten sichtbar zu machen. Doch die Abbildung der exotischen Oberfläche der Reise verdeckt die strukturellen Hintergründe migrantischer Realitäten und allzuleicht wird beim einfühlenden Zuschauen nur das westliche Orientbild als authentisches reproduziert, während die Situation der MigrantInnen in der EU unsichtbar bleibt. Umgekehrt belässt Salomonowitz die migrierten Frauen in der Unsichtbarkeit, gibt ihnen kein Gesicht und keine eigene Stimme. In dem sie die Unsichtbarkeit selbst ausstellt, lässt sie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu irregulärer Migration und Frauenhandel führen, hervortreten und sensibilisiert den Blick der Zuschauenden für den Alltag, in dem sich migrantisches wie einheimisches Leben abspielen. Manchmal sagt ein Bild der Unsichtbarkeit mehr als hundert Bilder des Unsichtbaren.  

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Olaf Berg ist Historiker und Filmschaffender. Er arbeitet im Medienpädagogik Zentrum Hamburg und leitet die Lateinamerika-Filmtage Hamburg. Er forscht mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema Film als Instrument historischer Forschung.