von Daniel Bax
Die Anfänge einer eigenständigen, deutsch-türkischen Musikszene lassen sich auf die frühen Neunzigerjahre zurück datieren. Zwei unterschiedliche Strömungen zeichneten sich damals schon ab: Auf der einen Seite spaltete sich ein türkischsprachiger Seitenarm von der deutschen HipHop-Szene ab. Neben multiethnischen Kollektiven wie Cribb 199 aus Bremen oder der T.C.A. Microphone Mafia aus Köln, die in diversen europäischen (Mutter)sprachen rappten, begannen einige türkisstämmige Rap-Crews damit, ihre selbst gebastelten HipHop-Beats ausschließlich mit türkischen Texten - und manchmal auch mit orientalischen Samples - zu kombinieren. Das war damals noch eine absolute Neuigkeit, und Gruppen wie Islamic Force aus Berlin, Karakan aus Nürnberg oder DJ Mahmut & Murat G aus Frankfurt am Main gelten deshalb heute, wo das Genre auch in der Türkei Adepten gefunden hat, als legitime Begründer des türkischsprachigen HipHop.
Auf der anderen Seite schwappte die aufbrandende Pop-Welle aus der Türkei zur gleichen Zeit auch nach Deutschland über. Nicht zuletzt durch die Zulassung privater Radio- und Fernsehstationen in der Türkei, hatte die Musikszene Anfang der Neunzigerjahre dort einen kräftigen Schub erhalten. Fast stündlich kamen fortan neue Popstars wie Tarkan, Celik, Askin Nur Yengi oder Yonca Evcemit auf. Deren aktuelle Hits ließen im Sommer die Boxen der Diskotheken in den Urlaubsorten von der Ägäis bis zum Mittelmeer erzittern, und ihre neuesten Videoclips rotierten rund um die Uhr auf den neu gegründeten Musikkanälen.
Wie die türkische Popwelle in Deutschland aufschlug
Über türkische Satellitenprogramme oder durch einen Sommerurlaub in der Türkei nahmen viele auch in Deutschland Notiz von diesem Phänomen. Und so sprang der Funke auch auf die deutsch-türkischen Jugend über, die sich in Deutschland nach einer modernen Verkörperung türkischer Lebensart sehnte. Mit den melancholischen türkischen Schlagern ihrer Eltern konnten sie nichts anfangen, die fatalistischen Weisen aus der populären Volksmusik der Türkei waren auch nicht jedermanns Sache.
Doch im türkischen Pop mit seiner optimistischen und zupackenden Grundstimmung fanden viele ein attraktives Identifikationsmodell. Es dauerte nicht lange, bis in deutschen Großstädten wie Berlin und Ballungsgebieten wie dem Ruhrgebiet die ersten türkischen Diskotheken aus dem Boden schossen: Erst eine, dann zwei, dann immer mehr. Außerdem ließen sich türkische Popstars wie Tarkan oder Sezen Aksu auch gerne mal für ein Konzert nach Deutschland bitten, und in Berlin machte mit Metropol FM der erste türkische Radiosender auf: So florierte die Pop-Diaspora.
Gleichzeitig übte der boomende Pop-Markt in der Türkei auch auf viele türkischstämmige Musiker in Deutschland eine Sogwirkung aus. Sänger wie Rafet El Roman aus Frankfurt am Main, der sich stets mit Schiebermütze ablichten ließ und vom Italo-Pop eines Eros Ramazotti beeinflusst zeigte, Cankat aus Berlin, der sich an funkigen R&B-Vorbildern orientierte, oder die Sängerin Tugce San aus Heidelberg, die im Leopardenkostüm posierte und einen technoiden Sound pflegte - sie alle machten Karriere am Bosporus. Sie alle brachten aus Deutschland auch eine je eigene Note in die türkische Popszenerie und sie alle hatten damit zumindest eine Weile lang Erfolg - wenn auch nur Rafet El Roman sich bis heute im Geschäft hat halten können.
Wie der deutsch-türkische Rap in die Türkei kam
So groß war die Sogwirkung des Popmarkts in der Türkei, dass sogar einige Rapper aus Deutschland dort ihr Glück versuchten: Und dass, obwohl HipHop in der Türkei bis dahin noch kein nennenswertes Echo gefunden hatte. Als erstes gelang der Rap-Gruppe Cartel – ein Zusammenschluss türkischstämmiger Rapper aus ganz Deutschland - der Überraschungserfolg. Durch einen geschickten Marketinghype begünstigt, brachten sie es in zu einem Stadionkonzert in Istanbul, zu diversen Fernsehauftritten und aufs Cover eines türkischen Männermagazins. Davon ermutigt, versuchten zunächst einmal die ehemalige Cartel-Mitglieder Karakan aus Nürnberg und Erci E aus Berlin, auf getrennten Wegen in der Türkei Fuß zu fassen – allerdings mit mäßigem Erfolg. Auch die Rapperin Aziza A. aus Berlin veröffentlichte bald darauf ein rein türkischsprachiges Album in der Türkei, und ebenso der Rapper Sultan Tunc aus Frankfurt.
Ein Grund für die Hinwendung zur Türkei war, dass in Deutschland selbst der große Erfolg für die meisten türkischstämmigen Rapper ausblieb. Zwar wurde die türkischsprachige Rap-Szene in Deutschland von den Medien wohl bemerkt und ausgiebig beleuchtet. Aber auf die Karriere der meisten türkischstämmigen Rapper hatte diese öffentliche Aufmerksamkeit erstaunlicherweise keinerlei Auswirkung.
