Deutsch? Türkisch? Deutsch-türkisch? Wie türkisch ist die deutsch-türkische Literatur?

Istanbul

von Karin E. Yeşilada

Inhalt

Die Türkei zu Gast auf der Buchmesse

Die Türkei ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2008 – und damit steht eine Literatur im Rampenlicht des Geschehens, die hierzulande eher unbekannt ist. Seit der Verleihung des Literaturnobelpreises an Orhan Pamuk wurde die Prosa einer jüngeren Schriftstellergeneration zwar etwas bekannter, und neben dem großen Romancier Yaşar Kemal (lange ein Kandidat für den Literaturnobelpreis) werden nun auch einige AutorInnen der jüngeren Generation wahrgenommen, Elif Şafaketwa, doch kaum mehr als diese AutorInnen sind in Deutschland ein Begriff.

Mit dem Gastlandauftritt der Türkei auf der Buchmesse werden viele neue Namen hinzukommen. Editionsreihen wie die Türkische Bibliothek herausgegeben vom Unionsverlag etwa machen es sich zum Ziel, die türkische Literatur des 20. Jahrhunderts zu präsentieren. Einige weitere Verlage (z.B. Literaturca Verlag, Dağyeli Verlag)bringen Anthologien zur türkischen Literatur heraus oder verlegen gleich türkische AutorInnen in deutscher Übersetzung. Türkische Literatur, die lange Zeit ein Dasein als Nischenliteratur und Gegenstand turkologischer Seminare fristete, wird im Zuge der Buchmesse endlich aktuell erlebbar. Zahlreiche AutorInnen aus der Türkei sind zu Gast in Deutschland und gehen auf Lesereise, um ihre Bücher vorzustellen. Wenn bei diesen Veranstaltungen zumeist auch die ÜbersetzerInnen mit auf dem Podium sitzen, ist dies der Tatsache geschuldet, dass Übersetzungen nötig sind, um türkische Literatur auf Deutsch zu lesen.

Daneben gibt es jedoch in Deutschland auch noch eine auf Deutsch geschriebene Literatur von türkischen AutorInnen wie zum Beispiel Feridun Zaimoğlu, Akif Pirinçci oder Emine Sevgi Özdamar. Das erscheint zunächst einmal verwirrend: Ist das nun deutsche oder türkische Literatur? Der englische Autor Walter Abish fragte in seinem Anfang der 1980er Jahre erschienenen Roman über Juden und Deutsche1 provokant "How German is it?", "Wie deutsch ist es?" Genauso könnte man sich fragen: Wie "türkisch" ist die Literatur türkischer AutorInnen in Deutschland wirklich?2

Türkisch oder Deutsch?

Nehmen wir zwei Buchmesse-AutorInnen als Beispiel: Şebnem İşigüzel (geb. 1973) und Feridun Zaimoğlu (geb. 1964). Beide haben einen türkischen Namen, und doch unterscheiden sie sich grundsätzlich voneinander, und dies nicht nur gender-spezifisch, sondern auch in Bezug auf ihre "nationale" Herkunft: Obgleich beide in der Türkei geboren, wuchs die eine in der Türkei auf, der andere in Deutschland.

Während Şebnem İşigüzel eine türkische Autorin aus der Türkei ist, deren Werke aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt werden müssen, schreibt Feridun Zaimoğlu in Deutschland auf Deutsch. İşigüzel ist also eine türkische Autorin, will heißen, eine Autorin der türkischen Literatur, die literarisch zunächst einmal von der türkischen Literaturgeschichte geprägt wurde. Autorinnen der türkischen Literatur wie etwa Adalet Ağaoğlu oder Leyla Erbil liest sie im Original. Die deutsche Literatur kennt sie womöglich aus Übersetzungen ins Türkische. Umgekehrt werden ihre Bücher in andere Sprachen, darunter ins Deutsche übersetzt.3

Feridun Zaimoğlu hingegen wurde in Deutschland sozialisiert, er las in der Schule deutsche Autoren im Original. Für ihn ist der deutsche Buchmarkt von zentraler Bedeutung, denn seine Bücher erscheinen hier. Zaimoğlu ist somit – trotz seines "nicht-deutschen" Namens – ein deutscher Autor, der mit etlichen deutschen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, und dessen Bücher aus dem Deutschen in andere Sprachen übersetzt werden. Anders als bei seiner türkischen Kollegin İşigüzel steht in seinen Büchern kein Vermerk "aus dem Türkischen übersetzt von...", denn seine Literatur entsteht – auch im Kopf schon – auf Deutsch. Ein wichtiger Unterschied.

