Junge SchriftstellerInnen der Türkei im neuen Millenium

Galata Bridge

von Cem Erciyes

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Hat das neue Millennium eine neue Epoche in der türkischen Literatur eingeleitet? Es ist schwer, dies einzuschätzen, so lange wir uns noch in dieser Phase befinden. Eines ist jedoch sicher: Gegenwärtig präsentiert sich eine neue Generation von SchriftstellerInnen in der Türkei. Die letzten acht Jahre kennzeichnen einen Zeitabschnitt, in dem sich zahlreiche AutorInnen, die in den 90er Jahren ihre Erstlingswerke veröffentlicht hatten, als gute SchriftstellerInnen erwiesen haben. Während die Lese- und Schreibgewohnheiten sich unumkehrbaren änderten, entstand während dieser Veränderungen in Abgrenzung zu früheren Epochen der türkischen Literatur ein neuer Zeitgeist in der Literaturszene.

Während die literarischen Urgesteine des volksnahen sozialen Realismus in den 90er und den 2000er Jahren ihren Einfluss fast gänzlich einbüßten, begann ein Zeitabschnitt, in dem nicht mehr von literarischen Strömungen oder Gruppen, sondern nur noch von einzelnen SchriftstellerInnen die Rede sein kann. Gegenwärtig fokussiert sich das Interesse der LeserInnen in der Türkei insbesondere auf die Gattung des Romans. Während Novellen und Lyrik innerhalb der literarischen Welt geschrieben und gelesen wurden und sich auf diese Weise entwickelten, hat der Roman die Literatur breiten Leserschichten zugänglich gemacht und ihre Popularität damit erhöht.

Ich will hier über die Charakteristika schreiben, die die Literatur der 2000er prägen und im Folgenden sechs AutorInnen vorstellen, die in den letzten Jahren besonders aufgefallen sind und der Generation der unter 40-Jährigen angehören.

Politische Tendenzen existieren nicht mehr

Die erste und wichtigste Aussage über die türkischen SchriftstellerInnen in den 2000ern ist, dass sie, im Unterschied zu den früheren Generationen, die ab den 40er Jahren dekadenweise literarische Grundströmungen gebildet hatten, sich nicht mehr über eine bestimmte politische Haltung definieren. In den letzten Jahren herrscht nicht mehr die geistige Atmosphäre, die noch die aufklärerische Haltung der Republikgründer der 30er Jahre, das gesellschaftliche Engagement der 40er und 50er, oder den sozialistischen Realismus der 70er geprägt hatten.

Ahmet Oktay, einer der einflussreichsten Intellektuellen der Türkei, bemerkt hierzu, im neuen Millennium seien „die Ideologien, die die Literatur der republikanischen Epoche beeinflussten, indem sie den Subtext, die tiefere Bedeutungsebene und geistige Textstruktur durchdrangen,“ einer individuellen Haltung gewichen, die Literatur fern jeder ideologischen Einflussnahme von Gruppen oder Strömungen produziere.

Die Welt der türkischen Intellektuellen wurde durch den Militärputsch 1980 schwer erschüttert und einem immensen Druck ausgesetzt. Im Zuge der weltweiten politischen Umwälzungen, die darauf folgten, vereinsamten sie in den 90er Jahren. Die wichtigen SchriftstellerInnen aus den Jahren vor 1980 konnten in einer Gesellschaft, in der die anti-demokratischen Praktiken fortgesetzt wurden und die kurdischen und islamischen Politisierungen überwogen, ihre politischen Identitäten, wenn auch mit Mühe, bewahren. Doch eine neue SchriftstellerInnengruppe, die in diesem Prozess heranwuchs, hat sich eher über ihre bürgerliche Identität definiert und begonnen, ihre Identität und die Formen ihres literarischen Ausdrucks in den kritischen Bahnen der Postmoderne zu suchen.

Bei der Mehrheit der SchriftstellerInnen, die ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre auf der literarischen Bühne hervortraten und auch von den LeserInnen honoriert wurden, sind die Spuren einer Abrechnung mit den intellektuellen und sozialen Zwängen des Modernismus und damit der Geschichte der Republik erkennbar. Während die Vergangenheit zu einem bevorzugten Thema wurde, wurden in der Sprache und den Erzählweisen neue Tendenzen sichtbar.

