Bremen: Von "Multikulti" zum lokalen Bildungsbüro - Möglichkeiten für eine neue Diversitätspolitik im Quartier

Bremen

von Lutz Liffers

In diesem kurzen Beitrag wird nur eine von vielen Entwicklungslinien bremischer Diversitätspolitik skizziert. Der Beitrag versteht sich nicht als Überblick über Prozesse, Strategien und Aktivitäten in Bremen, sondern er konzentriert sich auf die besondere Bedeutung von integrierten territorialen Ansätzen, die neben der Einbindung der Felder Soziales und Kultur auch Wirtschaft, Stadtentwicklung und das formale Bildungssystem einbeziehen. Ein solcher auf konkrete städtische Teilräume bezogener Ansatz ermöglicht neue strategische Handlungskorridore. Dies gilt insbesondere für Großstädte, die wie Bremen mit der zunehmenden räumlichen Polarisierung von „Arm“ und „Reich“, bzw. von In- und Exklusion zu tun haben.  

„Multikulti ist absolut gescheitert“
Als Angela Merkel 2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union davon sprach, dass „Multikulti absolut gescheitert“ sei, war die Empörung groß. Gefürchtet wurde eine neuerliche „Leitkultur-Debatte“ und ein Rollback im Migrationsdiskurs. Die aufgeregt geführte Debatte täuschte aber darüber hinweg, dass der Begriff der "multikulturellen Gesellschaft“ weder theoretisch, noch normativ oder operativ hilfreich ist, eine moderne Diversitätspolitik zu begründen. „Multikulturalismus“ verstanden als gesellschaftspolitische Idee des toleranten Neben- oder Miteinanders verschiedener "Kulturen" – im Abgrenzung zu einer auf Assimilation begründeten "Leitkultur" – wurde seit den 1980er Jahren zur leitenden Denkfigur des liberalen und linken Migrationsdiskurses. Hinter dem Stichwort „Multikulturalismus“ verbarg sich allerdings eine große, teils widersprüchliche Spannbreite von Denkansätzen und Konzepten, die nur eins verband: Das Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“ war als diskursiver Angriff auf das Konzept der „deutschen Leitkultur“ gemeint. Aber die unter dem Begriff geführte Diskussion führte auch zu einer Kulturalisierung des Migrationsdiskurses, die bis heute nachwirkt. Die Fragen des Aufenthaltsstatus, der Arbeitsbedingungen, der sozialen Position von Migrant_innen etc. - also die Fragen von sozialer Ungleichheit und gesellschaftlichen Machtverhältnissen -  traten hinter dem ebenso schillernden wie diffusen Begriff des "Multikulturellen" in den Hintergrund. Die unterstellte "fremde Kultur" der Migrant_innen eröffnete den Raum für paternalistische Konzepte ebenso wie für rassistische Projektionen und reduzierte den sozialen Gehalt der Migrationserfahrung auf kulinarische oder folkloristische Elemente. Dieses Konstrukt der „fremden Kultur“ hat schließlich die Konstruktion einer homogenen eingeborenen Kultur ermöglicht – die es weder je gab noch heute gibt.

Bremens frühe Integrationspolitik
Das Konzept der "multikulturellen Gesellschaft" der späten 1980er Jahre war auch eine Reaktion auf die Veränderungen der Migration selbst: Die in den 1950er und 1960er Jahren angeworbenen Arbeitsmigrant_innen auf Zeit hatten entgegen staatlichen Planungen Familien gegründet und schickten sich an, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Gleichzeitig führten globale Flucht- und Migrationsbewegungen zu einer Internationalisierung der bundesdeutschen Gesellschaft. Als sich in den 1980er Jahren diese Entwicklung immer deutlicher abzeichnete, entstand für die Kommunen zunehmend Handlungsdruck.  Auch in Bremen wurde Ende der 1980er Jahre die sogenannte "Ausländerpolitik" der Landesregierung zunehmend wichtiger – nicht zuletzt auch angeschoben von einer äußerst vielfältigen und lebendigen Szene der außerparlamentarischen sozialen Bewegungen. 1991 schuf die "Ampelkoalition" aus SPD, FDP und den GRÜNEN das neue Ressort "Kultur und Ausländerintegration" und besetzte es mit der grünen Landespolitikerin Helga Trüpel. (Zum Vergleich: In Frankfurt/Main wurde bereits 1989 das "Amt für multikulturelle Angelegenheiten" gegründet.) 
In Bremen galten Integration und Kultur scheinbar als "weiche" Ressorts, die man den Grünen überließ, während die "harten" Politikfelder wie Wirtschaft, Finanzen, Inneres, Bildung und Soziales zwischen den etablierten Parteien aufgeteilt wurde. Dass das Trüpel-Ressort häufig als "Orchideen-Ressort" verspottet wurde, wirft ein bezeichnendes Licht auf die damalige Ignoranz gegenüber diesen Politikfeldern.