Feridun Zaimoğlu und Şebnem İşigüzel haben daher nicht notwendigerweise etwas miteinander zu tun, auch wenn sie sich auf der Buchmesse nun begegnen und dort auf Türkisch miteinander plaudern. Wenngleich ethnisch gesehen beides Türken, sind sie doch Vertreter unterschiedlicher literarischer Nationen und Traditionen. Zaimoğlu ist darüber hinaus Deutsch-Türke, in Deutschland lebender Sohn türkischer EinwanderInnen. Ebenso wie seine KollegInnen Zafer Şenocak, Selim Özdoğan, Yadé Kara oder Hatice Akyün ist er ein deutsch-türkischer Autor.

AutorInnen mit türkischem Pass – nicht immer aus der Türkei

AutorInnen mit türkischen Namen sind also nicht notwendigerweise Vertreter einer türkischen Literatur, für die sich Turkologen zu interessieren hätten. Vielmehr gehören sie als AutorInnen der deutschsprachigen Literatur zur Germanistik. Hier kennt man schon lange jene Literaturströmung, die als "Deutschsprachige Literatur nicht-deutscher Herkunft" bezeichnet wird, oder auch als "Migrationsliteratur", oder "interkulturelle Literatur" – das Kind hat mittlerweile viele Namen. Die unterschiedlichen Bezeichnungen betonen jeweils eine andere Spezifik, das der Migration, der Inter- oder Transkulturalität. "German Titles - Turkish Names" lautet etwa ein Überblick, den die Germanisten Tom Cheesman und Deniz Göktürk zusammengestellt haben.4

Deutsche Literatur nicht-deutscher Herkunft, von eingewanderten AutorInnen also, die in der Fremdsprache Deutsch schreiben, ist kein neues Phänomen. Der jährlich vergebene Adelbert-von-Chamisso-Literaturpreis ist nicht von ungefähr nach einem Autor benannt, der im 19. Jahrhundert aus Frankreich nach Deutschland einwanderte und in der Fremdsprache Deutsch schrieb. Seit den 1960er Jahren bildete sich im Zuge der Gastarbeiteranwerbung eine eigene Literaturströmung heraus. Und auch hier bildeten die schreibenden Türken die größte nationale Gruppe. Damit spiegelten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse (die seit 1961 angeworbenen Türken stellen bis heute die größte nationale Minderheit in Deutschland) auch literarisch.

Türkisch-deutsche Literatur gilt heute mit zwei schreibenden Generationen als eine eigene literarische Strömung, die in den fast fünf Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem festen Bestandteil der deutschen, deutschsprachigen Literatur geworden ist. Ihr wurde unlängst eine ganze Ausstellung gewidmet, in Handbüchern zur Interkulturellen Literatur erhält sie ein eigenes Kapitel, und in der germanistischen Literaturwissenschaft wird der Einfluss türkischer Literaten im Sinne eines "'Turkish Turn" in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur diskutiert.5 Wollte man die Charakteristika dieser Literaturströmung zusammenfassen, so ließen sich sicherlich Themen wie Heimatverlust, Schreiben in zwei Sprachen, Identitätsfindung und Fremdheit bestimmen.

Doch es wäre ein Trugschluss zu behaupten, dass sich alle AutorInnen ausschließlich nur mit diesen Themen befassen. Bereits in den Anfangsjahren, als eine Literatur der Betroffenheit tatsächlich hauptsächlich das Erleben des künstlerischen Ichs in der Fremde zum Thema machte, gab es Autoren, wie etwa Zafer Şenocak oder Akif Pirinçci, die ihre literarischen Anfänge jenseits solcher Konstruktionen ansiedelten:

Şenocak schrieb expressionistische Gedichte mit Großstadtthema und später, unter dem Einfluss seiner Übersetzung osmanischer Lyrik ins Deutsche, Gedichte mit klassischer Note und mystischen Einschlag. Pirinçci wiederum reüssierte mit Katzenkrimis, die bald zu Bestsellern wurden. Auch die Lyrikerin Zehra Çırak entwickelte ihren ironischen, an Dichtern wie Ernst Jandl oder Joachim Ringelnatz geschulten Stil jenseits bikultureller Kontexte. Sie alle sind AutorInnen der sogenannten zweiten Einwanderergeneration, die als Kinder nach Deutschland kamen und hier aufwuchsen, deutsche Literatur im Schulkanon lasen und zuhause mit den Eltern türkisch sprachen.