Vielleicht haben sich die türkischen SchriftstellerInnen von den gesellschaftlichen Problemen und der Politik nicht gänzlich abgewandt, doch traten die individuellen Probleme, die Vereinsamung im städtischen Leben oder das Aufbegehren des Einzelnen mehr in den Vordergrund.

Ob es nun Liebesgeschichten sind, die Familiensaga oder politische Romane, die Novellen und Romane, in denen der Versuch unternommen wird, die eigene Identität und die Auseinandersetzungen der Helden mit sich selbst zum Ausdruck zu bringen, überwiegen, sowohl was die Zahl der Werke als auch die Präferenzen der LeserInnenschaft betrifft.

Romanrekord in der Geschichte der Türkischen Republik

Inzwischen hatte sich auch die LeserInnenschaft in der Türkei gewandelt. In den 2000er Jahren wurde die Türkei von einer heftigen Wirtschaftskrise erschüttert. Doch hatte sich die Zahl der LeserInnen merklich vergrößert und als sich ein Nachlassen der Krise bemerkbar machte, wurden auf dem Büchermarkt der Türkei wichtige Veränderungen sichtbar. Der Umsatz an Büchern stieg, die Vielfalt nahm zu. Während in den 90er Jahren in der Türkei 15.000 verschiedene Bücher (einschließlich Unterrichtsbücher) veröffentlicht wurden, publizierte man in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre bereits 30.000 Bücher. Gleichzeitig stiegen die Auflagen. Auflagen wie 50.000 oder 100.000 waren keine Phantasiezahlen mehr.

SchriftstellerInnen wie Ahmet Altan, Orhan Pamuk, Elif Şafak, Ayşe Kulin, Murathan Mungan wurden zu wahren Stars, die von den Medien stark beachtet wurden. Im Gegensatz zum früheren Typus des „leidenden und darbenden Schriftstellers“ konnten sie ihren Lebensunterhalt mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit bestreiten und erreichten ein intellektuelles Profil, das ihnen allseitigen Respekt einbrachte. Dies hatte Auswirkungen auf andere SchriftstellerInnen und auf diejenigen, die sich literarisch betätigen wollten.

So wurde das Jahr 2004 zu dem Jahr in der Geschichte der Republik, in dem die meisten Romane geschrieben wurden. Am Ende jenes Jahres hatte der Kritiker und Forscher A. Ömer Türkeş in der Literaturbeilage der Zeitung Radikal darauf hingewiesen, dass 274 neue Romane veröffentlicht worden sind. Diese Zahl stieg im darauf folgenden Jahr auf 284 und in 2006 auf 349. Bemerkenswert war auch, dass ein beachtlicher Teil dieser Bücher Erstlingswerke waren (2006 waren 174 der publizierten 349 Romane Erstlingswerke).

MigrantInnen, die keine Migrantenliteratur schreiben

In den 2000er Jahren, deren Ende nunmehr naht, hat die Aktivität der Generation der SchriftstellerInnen, die in den 90er Jahren auf die literarische Bühne getreten war, zugenommen. Die literarische Produktion blieb nicht mehr auf Istanbul konzentriert, sie begann allmählich über Istanbul hinaus zu greifen. Wir haben angefangen, Geschichten über unterschiedliche Regionen und Städte Anatoliens zu lesen, ebenso wie Arbeiten, die universelle Themen in recht unterschiedlichen Gegenden des Landes verorten,. Die SchriftstellerInnen der Türkei begannen Romane zu verfassen, die thematisch İstanbul verließen und in Anatolien spielten, als auch Erzählungen, die sich in anderen Ländern begaben. Besonders die SchriftstellerInnen, in deren persönlichem Leben fremde Länder eine wichtige Rolle gespielt hatten, haben in ihre Erzählungen Figuren aufgenommen, deren Beweggründe durch die Globalisierung beeinflusst werden.