Zwei Gründe dürfen dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben: Einerseits hatten die großen Musikkonzerne zu dieser Zeit gerade erst damit begonnen, den deutschen HipHop für sich zu entdecken und kommerziell zu pushen: Die Fantastischen Vier waren damals der erste wirklich erfolgreiche HipHop-Act in deutscher Sprache. Zum anderen dürfte die Sprachbarriere nicht nur viele Plattenfirmen, sondern auch viele Hörer vom deutsch-türkischen HipHop abgeschreckt haben. Auch einem Straßenrapper wie Killa Hakan, der seine Rap-Alben in türkischer Sprache konsequent in Deutschland heraus brachte und sogar bei einem traditionsreichen Independent-Label unterkam, gelang damit nie mehr als ein Achtungserfolg.
Wie türkischstämmige Rapper den deutschen Mainstream eroberten
Erst in den letzten Jahren ist es einigen türkischstämmigen Rappern gelungen, in den Mainstream durchzudringen: Leute wie Kool Savas und Eko Fresh, die aus dem Umfeld des Berliner Battle-Rap-Labels „Royal Bunker“ entsprungen sind, oder die raubeinigen Jungs vom Berliner Labels „Shok Müzik“. Diese versuchen, sich noch härter zu geben als die Konkurrenz von „Aggro Berlin“, die mit Namen wie Sido und Fler aufwarten kann und deren ehemaliges Mitglied, der Deutsch-Tunesier Bushido, sogar einen Vertrag bei einem Major-Label an Land ziehen kann.
Der durchschlagende Erfolg der Berliner Rap-Szene, die stark von deutsch-türkischen Rappern geprägt wird, erfolgte erst in den letzten Jahren. Er wird meist darauf zurückgeführt, dass sie mit ihrem rüpelhaften Auftreten und ihren derben, oft sexistischen Texten einen neuen Ton in die deutsche Musikszene gebracht haben.
Andere Aspekte, die auch eine Rolle gespielt haben dürften, werden dabei gerne übersehen – vielleicht, weil sie zu offensichtlich scheinen: Dass die genannten Rapper keine künstlerischen Kompromisse eingehen mussten, weil sie sich auf eigenen Independent-Labels organisiert haben. Und: Dass sie auf Deutsch rappen. Denn von einem deutsch-türkischen Publikum allein lässt sich als Musiker nicht leben – und selbst das bevorzugt meist die deutsche Sprache, da es diese besser beherrscht als das Türkische. Gleichwohl lassen viele türkischstämmige Rapper gerne mal türkische Wörter oder Anspielungen in ihren Straßenslang einfließen – als Zeichen ihrer Herkunft und als Insider-Code der multiethnischen Straße.
Wie sich die musikalischen Grenzen zwischen der Türkei und Deutschland auflösen
Mit dem neuen Jahrtausend sind die musikalischen Grenzen zwischen der Türkei und Deutschland allerdings auch stark verwischt. Ein türkischer Popstar wie Tarkan hat sich inzwischen weltweit einen Namen gemacht, die türkische Pop-Sängerin Sertab Erener gewann im Jahr 2003 den Eurovision Song Contest, und der türkische Sänger Mustafa Sandal spielte im Jahr 2005 ein Duett mit dem deutschen Reggae-Sänger Gentleman ein: Türkischer Pop hat inzwischen auch in Deutschland ein Publikum gewonnen.
Zugleich suchen deutsch-türkische Musiker ständig nach neuen Ausdrucksformen, die sich zwischen allen musikalischen Traditionen bewegen. Der Sänger Muhabbet aus Berlin etwa hat den deutschsprachigen Soul um eine weitere Nuance erweitert. So wie Xavier Naidoo und Glashaus einst gezeigt haben, dass sich in deutscher Sprache genau so soulful schmachten lässt wie im Englischen, zeigt Muhabbet nun, dass sich auch orientalische Gesangsformen ins Deutsche übersetzen lassen. Der Musikstil, den man im Türkischen „Arabesk“ nennt, zeichnet sich durch einen ornamentalen und zwischen Vierteltönen wechselnden Singsang aus, der in deutschen Ohren etwas leiernd klingen mag, und durch seine blumigen bis dramatischen Texte. Muhabbet hat diesen Stil konsequent eingedeutscht, und damit auch bei einem deutschen Publikum einen Nerv getroffen.
Für seine Symbiose aus türkischen Arabesk-Gesang und gospeligen R&B-Standards hat Muhabbet den Namen R’n’Besk geprägt. Schon jetzt ist er damit sehr erfolgreich: Zwei, drei Hits in den deutschen Charts hat Muhabbet bereits gelandet. Sogar in der Türkei ist man begeistert über den jungen Newcomer, der den vertrauten Gesangsstil im fremden Idiom vorträgt.
So haben sich die deutsche und die türkische Popwelt in den vergangenen zehn Jahren beträchtlich angenähert. Für die Karriereplanung eines Musikers aber dürfte es nach wie vor entscheidend sein, in welcher Sprache er/sie singt: Denn ein Titel in türkischer Sprache ist hierzulande allenfalls für einen Überraschungserfolg gut. Und wer in deutscher Sprache singt, bleibt in der Türkei ein Exot.
Daniel Bax leitet seit 1998 Redakteur das Musikressort der tageszeitung (taz). Dort widmet er sich den Themen kulturelle Globalisierung, Integration und Popkultur und verfolgt insbesondere die Entwicklung einer türkischen Popkultur in Deutschland.