Diese Generationsspezifik ist kennzeichnend für die türkische Literatur: Neben AutorInnen wie Aras Ören oder Güney Dal, die als Erwachsene kamen und zu literarischen Chronisten der türkischen Einwanderung nach Deutschland wurden, gab es auch die hier aufgewachsenen Künstler undKünstlerinnen, die sich nicht mehr mit Themen wie Fremdheit, Heimatverlust oder Identität auseinander setzten. Gemeinsam ist allen jedoch die Verankerung im deutschen Kontext. Selbst Ören und Dal, die ihre Texte auf Türkisch schreiben und für den deutschen Buchmarkt ins Deutsche übertragen lassen, gelten als AutorInnen der deutschsprachigen Literatur.

Türken in Deutschland – ewig Dazwischen?

Kaum ein Medienbericht über die Türkei oder über Türken aber kommt ohne diesen Satz aus: "Zwischen Tradition und Moderne". Ob sich nun das ganze Land zwischen Tradition und Moderne, Europa und Orient, zwischen Aufklärung und Islam befindet, oder ob die hier lebenden Türken einfach nur "zerrissen zwischen den Kulturen" sind – stets geht es um das Dazwischen, um den großen Widerspruch. Samuel Huntingtons These über den (vermeintlichen) Krieg der Kulturen lieferte eine Steilvorlage für schematisches Denken in binären Strukturen, demzufolge die westliche Kultur stets als modern, die islamische (und in dem Fall: türkische) stets nur als vormodern und vor allem: als fremd verstanden wird. Missverständnisse und Fehlrezeptionen sind da unvermeidlich.

"Ein Türke geht nicht in die Oper" – so hat Zafer Şenocak dieses Vorurteilsdenken in Bezug auf die türkische Kultur einmal gebrandmarkt.6 Während er als einer der wichtigsten deutsch-türkischen Intellektuellen in seinen Essays für eine differenzierte Denkweise plädiert, bringen es die Satiriker markiger auf den Punkt: Wer hier den deutschen Vorurteilen nicht entspricht, ist eben "Der andere Türke" – im Falle von Şinasi Dikmens gleichnamiger Satire ist das ein Türke, der "Die Zeit" liest. Dass die Satire zu einem starken Genre der türkisch-deutschen Literatur wurde, verdankt sich zum einen dieser Häufung gegenseitiger Vorurteile und Klischees, zum anderen dem Umstand, dass es auch in der Türkei-türkischen Literatur ein beliebtes Genre ist.7  In Deutschland zählen Şinasi Dikmen und Osman Engin zu den wichtigsten Satirikern, die Autoren wie Aziz Nesin, Rifat Ilgaz, Kurt Tucholsky oder Ephraim Kishon zu ihren literarischen Vorbildern zählen. Sie beziehen sich damit also auf eine internationale Satiretradition.

Genauso beziehen sich andere AutorInnen auf die deutsche, die türkische und/oder auf die Weltliteratur, wenn sie über ihre literarischen Inspirationen sprechen. Es wäre daher irreführend, türkisch-deutsche AutorInnen immer nur in einem türkisch-deutschen Kontext zu denken. Die Romane von Selim Özdoğan haben wenig mit Orhan Pamuk, dafür umso mehr mit Philippe Djian zu tun, Feridun Zaimoğlus frühes Werk, die sogenannte "Kanak-Literatur", war in ihrer rebellischen Pose eher dem US-amerikanischen Underground, der Rap-Kultur und der Popliteratur verwandt als türkischer Kultur, wie die Kritik zu glauben meinte.8  Auch Şenocaks Metropolenlyrik, die sich zwar vorwiegend zwischen Istanbul und Berlin bewegt, ist nicht "dazwischen zerrissen", ebenso wenig wie etwa die Figuren aus Fatih Akıns preisgekröntem Film Gegen die Wand (2004).