So zum Beispiel spielen die drei letzten Bücher von Elif Şafak, die eine Zeit lang in den USA gelebt hatte, „Araf“ (Deutscher Titel: Die Heilige des nahenden Irrsinns), „Baba ve Piç“ (Deutscher Titel: "Der Bastard von Istanbul") und „Siyah Süt“ (dt. „Schwarze Milch“)) entweder in Gänze oder aber teilweise in den USA. „Kinyas ve Kayra“ (dt. „Kinyas und Kayra“) von Hakan Günday liest sich beispielsweise wie ein Reiseroman und in fast allen Romanen von Oya Baydar, die lange Jahre in Deutschland gelebt hat, kommt wiederholt Europa als ein Ort der Verbannung vor.

Man könnte behaupten, dass sowohl die Istanbuler SchriftstellerInnen, die in den Westen gingen, soe wie die anatolischen SchriftstellerInnen, die nach Istanbul gezogen sind, MigrantInnen sind. Dennoch ist es nicht so einfach, in der türkischen Gegenwartsliteratur die Spuren der Migration aufzuzeigen. Seit den 50er Jahren gehört die Migration in die urbanen Zentren zu den wichtigsten Faktoren für den sozialen Wandel in der Türkei.

Die sozialen Umwälzungen und Auseinandersetzungen, die mit der Migration verbunden sind, wurden von den nachfolgenden sozialistischen SchriftstellerInnen in zahlreichen Varianten thematisiert. In den 1980er Jahren begann die Migration die Sozialstruktur der Städte zu verändern. Die Ränder der Städte waren keine Slums mehr, sie wurden zu dicht bevölkerten Lebensräumen. Der sich in diesen Lebensräumen herausbildende Konservatismus ist wichtig für das Verständnis der Veränderungen in der türkischen Politik und die Erklärung des Erfolges konservativer Parteien wie der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP).

Man kann nicht behaupten, dass die türkische Mainstreamliteratur diesen Wandel ausreichend verarbeitet hätte. Die Peripherien der urbanen Zentren und die Migration, die sie hervorgebracht haben, zählen nicht zu den bevorzugten Themen der jungen AutorInnen. Vielleicht werden wir diese Fragen in nächster Zeit in den Romanen, die von islamischen Kreisen geschrieben und gelesen werden, expliziter und intensiver bearbeitet sehen.

Die türkischen SchriftstellerInnen in Deutschland

Wenn der Begriff „Migration“ in der Türkei in erster Linie die Binnenwanderung in die urbanen Zentren beschreibt, so erhält sie ihre zweite Bedeutung durch die Auswanderung nach Deutschland. Die politischen MigrantInnen beeinflussten insbesondere in den 1980er Jahren die Literatur. Demir Özlü, Nedim Gürsel, Ataol Behramoğlu, Nihat Behram, Oya Baydar und Mehmet Uzun haben ihre Erfahrungen als freiwillige oder unfreiwillige MigrantInnen in ihre Arbeiten aufgenommen. Fakir Baykurt, der durch seine Dorfromane bekannt geworden war, gehörte zu den besten Verfassern einer Literatur über die Arbeiterklasse in Deutschland. Alle diese AutorInnen haben als in der Türkei sozialisierte LiteratInnen Erzählungen über Deutschland geschrieben.

Doch wir können nicht festsstellen, dass die SchriftstellerInnen, die in Deutschland aufgewachsen sind, einen entsprechenden Platz in der türkischen Gegenwartsliteratur eingenommen haben. Emine Sevgi Özdamar ist eine Schriftstellerin, die in der literarischen Welt bekannt ist, obschon sie nicht viel gelesen wird. Das gilt auch für Zafer Şenocak, Habib Bektaş, Akif Pirinçci und es sieht ganz so aus, dass Menekşe Toprak, die eine viel beachtete Kurzgeschichtensammlung herausgegeben hat, auch zu den Genannten stoßen wird. Auch konnte der in Deutschland populäre Feridun Zaimoğlu in der Türkei kaum das Interesse der LeserInnen oder der LiteratInnen auf sich ziehen.

