Superdiversität

Zosen Exhibition London
Teaser Bild Untertitel
Zosen Exhibition London

von Prof. Steven Vertovec

Die Migration im 20. Jahrhundert umfasste nach dem Zweiten Weltkrieg eine beträchtliche Zahl von Zuwanderer, die sich vorwiegend aufgrund von speziellen Anwerbemaßnahmen oder anderen Programmen der gesteuerten Einwanderung zur Anwerbung gering qualifizierter oder angelernter Arbeitskräfte international in Bewegung setzten. An den meisten Orten erreichten diese Ströme ihren Höhepunkt in den 1960er Jahren; zu ihnen zählten insbesondere die Migration aus bestimmten Regionen in der Türkei nach Deutschland, von Algerien nach Frankreich, von Mexiko in die USA und von Pakistan nach Großbritannien. Als die Familien nachzogen und die Gastarbeiterpopulationen bis in die 1970er Jahre hinein vergrößerten, entstanden explizite oder implizite multikulturelle Strukturen und entsprechend ausgerichtete politische Strategien und Maßnahmen, um die sich zu großen, zunehmend gut organisierten und etablierten Gemeinschaften entwickelnden Gruppen einzubinden. 

Heute stellt sich die Lage ganz anders dar. Die Zahl der Migrant_innen (Flüchtlinge eingeschlossen) hat im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte weltweit zugenommen - auf zurzeit etwa 190 Millionen. Darüber hinaus – und in beträchtlichem Umfang – bewegen sich nun mehr Menschen von mehr Orten über mehr Orte zu mehr Orten.

Verglichen mit den großen Einwanderergruppen, die für die 1950er bis 1970er Jahre typisch waren, bestehen die Migrationsströme heute aus neueren, kleineren, kurzlebigeren, gesellschaftlich stärker geschichteten, weniger organisierten und rechtlich differenzierteren Einwanderergruppen. Solche komplexen Sozialformationen haben bislang kaum Aufmerksamkeit erhalten noch ihren Weg auf die öffentliche Tagesordnung gefunden. Diese beziehen sich weiterhin auf die Muster früherer Migrationen. Dennoch ist es der Anstieg eben dieser neuen Migrant_innentypen, der die soziale Landschaft der aufnehmenden Länder in den letzten Jahren radikal transformiert hat. Es ist daher an der Zeit, den Charakter heutiger Diversität neu zu bewerten – sowohl in der sozialwissenschaftlichen Forschung als auch in der Sozialpolitik (vgl. Vertovec 2009a). Mit einem solchen  reformulierten Verständnis der neuen Komplexität von Diversität müssten auch die Strukturen und politischen Ansätze, die sich mit Diversität auseinandersetzen sollen – also der Multikulturalismus –, einer Revision unterzogen werden.

Die Entstehung der Superdiversität

Um die komplexe Natur der gegenwärtigen, von Migration bestimmten Diversität besser zu verstehen und umfassender anzugehen, müssen Sozialwissenschaftler, politische Entscheidungsträger, die Praktiker im Feld und die Öffentlichkeit zusätzliche Variablen berücksichtigen. Dazu gehören Unterschiede im Einwanderungsstatus und die damit einhergehenden Rechtsansprüche und Einschränkungen von Rechten, divergierende Arbeitsmarkterfahrungen, unterschiedliche Geschlechter- und Altersprofile, welche die Einwandererströme kennzeichnen, spezifische räumliche Verteilungsmuster in den Aufnahmekontexten sowie lokal uneinheitliche Reaktionen von Dienstleistern und Ortsansässigen. Es ist das Zusammenspiel dieser Faktoren, das mit dem Begriff der ‘Superdiversität’ bezeichnet wird (Vertovec 2007).

‘Superdiversität’ ist ein Begriff, der ein Komplexitätsniveau und einen Komplexitätstypus unterstreichen soll, welcher über all das hinausgeht, was viele der Empfängerländer je zuvor erlebt haben. ‘Superdiversität’ unter Einwanderern zeichnet sich durch ein dynamisches Zusammenspiel von Variablen aus, darunter das Herkunftsland (bestehend aus einer Vielfalt möglicher untergeordneter Merkmale wie ethnischer Zugehörigkeit, Sprache[n], religiöser Traditionen, regionaler und lokaler Identitäten, kulturellen Werten und Praktiken), der Migrationsweg (häufig verbunden mit stark geschlechtsspezifischen Strömungen, speziellen sozialen Netzwerken und besonderen Arbeitsmarktnischen) und der Rechtsstatus (einschließlich unzähliger Kategorien, die eine Hierarchie von Rechtsansprüchen und Einschränkungen festlegen). Diese Variablen bestimmen Integrationsergebnisse mit, zusammen mit Faktoren rund um das Humankapital der Migrant_innen (insbesondere der Bildungsstand), den Zugang zu Beschäftigung (auf den Einwanderer Einfluss haben können oder auch nicht), die Örtlichkeit (bezogen vor allem auf die materiellen Bedingungen, aber auch auf die Präsenz anderer Immigrant_innen und ethnischer Minderheiten) sowie die gewöhnlich wechselhaften Reaktionen der örtlichen Behörden, Leistungsträger und Ortsansässigen (die häufig dazu neigen, ihr Handeln nach früheren Erfahrungen mit Migrant_innen und ethnischen Minderheiten auszurichten).