Die Vorstellung, dass es nur zwei monolithische Kulturen, hier die deutsche, dort die türkische, gäbe, zwischen denen sich Künstler wie Pingpongbälle hin- und herbewegen, mag allenthalben als einfaches Erklärungsmuster beliebt sein. Sie ist jedoch irreführend, schon allein, weil es monolithische Kulturen nicht gibt.9

Amartya Sen hat dies in seiner Replik auf Huntington deutlich gemacht: Ein Mensch besteht prinzipiell aus zahlreichen Identitäten, nicht nur aus einer ("der Muslim") oder zwei ("der muslimische Türke"). Wer die Vielfalt des menschlichen Wesens auf nur eine Identität festlegt, tappt in die "Identitätsfalle". 

Entsprechend sind die KünstlerInnen einer türkisch-deutschen Kulturszene zwar auch türkisch und deutsch, aber nicht ausschließlich: Sie sind darüber hinaus LyrikerInnen, Romanciers, Paul Celan LiebhaberInnen, Martin Scorsese Fans, AutorInnenfilmerInnen, TheaterschauspielerInnen, FriedensaktivistInnen, Katzenfreunde, Muslime, CDU-Abgeordnete, VegetarierInnen, RaucherInnn, etc. Eine solche Reihe an Identitätsmerkmalen, an Teilidentitäten wäre demnach auch im künstlerischen, und im Falle der türkisch-deutschen Literatur, im literarischen Werk zu veranschlagen. Wer mit Deutsch-Türken nur Kopftuch und Döner Kebap assoziiert, wird sich dagegen schwertun, die kulturelle Vielfalt wahrzunehmen.

Themen und Trends

Türkisch-deutsche Literatur, Migrationsliteratur, interkulturelle Literatur, oder wie man sie auch nennen mag, hat damit ein vielfältiges Potential, das sich nicht allein im türkisch-deutschen Bereich erschöpft. Insofern ist es auch kein Fehler, die AutorInnen jeweils individuell wahrzunehmen, in ihrer künstlerischen Mehrdimensionalität (Zafer Şenocak als Lyriker, Essayist, Romancier, als Autor deutscher und türkischer Sprache, als writer in residence, als public intellectual etc.). 10

Damit wird man ihnen, ihrer künstlerischen Intention im Zweifelsfall eher gerecht. "Literatur ist Literatur", hat dies Yüksel Pazarkaya einmal auf den Punkt gebracht. Pazarkaya, ehemaliger Rundfunk-Redakteur, Autor und Kulturvermittler, trug in den 1980er Jahren maßgeblich zum Verständnis der türkischen und türkisch-deutschen Literatur bei.11
Von ihm gibt es zahlreiche Aufsätze zur türkisch-deutschen Literatur bis in die 1990er Jahre hinein.12

Mittlerweile gibt es mehrere Dutzend AutorInnen türkischer Herkunft, die auf Deutsch schreiben – und die außer ihrer Herkunft kaum etwas miteinander zu tun haben. Wollte man dennoch Trends in ihrer Literatur ausmachen, so wären hier seit den 1990er Jahren zunächst einmal die deutsch-deutsche Wiedervereinigung und ihre Folgen zu nennen. Die in den 1990er Jahren extrem angestiegene Fremdenfeindlichkeit richtete sich damals besonders gegen die Deutsch-Türken, die im Zuge der neuen deutsch-deutschen Nationalitätsfindung nicht mehr dazuzugehören schienen.

Interessanterweise wurde die von türkisch-deutschen AutorInnen verfasste sogenannte Wendeliteratur bislang kaum von der Germanistik wahrgenommen. Dabei haben Güney Dal, Aras Ören oder Zafer Şenocak bereits in den 1990er Jahren Romane geschrieben, in denen die Wiedervereinigung aus türkisch-deutscher Sicht (oft mit Blick auf die deutsch-türkische Geschichte, die ja weit vor der Gastarbeiteranwerbung begann) thematisiert wird.13

Auch die Brandanschläge von Mölln und Solingen haben zu einer literarischen Reaktion geführt, Nevfel Cumart, Hasan Özdemir oder Gülbahar Kültür etwa haben in ihrer Lyrik dagegen Stellung bezogen. Neben dieser "Poesie post Solingen", wie man sie bezeichnen könnte, war es seit Mitte der 1990er Jahre jedoch vor allem die sogenannte "Kanak-Literatur" von Feridun Zaimoğlu, die mit ihrem rebellischen Anspruch und einem völlig neuen Typ des "angry young Turkish Man" für Furore sorgte.