Meines Erachtens ist Zaimoğlu ein gutes Beispiel für das Ansehen der türkischstämmigen SchriftstellerInnen in Deutschland. Durch seine Arbeiten, die das Thema der Migration und die damit zusammenhängenden Probleme in Deutschland beleuchten, stößt Zaimoglu sowohl auf das Interesse der deutschen wie der türkischen LeserInnen in Deutschland. Doch dieses Thema ist in der Türkei, wo fast jeder einen Angehörigen in Deutschland hat, von weitaus geringerem Interesse als allgemein unterstellt wird. Aus diesem Grunde bleiben die Themen der deutsch-türkischen SchriftstellerInnen in der Türkei unbeachtet. Zaimoğlu war zudem aufgrund der schwierig ins Türkische umzusetzenden Stilistik seiner Werke für die LeserInnen in der Türkei nicht von besonderer Attraktivität. Dies erklärt vielleicht das Desinteresse der türkischen LeserInnen für die zahlreichen jungen SchriftstellerInnen in Deutschland.

Nun möchte ich mich sechs SchriftstellerInnen in der Türkei widmen, die in den letzten Jahren besonders aufgefallen sind und sowohl bei LiteratInnen als auch bei der Leserschaft große Beachtung gefunden haben.

Das bescheidene Lächeln von Tuna Kiremitçi

Tuna Kiremitçi gehört zu den interessantesten SchriftstellerInnen der 2000er Jahre. Als seine beiden ersten Romane in 2002 und 2003 erschienen, riefen sie ein so lebhaftes Interesse hervor, dass er in kürzester Zeit zu einem Phänomen wurde. Sein Roman, „Git Kendini Çok Sevdirmeden” (dt. „Geh fort, bevor ich dich lieb gewinne”) wurde zu einem Bestseller, kurz nachdem er in aller Stille vom Verlag veröffentlicht wurde. Die LeserInnen hatten die schmucklosen doch einprägsamen Sätze über die Einsamkeit und die Liebe dieses gutaussehenden und bescheidenen Schriftstellers sehr gemocht, der eine Zeit lang bei einer populären Musikgruppe mitspielte und dann als Werbefachmann arbeitete. Auch die literarische Welt, die sich daraufhin auf den Roman dieses Schriftstellers aufmerksam wurde, akzeptierte ihn schließlich auch.

Der Kritiker Ömer Türkeş bemerkte zum 2003 erschienenen Roman „Bu İşte Bir Yalnızlık Var“ (dt. „Es ist eine einsame Sache“), dass „Tuna Kiremitçi sehr erfolgreich die Traumata, die durch das Fehlen von menschlichen Beziehungen hervorgerufen werden, die Grenzen der Liebe und ihres unabwendbaren Endes zum Ausdruck bringt.“ Er sei in der Lage, „Gefühlszustände, an denen alle teilhaben können, mit einfachen Sätzen und treffenden Details zu erfassen.“

Tuna Kiremitçi beschreibt in seinem ersten Roman „Git Kendini Çok Sevdirmeden“ mit einem parallel erzählten Handlungsverlauf die Jugendjahre seines Helden Arda, in denen dieser das Leben kennenlernt, wie auch dessen Erwachsenenjahre, in denen er das Leben hinterfragt. In seinem zweiten Roman „Bu İşte Bir Yalnızlık Var“ erzählt er erneut die Geschichte eines einsamen, arbeitslosen Menschen, dieses Mal eines Musikers in den Vierzigern. In diesem Roman fällt auf, dass trotz der melancholischen Grundstimmung die Charaktere mit einem Optimismus ausstattet sind, der sie die Mühsal ihres Lebens aushalten läßt.

Nach diesen sehr erfolgreichen Romanen hat Tuna Kiremitçi seine Bücher „Yolda Üç Kişi“ (dt. „Drei Personen auf dem Weg“), „Aşk Neyin Kısaltması“ (dt. „Wovon ist Liebe die Abkürzung“) und „Dualar Kalıcıdır“ (dt. „Gebete sind für die Ewigkeit“) veröffentlicht.