Britische Superdiversität als Beispiel

Der Fall Großbritanniens, der im Folgenden dargestellt wird, ist kein Einzelfall im Hinblick auf Prozesse, Entwicklungen und Besonderheiten, so wie in vielen Empfängerländern von Migration auftreten.

Herkunftsländer
Eines der bemerkenswertesten Merkmale der ‘neuen Migration’ ist die Vielzahl der Herkunftsländer der Einwanderer. Darüber hinaus steht der größte Teil dieser mannigfaltigen Bandbreite von neuen Herkunftsländern mit Ländern in Zusammenhang, die keine besonderen historischen – vor allem kolonialen – Verbindungen zu Großbritannien aufweisen. Allein in London leben Menschen aus etwa 179 Ländern. Viele Bevölkerungsgruppen sind nur durch eine Handvoll Personen repräsentiert; es gibt jedoch Bevölkerungsgruppen aus nicht weniger als 42 Ländern, die jeweils mehr als 10.000 Personen zählen; aus weiteren zwölf Ländern stammen Bevölkerungsgruppen mit jeweils mehr als 5.000 Menschen. Obwohl Daten über die Herkunftsländer selbst auf wichtige Diversitätsindikatoren hinweisen, können sie jedoch mehr zur Verschleierung signifikanter Differenzierungsformen beitragen als sie sie tatsächlich offenlegen. Innerhalb jeder Population aus einem bestimmten Land gibt es wichtige Unterscheidungsmerkmale in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit, Religionszugehörigkeit und -praxis, regionale und lokale Identitäten an den Herkunftsorten, Verwandtschaft, Sippen- oder Stammeszugehörigkeit, politische Parteien und Bewegungen und weitere Faktoren der kollektiven Zugehörigkeit.

Sprachen
Die Zunahme der Mehrsprachigkeit in Großbritannien ist in vielfältiger Weise sowohl von Sozialwissenschaftlern als auch von politischen Entscheidungsträgern erkannt und in Anspruch genommen worden. Es gibt jedoch guten Grund dafür zu behaupten, dass Letztere es häufig versäumt haben, in positiver oder angemessener Weise zu reagieren. Mehrsprachigkeit wird regelmäßig mit Misstrauen oder Spott betrachtet, und es gibt viel Kritik an der Verwendung öffentlicher Gelder für die großflächige Bereitstellung von Übersetzungsdienstleistungen. Dennoch wird heute häufig mit Stolz öffentlich verkündet, dass in London 300 Sprachen gesprochen werden (beispielsweise in der Bewerbung der Stadt um die Olympischen Spiele 2012).

Religionen
Insgesamt lässt sich feststellen, dass bei den Einwanderern in Großbritannien das Christentum die am meisten vertretene Religion unter allen nicht auf dem asiatischen Kontinent geborenen Personen ist; in Asien geborene Menschen in Großbritannien gehören mit größerer Wahrscheinlichkeit dem Islam als irgendeiner anderen Religion an, obwohl unter den Indern in Großbritannien natürlich eine Mehrheit Hindus und eine beträchtliche Zahl Sikhs sind. Viele neigen dazu, Religionen weitgehend mit bestimmten Herkunftsländern gleichzusetzen – Iren und Jamaikaner sind zumeist Christen, Bangladescher meist Muslime und so weiter; allerdings gehen diese Kategorien häufig an den so wichtigen Differenzierungen der religiösen Praktiken innerhalb jeder der Weltreligionen vorbei. Am Beispiel des Islam wird oft aufgezeigt, dass es innerhalb des Glaubens, wie er von Südasiaten in Großbritannien praktiziert wird, verschiedene Traditionen gibt (Deobandi, Tablighi, Barelvi, Sufi-Orden und andere). Diese Variationen nehmen um ein Vielfaches zu, wenn wir die gesamte Bandbreite der Herkunftsländer der heute in Großbritannien lebenden Muslime aus aller Welt berücksichtigen (wie Nigerianer, Somalis, Bosnier, Afghanen, Iraker und Malaysier). In London sind nach ethnischer Zugehörigkeit und Herkunftsland die Muslime die heterogenste Gemeinschaft von Gläubigen, wobei die größte Gruppe (die Bangladescher) nur 23,5 % ausmacht. ‘Die muslimische Bevölkerungsgruppe Londons mit ihren insgesamt 607.083 Mitgliedern ist wahrscheinlich die vielfältigste der ganzen Welt, einmal abgesehen von Mekka’ (The Guardian, 21. Januar 2005).