Womöglich lag es an dieser lust- und machtvoll zelebrierten männlichen Macho-Pose (vor der sich das deutsche Feuilleton übrigens ebenso lustvoll fürchtete), dass in jüngerer Zeit ein ganz anderer Typ den deutschen Buchmarkt erobert: Die türkische Frau. Da gibt es einmal die Betroffenheitsliteratur á la Necla Kelek, die mit ihrer "Fremde(n) Braut" die gesellschaftliche Diskussion über Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde literarisch anfachte. In der Folge erschienen etliche Berichte unterdrückter türkischer Frauen; und sie erfreuen sich ähnlich hohen Zuspruchs wie die Kolportageromane von Saliha Scheinhardt in den 1980er Jahren.14

Dagegen hat sich in letzter Zeit noch ein zweiter sozusagen ein Gegentrend herausgebildet, der dem amerikanischen Genre der sogenannten "Chick-Lit" folgt. Junge Deutsch-Türkinnen (fast alle um 1970 geboren) plaudern über sich selbst und ihr Leben als Türkin in Deutschland. Aslı Sevindim, Hatice Akyün, Iris Alanyali, Dilek Güngör und einige andere, die als Journalistinnen für deutsche Zeitungen arbeiten, veröffentlichten zuvor Kolumnen über ihr Leben alla turca in Alemania, und haben daraus später ein Buch gemacht. Ähnlich wie die "fremden Bräute" berichten auch sie "aus dem Innern türkischen Lebens in Deutschland", ohne sich dabei jedoch als Opfer, als geschundene Suleika zu stilisieren. Stattdessen melden sich hier sehr selbstbewusste junge Frauen zu Wort, die freizügig über ihr Leben, über Mode, Sex und Liebe sprechen, ganz im Stil einer "Chick-Lit alla turca". Und zwar nicht etwa in der Nische, sondern bei etablierten Verlagen wie etwa Goldmann, Ullstein, Rowohlt oder Piper.

Neben solchen Gruppenphänomenen gibt es jedoch viele eigenständige Stimmen zu entdecken, auch wiederzuentdecken. Zehra Çıraks Gedichte etwa, die vom Verlag als "vergriffen" gemeldet werden, sollten unbedingt wieder aufgelegt werden – zumal sie, wie auch viele andere Texte türkisch-deutscher AutorInnen, Eingang in den Schulkanon gefunden haben.

Deutsch-türkische Literatur: Literatur mit festem Wohnsitz

Wenn SchullehrerInnen also, um bei dem obigen Beispiel zu bleiben, im Deutschunterricht neben Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Christa Wolf oder Ingo Schulze (wie viele AutorInnen "mit Migrationshintergrund" in Bezug auf die Bundesrepublik sind es?) auch Osman Engin, Zehra Çırak, Emine Sevgi Özdamar oder Feridun Zaimoğlu unterrichten, so tun sie dies im Kontext der nach Deutschland eingewanderten Literatur.15 Hier könnte man als neues literarisches Genre dann vielleicht über den Migrationsroman reden, jene Prosa, in der eingewanderte AutorInnen ihre eigene Migrationsgeschichte in Form einer großen Familiensaga oder eines Entwicklungsromans aufarbeiten (wie beispielsweise Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoğlu oder Selim Özdoğan).

Es wäre darüber hinaus eine schöne Übung, mit den SchülerInnen einmal über die Bedeutung jener Formulierung "mit Migrationshintergrund" zu reflektieren und die darin verborgene, ausschließende Wertung der Präposition "mit" (im Sinne von: "ohne" Zugehörigkeit) herauszuarbeiten. Menschen "mit Migrationshintergrund" gehören unterschwellig nicht dazu, haben keinen Anspruch auf vollständige Zugehörigkeit. Im Falle türkischer Einwanderer ohne deutschen Pass heißt das etwa: ohne garantierten Aufenthaltstatus oder Wahlrecht.

In Anbetracht solcher sozio-politischen Realitäten erscheint es einigermaßen missverständlich, von einer "Literatur ohne festen Wohnsitz" zu sprechen: Die eingewanderten AutorInnen haben ihren festen Platz in der deutschen Literatur. Im Zeitalter der Globalisierung mögen sie zwar umherreisen, womöglich auch ihren Wohnort zeitweilig von Berlin nach New York, Paris oder Istanbul verlegen. Doch solange sie in deutscher Sprache schreiben, filmen oder singen und sich damit an ein deutschsprachiges Publikum wenden, gehören sie – allen politischen Rechtsrucken zum Trotz – zur deutschen, zur türkisch-deutschen Kultur.