Die Attraktivität des Nihilismus, Hakan Günday

Ein anderer Schriftsteller, der in den 2000ern die Aufmerksamkeit auf sich zog, ist Hakan Günday. Günday, der seinen ersten Roman “Kinyas ve Kayra” (dt. „Kinyas und Kayra”) als 24jähriger im Jahre 2000 veröffentlichte, hat seine Leserschaft, die junge Generation der 2000er, besonders beeinflusst. Der Nihilismus, die Unbekümmertheit, die Regellosigkeit, die Gewalt und das Abenteurertum in „Kinyas ve Kayra“ fand bei der Jugend jener Zeit überwältigenden Anklang.

In seinen anderen beiden Romanen „Zargana“ und „Piç“ (dt. „Bastard“), die er in den folgenden Jahren publizierte, verfolgt Hakan Günday diese Spur weiter. Bemerkenswert ist die Beschreibung der sonderbaren Lebensweisen seiner Charaktere wie auch die Lebensweisheit seiner Geschichten. Die Charaktere von Günday sind unbekümmerte Jugendliche, die Tragödien durchleben. Sie sind Kinder aus reichen Familien, die ihre Familien bestrafen oder hinter ihrer unbekannten Vergangenheit hinterher laufen. Stets handelt es sich um Personen, die dem Alkohol, den Drogen, den Frauen, der Gewalt in einem Maße verfallen sind, als wollten sie sich selbst und die Welt bestrafen. Günday hat wie kein anderer in seinen Büchern die Art einer Generation, die Welt wahrzunehmen, literarisch verarbeitet und aus diesem Grunde gehört er zu den beachtenswerten SchriftstellerInnen dieses Jahrzehnts.

Die Königin der 2000er, Elif Şafak

Natürlich gehört auch Elif Şafak zu den bekanntesten AutorInnen, die die türkische Literatur in den 2000er Jahren hervorgebracht hat. Sie hat es einerseits geschafft, eine viel gelesene Schriftstellerin zu sein, die auch in den literarischen Kreisen beachtet wird, und andererseits auch im Ausland einen Namen zu machen. Elif Şafak ist, seit Halide Edip Adıvar, die erste türkische Schriftstellerin, die einige ihrer viel gelesenen Romane auf Englisch geschrieben hat.

Im Grunde trat Elif Şafak am Ende der 1990er Jahre in den Vordergrund. Ihr erster Roman „Pinhan“ erschien 1998. Damals war vor allem auffallend, dass diese junge Frau einen Roman geschrieben hatte, der sein Thema im Sufismus der osmanischen Zeit fand und dessen Sprache und Handlungsablauf zwischen zwei verschiedenen Epochen wechselte. Ihr in 2000 veöffentlichte Beststeller „Mahrem“ (Englischer Titel: The Gaze, dt. „Intim“) zählt immer noch zu ihren besten Romanen, mit dem sie sich einen festen Platz in der literarischen Welt eroberte.

Nach diesem „sonderbaren“ Roman, in dem die Autorin das Problem des Sehens und des Gesehenwerdens anhand der Geschichte einer Frau mit großer Leibesfülle im Istanbul des 19. Jahrhunderts aufgreift, die durch die Blicke der Menschen irritiert wird, schrieb sie einen weiteren Roman auf Türkisch mit dem Titel “Bit Palas” (Deutscher Titel: Der Bonbonpalast).

Danach ging Elif Şafak für einige Jahre in die USA, wo sie ihre beiden englischsprachigen Romane „Araf”(Deutscher Titel: Die Heilige des nahenden Irrsinns) und „Baba ve Piç” (Deutscher Titel: Der Bastard von Istanbul) veröffentlichte. „Baba ve Piç”, der die parallelen Geschichten zweier Familien in zwei verschiedenen Ländern erzählt, fokussiert auf die Frage, wie eine starke Frau im gesellschaftlichen Leben bestehen kann. Bei den beiden Familien, deren Wege sich in dieser Erzählung kreuzen, handelt es sich um eine türkische und eine armenische Familie. Die Abschnitte in dem Buch über den Völkermord an den Armeniern und die liberale Haltung der Autorin dazu bescherrten Elif Şafak eine Anklage aufgrund des Paragraphen 301 des Strafgesetzbuches, der die "Beleidigung des Türkentums" unter Strafe stellt. Zum Glück kam es nicht zu einer Verurteilung der international renommierten Schriftstellerin und Elif Şafak erhielt einen Freispruch. Ihr Buch wurde zu den meist gelesenen Büchern des Jahres 2006.