Mit dem "Orchideen-Ressort" war dennoch ein Meilenstein in der bremischen Integrationspolitik erreicht, die in den folgenden Jahren sukzessive weiterentwickelt wurde. Als eine der ersten Landesregierungen legte Bremen 2000 eine Landeskonzeption "Integration" vor, die bis zum Jahr 2012 fortgeschrieben wurde. Das Konzept war allerdings in erster Linie eine auf Erfassungsbögen basierende Auflistung unterschiedlicher Aktivitäten, wobei weder Bewertung oder Gewichtung vorgenommen wurde, noch ressortübergreifende Strategien oder kohärente Qualitätsmaßstäbe deutlich wurden. Die Landeskonzeption geriet deshalb zunehmend in die Kritik. Neben dieser methodischen Schwäche wurde das Papier aber auch kritisiert, weil es konzeptionell auf einen angenommenen "kulturellen" Unterschied zwischen "Mehrheitsgesellschaft" und Migrant_innen aufbaute und damit die Bremer_innen mit "Migrationshintergrund" als eine besondere Gruppe definierte, die es zu integrieren gelte.

Vorsichtiger Paradigmenwechsel von der Integrations- zur Diversitätspolitik
In den vergangenen Jahren jedoch zeichnete sich auf verschiedenen politischen und zivilgesellschaftlichen Ebenen ein grundlegender Wandel im Migrationsdiskurs ab. 2008 beispielsweise initiierte die Senatorin für Finanzen in Kooperation mit der Wirtschafts- und Sozialakademie der Arbeitnehmerkammer das Projekt ikö (Interkulturelle Öffnung der bremischen Verwaltung), das erstmals in großem Umfang Mitarbeiter_innen der bremischen Verwaltung im Hinblick auf Diversität qualifizierte. Später entstand aus dem gleichen Gedanken auch die Kampagne „Du bist der Schlüssel“, mit der vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund für eine Ausbildung im öffentlichen Dienst Bremens gewonnen werden sollen. Nicht zu vergessen die fast unüberschaubare Anzahl von Initiativen und Akteur_innen der Stadtgesellschaft (wie zum Beispiel das vom Paritätischen Bildungswerk und Uni Bremen getragene „forum diversity“), die alle zu einer Neuorientierung beitrugen. 

Nach der Landtagswahl im Mai 2011 wurde von der rot-grünen Landesregierung das neue Amt einer "Staatsrätin für Integration" geschaffen und damit das Arbeitsfeld deutlich aufgewertet. Auch der ehrenamtlich tätige "Bremer Rat für Integration" wurde von Seiten der Landesregierung mit einer Geschäftsstelle ausgestattet und damit ebenfalls aufgewertet und nimmt für die Entwicklung des migrationspolitischen Diskurses in Bremen zunehmend eine wichtigere Rolle ein.  