Die Bindestrich-Bezeichnung sollte jedoch nicht in die Irre führen: Diese AutorInnen gehen nicht etwa "zurück in die Heimat". Ihre Heimat, auch ihre literarische Heimat, ist Deutschland. Sie haben somit auch keinen Gastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse, sondern genießen Hausrecht. Wenn ihre Namen jedoch ebenso hingebungsvoll falsch ausgesprochen werden wie die von Sebnem İşigüzel oder Aslı Erdoğan, zucken auch sie zusammen. 

 

Aussprachehilfe 
(Leider werden die türkischen Buchstaben in Netz nicht dargestellt. Wir bemühen uns diesen Missstand zu beheben. MID-Red.)

"Ihsiegützel", "Tsaimocklu", "Ehrdohgahn"?– all die schwierigen Namen! Eine kleine Aussprachehilfe: ş spricht sich wie im Deutschen sch, ç wie -tsch und c wie -dsch, das anlautende s wird stimmlos (also scharf) gesprochen, das z hingegen stimmhaft (also weich). Das türkische weiche ğ wird in der Kehle verschluckt, und das ı (ohne Punkt)dunkel (wie das e in Jacke) gesprochen. Şebnem İşigüzel spricht sich also wie "Schebbnemm Ischi-güsell", Aslı Erdoğan wie "Assle Err-doann", Zafer Şenocak "Saffer Schenno-dschack", Emine Sevgi Özdamar "Emmine ßevgi Ösdammar" (und nicht "Ötzdamar").

Die größten Aussprachehürden weisen just jene Autoren auf, die hierzulande große Erfolge feiern, nämlich Akif Pirinçci ("Pirintschi") und Feridun Zaimoglu, dessen Name sich "Seim-Ohlu" spricht (und nicht, wie sich das in Deutschland eingebürgert hat, "Tsaim-ockluh"). Wer das schwierig findet, sollte über Worte wie Beaujoulais oder Stracciatella, oder über Namen wie Gérard Dépardieu, Marcel Reich-Ranicky nachdenken. Bei über 2,5 Millionen Türken in Deutschland wäre es in der Tat wünschenswert, wenn sich die maßgeblichen Printmedien einen Satz Sonderzeichen für das Türkische zulegen und verwenden würden. Bei gefühlten 300.000 Nachnamen, die auf -oğlu enden, würde es sich lohnen, die richtige Aussprache zu üben.

Endnoten

1 Walter Abish: Wie deutsch ist es? Roman. Aus d. Amerikanischen von Renate Hampke. Köln.19821

2 Siehe dazu meinen Artikel "Göçmen İşçi Yazını" Ya da:  How Turkish is it? In: Zehra İpşiroğlu (Hrsg.): Çağdaş Türk Yazını. (Deutschsprachige Migrantenliteratur oder: How Turkish is it? Beitrag f. d. Band: Einführung in die zeitgenössische türkische Literatur, hrsg. v. Zehra İpşiroğlu). Ins Türk. übers. v. Mine Dal und Mustafa Tüzel. Istanbul (Adam) 2001, S. 207-243.

3 Şebnem İşigüzels Roman: Am Rand ist soeben im Berlin Verlag erschienen.

4 Tom Cheesman / Deniz Göktürk: German Titles, Turkish Names: The Cosmopolitan Will. In: New Books in German. London, Autumn 1999, S. 22f.

5 Carmine Chiellino (Hrsg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart (Metzler) 2000 (darin der Artikel von Sargut Şölçün: Literatur der türkischen Minderheit, S. 135-152); Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn (Fink) 2006 (darin Kapitel IV: Deutsch-türkische Literatur, S. 195-236); Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration. New York (Palgrave Macmillan) 2005 (Studies in European Culture and History); Tom Cheesmann: Novels of Turkish German Settlement. Cosmopolite Fictions. Rochester, NY (Camden House) 2007.

6 Zafer Şenocak: Ein Türke geht nicht in die Oper. In: Atlas des tropischen Deutschland. Essays. Berlin (Babel) 1992, S. 20-30. Die Werke von Zafer Şenocak erscheinen im Münchner Babel Verlag und sind dort bestellbar.