Heute zählt Elif Şafak zu den SchriftstellerInnen der Türkei mit dem größten internationalen Renommée. Ihre Auseinandersetzung mit sensiblen Themen, die die türkische Identität betreffen, zeichnen sie als eine tief in der türkischen Kultur verankerten Autorin mit einer äußerst kosmopolitischen Orientierung aus.So gehört sie heute zum festen Bestandteil der türkischen Literatur und des intellektuellen Lebens des Landes.

Ein Rachegedicht: Murat Uyurkulak

Der erste Roman von Murat Uyurkulak, „Tol“ (Deutscher Titel: Zorn) erschienen in 2002 hat sowohl mit seiner lyrischen Erzählweise wie auch seinem schonungslosen politischen Inhalt die Bewunderung der LeserInnen gewonnen. Zu diesem Zeitpunkt war der Autor und Journalist Murat Uyurkulak erst 30 Jahre alt und zahlreiche LeserInnen waren sich sicher, seit langer Zeit nichts Vergleichbares gelesen zu haben.

Der Roman, der den Untertitel „Ein Roman der Rache“, was die kurdische Bedeutung von „Tol“ aufgreift, trägt, erählt von einem jungen Lektor, der mit einem älteren Lyriker von Istanbul nach Diyarbakir reist. Während dieser Reise trinkt er ständig und lässt in seinem Rausch die jüngere Geschichte der Türkei, die für mehrere Generationen bitter war, Revue passieren. Der Roman spielt in jener Zeit, in der Morde, Folter und jede Art von Unbarmherzigkeit auf der Tagesordnung waren. Er erzählt von Menschen, die daran zerbrachen, von Menschen, die einst an die Revolution glaubten und deren Seelen tief verwundet wurden.

Der Roman voller Bitterkeit und Ironie ist gleich nach der Veröffentlichung auf großes Interesse gestoßen und wurde wenige Jahre nach dar Veröffentlichung auch ins die Deutsche übersetzt. Yıldırım Türker bezeichnete ihn als einen starken Roman, der "spürbar macht, dass alles zerschlagen werden kann und uns die Erotik des Seins und des Schaffens erahnen lässt".

Vier Jahre nach „Tol“ erschien 2006 „Har“ mit dem Untertitel „Ein Roman des jüngsten Gerichts“. Dieses Werk, das in einem recht fantastischen Stil eine Geschichte zwischen Diesseits und Jenseits erzählt, war, wie das erste Werk des Autors, ein Roman über die Türkei, über die Verlierer, über diejenigen, die zu Verlierern gemacht wurden. Murat Uyurkulak ist ein Autor, der die Leiden der Generationen, die soziale Kämpfe geführt haben, nachempfindet, und in gewissem Sinne auf sich vereinigt. Er hat bereits in seinem ersten Roman seine eigene Sprache gefunden und sich seinen Platz auf der literarischen Bühne der 2000er gesichert.

Bewahre deine Wut nicht für dich selber auf! Perihan Mağden

Obschon die ersten beiden Bücher von Perihan Mağden, die als Kolumnistin der Zeitung Radikal bekannt ist, in den 1990er Jahren publiziert wurden, wurde sie erst mit der Veröffentlichung ihrer letzten beiden Romane in den 2000er Jahren als Schriftstellerin anerkannt. Als Perihan Mağden ihre journalistische Tätigkeit aufnahm, hatte sie bereits zwei Romane, „Haberci Çocuk Cinayetleri” (Deutscher Titel: Botenkindermorde) und “Refakatçi” (dt. „Der Begleiter“) vorgelegt. Ab 1998 stand sie aufgrund ihrer Kommentare in der Radikal in kürzester Zeit im Brennpunkt des öffentlichen Interesses.