Der noch aus der alten Legislaturperiode vorliegende Entwurf für die Fortschreibung des Integrationskonzeptes wurde im Rahmen eines Expertenhearings - veranstaltet vom Bremer Rat für Integration - kritisch diskutiert. Auf dieser Grundlage entstand eine Neufassung. Dieser neue "Entwicklungsplan Partizipation und Integration" (März 2012) stellt die Weichen für einen Paradigmenwechsel in der Integrationspolitik des Landes: Vorsichtig wird abgerückt von der Vorstellung einer Mehrheitsgesellschaft, die durch Dialog und Toleranz die "Minderheit" der Migrant_innen integriere. Stattdessen wird, ausgehend von den Eckdaten des demographischen Wandels, nüchtern konsterniert, dass jetzt schon ein Drittel der Bremer Bevölkerung Migrationserfahrungen teile und der Anteil in den jüngeren Alterskohorten zunehme. "In vielen Stadtteilen ist eine klassische Differenzierung zwischen 'Aufnahmegesellschaft' und der Bevölkerungsgruppe 'Menschen mit Migrationshintergrund' kaum noch möglich", heißt es in dem Papier. "Vielmehr ist unsere Gesellschaft geprägt durch eine Herkunfts- und Erfahrungs-Vielfalt. Heterogenität, Widersprüchlichkeit, unterschiedliche Alltagskulturen und Mehrsprachigkeit sind mittlerweile elementare Bestandteile unserer urbanen Gesellschaft." (Land Bremen 2012, S. 6)

Bildungsmisere als Katalysator für eine neue Diversitätspolitik?
Ebenso bemerkenswert ist auch die vorsichtige Abkehr des Entwicklungsplans "Partizipation und Integration" von defizitorientierten Konzepten, die in der Vergangenheit zu eher paternalistischen Ansätzen führten. Stattdessen wird – besonders deutlich im Kapitel Schule - klar benannt, dass die sozialen Bedingungen Kinder zu Bildungsverlierern machen und nicht deren Migrationshintergrund.

Diese neuen Akzente sind auch der Notwendigkeit geschuldet, das Bildungssystem als Kernelement der modernen Wissensgesellschaft besser auf die Anforderungen einer diversen Gesellschaft hin auszurichten. Die Entstehung eines "institutionellen Ghettos im Bildungssystem" (Bude 2011, S.8), also "Restschulen", auf denen vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund scheitern, wird zunehmend als nicht hinnehmbares Hindernis nicht zuletzt auch für die wirtschaftliche Entwicklung begriffen. Es ist deshalb nicht zufällig, dass das Thema Migration und Bildungsgerechtigkeit so intensiv wie nie diskutiert wird. Bremen reagierte darauf u.a. mit einer Schulreform, die durch die Einführung des neuen Schultyps einer Oberschule für alle, die bis zum Abitur führen kann, gegen die soziale Segregation in den Schulen ankämpfen will und „Bildung als Bürgerrecht“ (Dahrendorf) angesichts der sozialen Verwerfungen in der Einwanderungsgesellschaft neu durchsetzen will.

Daneben bereitet das Bremer Bildungsressort einen "Entwicklungsplan Migration und Bildung" vor, der sich eng auf eine umfangreiche Studie der Universität Bremen bezieht. Als wichtige Handlungsfelder werden durchgängige Sprachförderung, Übergänge ins Studium oder ins duale System, Einbindung der Elternschaft, Qualifizierung des Personals und interkulturelle Öffnung der Schulen genannt. Für diese Handlungsfelder werden Empfehlungen und Umsetzungskonzepte entwickelt.

Unterdessen liegen mit dem ersten Bremer Bildungsbericht vom Frühjahr 2012 auch valide Daten zum Zusammenhang von Migrationserfahrung und Bildungsbenachteiligung vor. Dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger im Bildungssystem scheitern als Kinder ohne Migrationshintergrund, war kein überraschender Befund. Interessanter sind die deutlichen Zusammenhänge zur sozialen Lage bestimmter Migrantengruppen und zur sozialräumlichen Situation: Jugendliche mit Migrationshintergrund haben es besonders schwer, wenn sie in bestimmten Stadtteilen leben. Stigmatisierung des Stadtteils und seiner Bewohner_innen, soziale Entmischung in den Schulen und in anderen Bildungseinrichtungen, fehlende öffentliche Infrastruktur  und verfestigte Armutsmilieus, aber auch Ressentiments, Erwartungshaltungen und Diskriminierung verdichten sich zu einer sozialräumlichen Benachteiligung, unter der vornehmlich junge Menschen mit Migrationshintergrund leiden.