Migrationswege und Einwandererstatus
Soziokulturelle Differenzierungsachsen wie Herkunftsland, ethnische Zugehörigkeit, Sprache und Religion tragen natürlich maßgeblich zur Formung der Identitäten der Einwanderer, ihrer Interaktionsmuster und – häufig über soziale Netzwerke, die durch solche Achsen bestimmt werden – ihres Zugangs zu Arbeitsplätzen, Wohnungen, Dienstleistungen und anderem mehr bei. Jedoch sind die Migrationswege der Einwanderer und die unzähligen rechtlichen Status, die sich daraus ergeben, häufig genauso ausschlaggebend oder sogar noch ausschlaggebender dafür, wie sich die Menschen selbst in Gruppen zusammenfinden, wo sie leben, wie lange sie bleiben können, über wie viel Autonomie sie verfügen (zum Beispiel gegenüber der Kontrolle durch einen Arbeitgeber), ob ihre Familien sich ihnen anschließen können, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten bzw. ihr Auskommen sichern können und in welchem Umfang sie öffentliche Dienste und Ressourcen in Anspruch nehmen können (einschließlich Schulen und Ausbildung, Gesundheitsversorgung, soziale Hilfen und andere Inanspruchnahmen  auf öffentlicher Mittel). Somit stellen solche Wege und der jeweilige Einwandererstatus, zusammen mit den mit ihnen verbundenen Rechten und Einschränkungen, eine zusätzliche – ja sogar grundlegende – Dimension der heutigen Strukturen und Dynamiken von Superdiversität dar.

Der wachsende Zustrom von Einwanderern nach Großbritannien in den 1990er Jahren ging mit einer zunehmenden Zahl von Migrationswegen und Einwanderungsstatus einher. Alle diese Pfade und Rechtspositionen sind mit recht spezifischen, rechtlich durchsetzbaren Ansprüchen, Kontrollen, Bedingungen und Einschränkungen verbunden. Die folgenden Wege und Status sind am bedeutendsten:

  • Arbeiterschaft – Zwischen 1993 und 2003 stieg die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer in Großbritannien um nicht weniger als 62 % auf 1.396.000. Dieser starke Anstieg bei den Arbeitskräften schließt Personen ein, die unter zahlreiche Kategorien und Quotenregelungen fallen.
  • Studierende – Die Zahl der ausländischen Studierenden, die nach Großbritannien einreisten, erreichte unlängst mit 369.000 im Jahr 2002 einen Höchststand, bevor sie 2003 auf 319.000 zurückging. Studenten aus Ländern außerhalb der EU machten 2003 etwa 38 % aller Vollzeitstudierenden aus.
  • Ehepartner und Familienangehörige – Die Anzahl migrierender Ehepartner und Familienangehöriger, die nach Großbritannien einreisten, hat sich zwischen 1993 und 2003 mehr als verdoppelt. Es handelt sich hier zudem um einen vergleichsweise stark feminisierten Migrationsweg.
  • Asylbewerber und Flüchtlinge – Während der gesamten 1990er Jahre nahm die Zahl der Asylbewerber im Vereinigten Königreich, wie in ganz Europa, beträchtlich zu. Die Anträge in Großbritannien stiegen von 28.000 im Jahr 1993 auf einen Höchststand von 103.100 im Jahr 2002 (Angehörige eingeschlossen). Im Jahre 2003 waren davon etwa 69 % männlich. Die Herkunft von Asylbewerbern bildet eine große Bandbreite ab. Wiederum im Jahr 2003 gingen Anträge von Personen ein, die insgesamt mehr als 50 Nationalitäten angehörten.
  • Irreguläre, illegale und nicht erfasste Migrant_innen – Diese Kategorie, die unterschiedlich bezeichnet wird, betrifft Personen, deren Anwesenheit auf illegale bzw. betrügerische Einreise, Überschreiten der Visumsdauer oder Verstoß gegen die Visumsauflagen zurückgeht. Als ‘bestmögliche Schätzung’ gab das britische Innenministerium 2005 eine Zahl zwischen 310.000 und 570.000 irregulären Einwandern in Großbritannien an.
  • Neubürger – Sehr viele Einwanderer werden zu britischen Staatsbürgern. Während der 1990er Jahre wurden in Großbritannien pro Jahr ungefähr 40.000 Personen eingebürgert. Diese Zahl ist seit 2000 drastisch gestiegen, wobei das Jahr 2004 die Rekordzahl von 140.795 gewährten britischen Staatsbürgerschaften markiert. Versucht man, das Wesen und die Dynamik der Diversität in Großbritannien zu verstehen, muss dem geschichteten System der Rechte, der jeweiligen Möglichkeiten und Auflagen sowie den unterschiedlichen Graden der teilweisen bis vollständigen Zugehörigkeit, die mit den verschiedenen Einwandererkategorien einhergehen, starke Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Überdies – und das bezeichnet ein Hauptmerkmal der Superdiversität – kann es stark abweichende Status innerhalb von Gruppen gleicher ethnischer oder nationaler Herkunft geben.