Mağden benutzte in ihren Artikeln eine von ihr kreierte Sprache, in der sie sich nicht davor scheute, subjektiv zu sein und freimütig ihre Vorlieben und Abneigungen offenzulegen, oder tagesaktuelle politische Themen und die populäre Kultur in der selben Tonart zu diskutieren. Sie ist eine Kommentatorin, die die Schreibweise der Wörter verändert, um die eigene Betonung zu unterstreichen und zahlreiche Fremdwörter und Metaphern einsetzt.

Nach 2002 veröffentlichte sie den Roman „İki Genç Kızın Romanı“ (Deutscher Titel: Zwei Mädchen: Istanbul-Story), der später auch verfilmt wurde. 2007 erschien „Biz Kimden Kaçıyorduk Anne“ (dt. „Vor wem flüchten wir, Mutter?“). Beide Romane erzielten gute Absatzzahlen und wurden viel besprochen. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche. Genauso wie in ihre gern gelesene Kolumne drückt die Autorin auch in ihren Büchern ihre Wut aus. Ihre Heldinnen sind kluge und starke Charaktere, die eine distanzierte Sicht auf die Regeln, Menschen und Beziehungen des alltäglichen Lebens haben.

In ihrem ersten Roman bildet eine feste Freundschaft, in ihrem zweiten eine Mutter-Tochter-Beziehung den Ausgangspunkt. Beide typisierten Frauenfiguren, die eine stark und schützend, die andere schön und hilflos, erfahren sich und ihre gegenseitige Bindung durch das gemeinsam Erlebte. In ihren Romanen richtet Perihan Mağden ihre unbarmherzige Kritik gegen die prinzipienlosen Lebensläufe, gegen die lieblosen Menschen und Beziehungen. Die schmucklosen, leicht lesbaren Romane sind geprägt durch eine Sprache, die sie als Kolumnistin kreiert hat. Mağden wandelt das Gefühl der Wut und der Rebellion, das die Texte durchzieht, in eine Geschichte der persönlichen Flucht oder Rache um.

Eine 68erin, die die heutige Zeit schildert, Oya Baydar

Oya Baydar ist eine Schriftstellerin, die ihr Leben als aktive Revolutionärin in den 60er und 70er Jahren nach dem Militärputsch in der Türkei mit ihrer Flucht nach Deutschland beenden musste. Baydar, die zusammen mit ihrem Mann, den Journalisten Aydin Engin, lange Jahre in Deutschland gelebt hat, rechnet in ihrem Roman “Elvada Alyoşa“ (dt. „Adieu Alyosha“), den sie nach dem Fall der Berliner Mauer schrieb, mit der Vergangenheit ab. Sie kehrt mit diesem Roman nach einer langen Unterbrechung in die literarische Tätigkeit zurück, die sie in jungen Jahren als Gymnasiastin mit interessanten Romanen begonnen hatte.

Bekannt ist sie als Autorin, die politische Themen verarbeitet und Menschen darstellt, deren Leben von den politischen Stürmen durcheinander gewirbelt wurden. Im Unterschied zu anderen politischen Romanen, handeln ihre Werkevon Lebensläufen, die sich überkreuzen, von Menschen aus wohlhabenden Schichten, die Intellektuellen und Aktivisten aus ärmeren Schichten begegnen, und analysieren die Knotenpunkte dieser Beziehungen. Ihre Themen sind die Kurdenfrage, die Hungerstreiks oder der Mangel an Menschlichkeit in den revolutionären Milieus, die heute noch in den Randbezirken der Großstädte anzutreffen sind. Diese Romane haben auch eine psychologische Dimension, die die den Menschen auferlegte Last der Geschichte deutlich macht.