Bildung und Stadtteilentwicklung
Damit ist eine ganz neue Perspektive in der integrationspolitischen Bildungsdebatte eingenommen: Es geht um den Stadtraum (Quartier, Stadtteil), in dem Kinder, Jugendliche und Familien mit Migrationserfahrung leben und in dem die unterschiedlichsten Bildungsakteur_innen die Struktur für Bildung gestalten.
Der "Entwicklungsplan Bildung und Migration" wird zumindest ansatzweise diese sozialräumliche Perspektive einbeziehen und sozialraumorientierte Lösungsstrategien vorschlagen. Mit dem modellhaften Aufbau eines lokalen Bildungsbüros in Gröpelingen wird eine territoriale Strategie möglich. Zwar gibt es mit dem kommunalen Programm "Wohnen in Nachbarschaften", dem Bundesprogramm "Soziale Stadt - Investitionen im Quartier" oder den integrierten Stadtteilmarketings, wie sie in Gröpelingen entwickelt wurden, Vorbilder für integrierte sozialräumliche Ansätze, aber bisher war die formale Bildungsstruktur (Schule, Kita, berufliche Bildung) darin kaum einbezogen.
Mit dem lokalen Bildungsbüro in Gröpelingen wird nicht nur allen Bildungsakteur_innen eine gemeinsame Arbeitsplattform ermöglicht, sondern auch eine Verankerung in der kommunalen Verwaltungsstruktur angestrebt, damit die Initiativen vor Ort nicht ins Leere laufen.

Im Stadtteil Gröpelingen ist das lokale Bildungsbüro im Wesentlichen ein Katalysator für integrierte Ansätze zur Entwicklung eines zeitgemäßen Managing Diversity für Bildung. Die Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit hat vor diesem Hintergrund das Bildungsbüro mit der Einführung des Modellprojekts "Qualität in multikulturellen Schulen und Stadtteilen (QUIMS)" beauftragt. QUIMS_Gröpelingen verfolgt - über das Züricher Vorbild hinausgehend - eine systematisierte Zusammenarbeit auf Stadtteilebene mit allen für Bildung verantwortlichen Akteur_innen über Institutions- und Ressortgrenzen hinweg. In Gröpelingen beteiligen sich deshalb nicht nur die Schulen, sondern auch non-formale Bildungseinrichtungen wie VHS, Stadtbibliothek, Bürgerhaus Oslebshausen, Jugendeinrichtungen und die lokale Einrichtung Kultur Vor Ort e.V. Ein solcher Ansatz ist für klassische Bildungspolitik durchaus neu (und seine Implementierung entsprechend konfliktreich), weil er einen erweiterten Bildungsbegriff zugrunde legt und formale und non-formale Bildung ebenso in den Blick nimmt wie das Lernen im Lebenslauf oder auch (informelle) urbane Bildungsorte.
Neben diesem integrierten territorialen Ansatz zeichnet sich QUIMS auch durch ein neues Verständnis von Diversität aus.

Es geht nicht um die scheinbar "andere" Kultur der Migrant_innen, nicht um eine Politik für Bremer_innen mit "Migrationshintergrund", sondern um die  Veränderung der Institutionen und deren Alltagsroutinen, um diese für die "Super-Diversität" (Vertovec) im Stadtteil konzeptionell und strukturell zu qualifizieren. Um mehr Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg zu ermöglichen, sollen beispielsweise die fachlichen Kompetenzen aus der kulturellen Bildung enger mit der Arbeit der formalen Bildung in der Schule verknüpft werden. Oder es werden konzeptionelle und organisatorische Anknüpfungspunkte zwischen Erwachsenen- und Weiterbildung auf Stadtteilebene entwickelt oder Migrantenselbstorganisationen werden enger in Bildungsplanung einbezogen, um Partizipation und Bildungsbeteiligung zu erhöhen u.s.w.  