7 Siehe meinen Artikel: "Getürkt" oder nur "anders"? Türkenbild in der türkisch-deutschen Satire. In: Nedret Kuran Burçoğlu (Ed.): The Image of the Turk in Europe from the Declaration of the Republic in 1923 to the 1990s. Proceedings of the Workshop Held on 5-6 March 1999, CECES, Boğaziçi University. Istanbul (İsis Press) 2000, S. 205-220. Websites der Autoren: Şinasi Dikmen, Osman Engin

8 Im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (herausgegeben von Heinz-Ludwig Arnold) findet sich ein ausführlicher Werkartikel zu Feridun Zaimoğlu (86. Nlg. 06/07, S. 1-20, A-M)

9 Vgl. dazu Leslie A. Adelson: Against Between: A Manifesto. In: Dadi, Iftikhar / Hassan, Salah (Hrsg.): Unpacking Europe. Towards a Critical Reading. Rotterdam 2001, S. 244-255. Deutsche gekürzte Fassung in: Heinz-Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik, Heft IX/06 (Literatur und Migration), S. 36-47.

10 Eine neuere Studie zum Autor erschien 2003: Tom Cheesman/ Karin E. Yeşilada  (Hrsg.): Zafer Şenocak. Autorenband in der Reihe Contemporary German Writers. Cardiff (University of Wales Press) 2003.

11 Yüksel Pazarkaya: Literatur ist Literatur. In: Irmgard Ackermann / Harald Weinrich (Hrsg.): Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der Ausländerliteratur. München / Zürich (Piper) 1986, S. 59-65. Maßgeblich wurde Pazarkayas inzwischen zwar etwas veraltete, aber immer noch lesenswerte Einführung:
Rosen im Frost. Einblicke in die türkische Kultur. Zürich (Unionsverlag) 1982, 19892.

12 Yüksel Pazarkaya: "Gastarbeiter" in der Literatur: "Ohne die Deutschen wäre Deutschland nicht übel...". In: Rosen im Frost, 1982, S. 195-209; Türkiye, Mutterland – Almanya, Bitterland... Das Phänomen der türkischen Migration als Thema der Literatur. In: LiLi (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik) 56/1984, S. 101-124; Stimmen des Zorns und der Einsamkeit in Bitterland. Wie die Bundesrepublik Deutschland zum Thema der neuen türkischen Literatur wurde. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 1/1985, S. 16-27; Zwei Länder im Herzen. Türkische, deutsche oder deutsch-türkische Kultur? Die vitalen Künstler der MigrantInnenszene ignorieren Grenzen. In: Zeitpunkte (Die Zeit) Heft 2/1999, S. 76-81; Generationenwechsel – Themenwandel. In: Manfred Durzak / Nilüfer Kuruyazıcı (Hrsg.): Die andere Deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2004, S. 148-153.

13 Siehe dazu meinen Artikel: Topographien im "tropischen Deutschland" – Türkisch-deutsche Literatur nach der Wiedervereinigung. In: Beitter, Ursula E. (Hrsg.): Literatur und Identität. Deutsch-deutsche Befindlichkeiten und die multikulturelle Gesellschaft. New York (Peter Lang) 2000, S. 303-339. (Bd. 3 in der Reihe: Loyola College in Maryland Berlin Seminar: Contemporary German Literature and Society); sowie Tom Cheesman: Novels of Turkish German Settlement. Cosmopolite Fictions. Rochester, NY (Camden House) 2007.

14 Dieses literarische Phänomen bezeichne ich in Anlehnung an Edward Saids Orientalismus-Theorie als Suleikalismus. Vgl. meinen Artikel: Die geschundene Suleika - Das Bild der Türkin in der deutschsprachigen Literatur türkischer Autorinnen. In: Mary Howard (Hrsg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München 1997, S. 95-114. Ebenfalls in: Materialien Deutsch als Fremdsprache, H.46 / 1997, S. 384-401.

15 Vgl. Arbeitstexte für den Unterricht. Migrantenliteratur. Für die Sekundarstufe herausgegeben von Peter Müller und Jasmin Cicek. Stuttgart (Philipp Reclam Jr.) 2007. (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 15059)

 

   

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Karin E. Yeşilada promovierte über die deutsch-türkische Migrationslyrik der zweiten Generation. Sie ist zur Zeit Lehrbeauftragte an der Universität München und arbeitet als freie Publizistin und Literaturkritikerin für "Funkhaus Europa – Cosmo".