Oya Baydar erhielt große Anerkennung für ihre beiden thematisch verwandten Romane „Sıcak Külleri Kaldı“ (dt. „Übrig blieb heisse Asche“) und „Erguvan Kapısı“ (dt. „Das Judasbaumtor“). In ihrem nächsten Roman „Kayıp Söz“ (Deutscher Titel: Verlorene Worte) erzählt sie das Leben eines Ehepaares, eines Schriftstellers und einer Wissenschaftlerin, die in ihrer Jugend Revolutionäre waren, sich später jedoch in ihre Karrieren verloren und in gewissem Sinne sich selbst und auch ihrem Sohn fremd geworden sind.

Die türkische Literatur birgt noch viele Schätze

Kiremitçi, Günday, Şafak, Uyurkulak, Mağden, Baydar sind die AutorInnen, die in den 2000er Jahren viel gelesen und diskutiert wurden. Sie zeigen wie vielfältig die Erzählweisen dieser Phase sind. Sie weisen keine gemeinsamen Themen oder Stile auf, es gibt lediglich Berührungspunkte wie das Verständnis von Bürgerlichkeit und Individualismus.

Ich habe hier nur über Romane geschrieben, doch werden in der Türkei auch zahlreiche Kurzgeschichten publiziert, auch wenn sie nicht in dem Maße gelesen werden wie die Romane. Die Kurzgeschichte besitzt im Grunde eine Lebendigkeit, in der SchriftstellerInnen ihre literarischen Selbstreflexionen austragen und in der ihre letztendliche Erzählform heranreift. Zahlreiche „gute SchriftstellerInnen“ publizieren daher auch Kurzgeschichten. Hier muss eine Gruppe von türkischen SchriftstellerInnen der neuen Generation erwähnt werden, auch wenn sie nicht sehr populär sind. Sema Kaygusuz, Hamdi Koç, Sezgin Kaymaz, Mine Söğüt, Murat Gülsoy, Ayfer Tunç, Yekta Kopan, Hatice Meryem, Müge İplikçi, Ayşegül Devecioğlu, Özen Yula, Şebnem İşigüzel, Nalan Barbarosoğlu, Başar Başarır, Jale Sancak, Onur Caymaz, Sibel K. Türker, Faruk Duman. Für einen großen Teil dieser SchriftstellerInnen gilt: Es ist nicht sehr leicht, sie auf Deutsch zu lesen.

In den letzten Jahren werden die türkischen SchriftstellerInnen mehr als je zuvor in andere Sprachen übersetzt. Mit dem Anwachsen des Interesses an der Türkei steigt auch das Interesse für die türkische Literatur. Dieses Interesse wird auch durch den wachsenden Bekanntheitsgrad von Orhan Pamuk, der gewissermaßen alle wichtigen Preise, einschließlich des Nobelpreises, erhalten hat, gefördert. Sehr zur Förderung dieses Interesses trägt auch bei, dass die Türkei auf der diesjährigen internationalen Buchmesse in Frankfurt Gastland ist.

Die Reihe „Türkische Literatur“, deren Erscheinen vor vier Jahren mit der Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung im Unionsverlag begann, war ein erster großer Schritt. Es folgte das Programm zur Unterstützung der Übersetzungstätigkeit (TEDA), das durch die türkische Regierung initiiert wurde. Mit Hilfe dieses Programms wurde die Übersetzung von mehr als hundert Büchern in Angriff genommen, viele davon wurden publiziert. Wenn wir uns jedoch daran erinnern, dass in der Türkei jährlich über 300 Romane veröffentlicht werden, so merken wir, dass den deutschen LeserInnen immer noch lediglich eine sehr kleine Auswahl von Buchtiteln zugängig ist, um die türkische Literatur des letzten Jahrhunderts wirklich kennenlernen zu können. Hoffen wir dennoch, dass die Frankfurter Buchmesse und die Bücher, die bis heute übersetzt worden sind, einen wichtigen Beginn markieren und wir mit der Zeit alle SchriftstellerInnen und Bücher, die wir hier erwähnt haben, mit den deutschen LeserInnen teilen können.

 

Übersetzung: Dr. Ali Söylemezoğlu
Bearbeitung: Sibel Kara und Olga Drossou

 

 

 

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Cem Erciyes ist Redakteur der Kulturbeilage der türkischen Tageszeitung "Radikal" und lebt in Istanbul.