Das klingt einfach, stößt aber auf viele Schwierigkeiten. Beispielsweise sind die oft ehrenamtlich geführten Migrantenselbstorganisationen den stark strukturierten kommunalen Institutionen "unterlegen". Den Selbstorganisationen fehlt es nicht nur an zeitlichen und finanziellen Ressourcen, sondern oft auch an der notwendigen Professionalität, um hochkomplexe Steuerungs- und Verwaltungsprozesse mitgestalten zu können.Hier genügt der gute Wille der Beteiligten nicht, um die strukturelle Hierarchie zu überwinden und die Kooperationen geraten früh an Grenzen.

Aus anderen Gründen schwierig gestaltet sich auch die kohärente Zusammenarbeit zwischen non-formaler Bildung und Schule. Bei knappen öffentlichen Ressourcen wird formaler Unterricht immer noch häufig als "Kerngeschäft" und Stadtteilorientierung oder kulturelle Bildung als "Sahnehäubchen" begriffen. Das Projekt QUIMS könnte ein Beitrag sein, auch die strukturellen Konsequenzen aus einem erweiterten Bildungsbergriff zu ziehen. Wie nachhaltig und tragfähig dieser Ansatz ist, wird auch von einer langfristigen Umsteuerung von Ressourcen in diejenigen Stadtteile abhängen, die besondere Aufgaben für das Managing Diversity Bremens haben.
Solche integrierten Ansätze sind aber nicht nur eine Frage der Ressourcen, sondern auch eine Herausforderung für die vorhandenen Verwaltungsstrukturen: Selbst wenn die Arbeit auf Stadtteilebene sich institutionsübergreifend entwickeln lässt, fehlt oft das ressortübergreifende Pendant auf der Seite der Verwaltung, wo jede integrierte lokale Initiative auf unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten und Förderphilosophien stößt. 

Bremen-Gröpelingen als Labor für neue Diversität
Der Bremer Stadtteil Gröpelingen  mit 35.000 Einwohner_innen, 40 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund (Bremen 27 Prozent) und mehr als 50 Prozent Kinder und Jugendliche im Hartz-IV-Bezug betreibt (wie eine Handvoll weiterer Stadtteile) das Managing Diversity für ganz Bremen. Hier werden die Konzepte und Ideen entwickelt, wie die unterschiedlichen sozialen Milieus gemeinsam Stadtgesellschaft bilden können. Solche Prozesse haben wenig zu tun mit romantisierenden Vorstellungen einer freundlichen multiethnischen Urbanität, vielmehr geht es um soziale Konflikte, Verteilungskämpfe, Rollen, Selbstbehauptung, Emanzipation oder auch Distinktion durch religiöse Haltungen, Lebensstile, Teilnahme oder Verweigerung. Diversität schlägt sich deshalb bei den Mitarbeiter_innen in den Stadtteileinrichtungen auch als Ermattung, dem Gefühl von Vergeblichkeit oder Überforderung nieder. Gerade beim Thema "Eltern" wird deutlich, warum viele Akteur_innen so "abgekämpft" wirken: Die soziale Diversität, die Unterschiedlichkeit von Familienstrukturen und Lebensstilen im Stadtteil wird oft als Abweichung von der Norm erlebt, die es nicht mehr gibt, der man aber hinterher trauert.  

In Gröpelingen arbeiten die Einrichtungen schon seit geraumer Zeit, teilweise mit Unterstützung von Stiftungen, an Haltungsänderungen und Organisationsentwicklung, um sich den veränderten – und sich ständig verändernden – Aufgaben besser stellen zu können. Die vorgefundene Diversität im Stadtteil wird heute eher als Normalität empfunden – und das eröffnet neue strategische Handlungskorridore. Eine solche Haltungsänderung geschieht nicht allein über Gesprächskreise, auch nicht allein über interkulturelle Schulungen und sie ist auch nicht in allen Institutionen gleichermaßen verbreitet. Vielmehr muss diese Haltungsänderung als Teil eines Stadtteilentwicklungsprozesses begriffen werden, der zu einer  neuen Bewertung und öffentlichen Wahrnehmung von Diversität führt. In Gröpelingen hat die Einrichtung Kultur Vor Ort e.V. beispielsweise das internationale Sprachenfestival „Feuerspuren“ entwickelt. Das ist mehr als ein zweitätiges Festival, zu dem fast 10.000 Besucher_innen aus der gesamten Region in den stigmatisierten Stadtteil reisen. Es ist eine Bildungs- und Kulturplattform, auf der das ganze Jahr über Kitas, Schulen, Eltern zum Thema Vielsprachigkeit im Stadtteil arbeiten. Eine Fülle von non-formalen Bildungsprojekten ist entstanden, auf die die Mitarbeiter_innen in den Stadtteileinrichtungen stolz sind, die auch ihr Werk sind. Nebenbei ist diese Plattform auch ein Instrument der Strukturentwicklung, weil hier die Zusammenarbeit zwischen Schule, Kita und Stadtteileinrichtungen systematisch vertieft wird.

Wie zukunftsweisend dieser Ansatz ist, erkennt man an den Planungen für ein neues Quartiersbildungszentrum, das von den Ressorts Bildung, Soziales und Bau in Gröpelingen bis 2014 errichtet wird: Anlässlich einer Planungskonferenz mit Akteur_innen aus dem Stadtteil, diskutierten die verschiedenen Einrichtungen intensiv über die wichtigsten Herausforderungen für Bildung im Stadtteil. Interessanterweise rückte die Frage der Migration oder des "Multikulturellen" dabei zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen fokussierte sich die Diskussion zunehmend auf das Thema Sprache. Die Vielsprachigkeit im Stadtteil als bisher ungehobener Schatz und die Bedeutung der Sprache als Zugangsmechanismus für gesellschaftliche Teilhabe führte zu einer neuen potentialorientierten Sichtweise, während die kulturalisierenden Stereotypen verblassten. 

Kosmopolitische Kultur für stigmatisierte Stadtteile
Die strukturierte Zusammenarbeit von Schulen, Kitas, Kultur- und Bildungseinrichtungen – wie sie modellhaft in Gröpelingen vertieft wird - eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten: Beispielsweise können die sozialen und sprachlichen Barrieren zwischen Schule und Elternschaft in informellen Settings wesentlich leichter überwunden werden als in formalisierten Elterngremien. Die Zusammenarbeit erlaubt auch eine neue Sicht auf die Viel- und Mehrsprachigkeit der Familien, Kinder und Jugendlichen. Statt einer defizitorientierten Diskussion wird ein potentialorientierter Ansatz verfolgt, der Mehrsprachigkeit als Grundlage für eine Literalität begreift, die eine wichtige soziale Kompetenz in der globalen Gesellschaft darstellt. Mehrsprachige Elternarbeit, mehrsprachige Materialien und der wertschätzende Umgang mit den im Stadtteil gesprochenen Sprachen sind dabei eine Seite der Arbeit.

Eine andere Seite betrifft den notwendigen Aufbau eines kohärenten programmatischen Ansatzes, der die Möglichkeiten der kulturellen Bildung intensiv nutzt, um eine solche umfassende Literalität zu fördern. Die bereits erwähnte Institution Kultur Vor Ort e.V. hat dazu - finanziert vom Senator für Kultur - schon elementare Vorarbeit geleistet: Viele gemeinsam mit Kita und Schule entwickelten Kunstprojekte fördern gezielt Literalität in mehrsprachigen Kontexten. Sie begreifen sich ausdrücklich nicht als "Projekte für Migrant_innen" oder als "Sprachförderung", sondern als kosmopolitischer Ansatz, der für alle Kinder und Jugendlichen des Stadtteils mehr gesellschaftliche Gestaltungsmacht und mehr Emanzipation ermöglicht. Mit den anderen Stadtteileinrichtungen wird an einem gemeinsamen Verständnis von Literalität gearbeitet, um so auf Stadtteilebene eine literale Kultur zu entwickeln, die sich in Projekten, im Alltag, auf der Straße, in den Institutionen niederschlägt. Neben der Erarbeitung von Literalitätskonzepten geht es in der kulturell-künstlerischen Arbeit um mehr: Wenn etwa den Kindern und Jugendlichen auch Zugänge zu zeitgenössischen künstlerischen Positionen eröffnet werden, ist dies auch ein Ansatz, um gesellschaftliche Teilhabe in einem umfassenden Sinne zu ermöglichen. Nicht nur die kulturelle Bildung kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten, auch die politische Bildung und das Lernen im Lebenslauf müssen in solche integrierten Ansätze vor Ort einbezogen werden.
Die Bedeutung dieses Ansatzes liegt in der grundsätzlichen Abkehr von jeder paternalistischen Politik für „Menschen mit Migrationshintergrund“. Stattdessen geht es um eine professionelle Entwicklung der Institutionen und ihrer Kooperationen, um die Herausforderungen der „Super Diversity“ meistern zu können.

Literatur

  • Bude, Heinz, Bildungspanik, Was unsere Gesellschaft spaltet, Bonn 2011
  • Hillmann, Felicitas (Hg), Marginale Urbanität, Migrantisches Unternehmertum und Stadtentwicklung, Bielefeld 2011
  • Kaufmann, Margrit E., Bremer Forum Diversity, Dokumentation des Kooperationsprojektes, Bremen 2010
  • Karakasoğlu, Yasemin, Wissenschaftliche Expertise mit Handlungsempfehlungen für einen "Entwicklungsplan Migration und Bildung", Universität Bremen, Bremen 2011
  • Land Bremen, Bremer Entwicklungsplan Partizipation und Integration, Bremen 2012
  • Nickel, Sven, Literalität – Familie – Family Literacy, Die Transmission schriftkultureller Praxis und generationenübergreifende Bildungsprogramme als Schlüsselstrategie, in: Psychologie und Gesellschaftskritik, Nr. 139, S. 53-77, 2011
  • Radke, Frank-Olaf/ Hullen, Maren/ Rathgeb, Kerstin, Lokales Bildungs- und Integrationsmanagement, Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Frankfurt am Main 2005
  • Schwaiger, Marika/ Neumann, Urusla, Regionale Bildungsgemeinschaften, Gutachten zur interkulturellen Elternbeteiligung der RAA, Universität Hamburg, Hamburg 2010
  • Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit (Hg.), Informationen zum Programm QUIMS_BREMEN, Bremen 2012
  • Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit (Hg.), Bildung – Migration – soziale Lage, Voneinander und miteinander lernen, Bildungsberichterstattung für das Land Bremen, Band 1, Bremen 2012
  • Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit (Hg.), Morgenland Nr.1, Das Magazin der Bildungslandschaft Gröpelingen. Herbst 2011
  • Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit (Hg.), Morgenland Nr.2, Das Magazin der Bildungslandschaft Gröpelingen. Sommer 2012
  • Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, Gesellschaftliche Vielfalt und lebenslanges Lernen – allgemeine Weiterbildung und Wandel, Bremen 2012
  • Stanat, Petra, Integration und Bildung: Ausgangslage und Skizze möglichen Handlungsbedarfs, Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Berlin 2011 (unveröffentlicht)
  • Stolz, Heinz-Jürgen, Blühende Bildungslandschaften? Möglichkeiten und Grenzen lokaler und regionaler Bildungsnetzwerke, in: Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.), Jugendhilfe und Schule inform, 1/2011, S. 3-7, Fundort:  (Zugriff: 15. Oktober 2012)
  • Wirtschafts- und Sozialakademie der Arbeitnehmerkammer Bremen gGmbh, Interkulturelle Öffnung der bremischen Verwaltung, Projektbericht, Bremen 2010

 

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Lutz Liffers ist Soziologe und arbeitet als Autor, Projektentwickler und Projektkoordinator im Schnittfeld von Kultur, Stadtentwicklung und Bildung.