Diese Faktenlage unterstreicht das Argument, dass einfache, sich auf ethnische Zugehörigkeit konzentrierende Herangehensweisen an Verständnis und Einbindung verschiedener ‘Minderheitengruppen’ in Großbritannien, wie sie den vielen Modellen und Politiken im Rahmen des herkömmlichen Multikulturalismus zugrunde liegen, eine unzureichende und häufig auch ungeeignete Grundlage bieten, um sich mit den Bedürfnissen einzelner Immigrant_innen auseinanderzusetzen oder die Dynamik ihrer In- bzw. Exklusion zu verstehen.

Geschlecht
Im Verlauf der letzten 30 Jahre wanderten mehr Frauen als Männer nach Großbritannien ein; seit etwa 1998 sind die neuen Migrationsströme männerdominiert. Der Grund hierfür könnte in einer allgemeinen Verschiebung weg von der stärker weiblich orientierten Familienmigration hin zu stärker männlich dominierten, arbeitsmarktbasierten Migrationsformen seit 1995 liegen. Dies steht jedoch  wahrscheinlich auch in Zusammenhang mit dem Zustrom von Asylbewerbern, von denen die meisten männlich waren.

Alter
Die neue Einwandererbevölkerung zeigt eine höhere Konzentration bei den 25-44-jährigen und einen geringeren Anteil von unter 16-jährigen als vor zehn Jahren, was möglicherweise ebenfalls eine Verschiebung weg von der Familienmigration widerspiegelt. Unterschiede  in der Altersstruktur bei verschiedenen ethnischen Gruppen sind Ausdruck unterschiedlicher Fertilitäts-, Sterblichkeits- sowie Migrationsstrukturen. Das Durchschnittsalter neuer Einwanderer liegt bei 28 Jahren – und  liegt damit im Schnitt elf Jahre unter dem Durchschnittsalter der in Großbritannien  geborenen Bevölkerung von 39 Jahren.

Sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene sind politische Entscheidungsträger und öffentliche Dienstleistungsanbieter unentwegt mit der Aufgabe einer  Anpassung und Umgestaltung ihres Instrumentariums konfrontiert, um angesichts der sich verändernden Umstände (ob sozioökonomisch, fiskalisch oder durch Regierungshandeln festgelegt) möglichst effektiv agieren zu können. Dies gilt ebenso für politische Strategien und Maßnahmen, die auf gemeinschaftlichen Zusammenhalt, Integration, gesteuerte Einwanderung und ‘gesteuerte Ansiedlung’ zielen. Die Strukturen und Formen der staatlichen Unterstützung für und Zusammenarbeit mit Organisationen ethnischer Minderheiten stellen seit Jahrzehnten das Rückgrat des britischen Multikulturalismusmodells dar. Vor allem auf lokaler Ebene haben diese vor Ort häufig wichtige Foren zum Austausch von Erfahrungen und Bedürfnissen bereitgestellt; dabei wurden Formen guter Praxis erprobt sowie Zugang zu Leistungen geschaffen. Solche Strukturen und Formen sind jedoch angesichts der zahlreichen Dimensionen der Superdiversität unzureichend für eine effektive Interessenvertretung und Repräsentanz der Minderheiten. Traditionell sind es die meisten Kommunalbehörden gewohnt, mit einer eher begrenzten Zahl großer und gut organisierter Verbände zusammenzuarbeiten; und nun gibt es eine viel größere Zahl kleinerer, weniger gut (oder gar nicht) organisierter Gruppen. Es stellt sich daher auf jeden Fall die Frage mit wie vielen Gruppen solche Strukturen überhaupt zurecht kommen können. Und wie sollten die kommunalen Behörden der internen Diversität verschiedener Gruppen Rechnung tragen, nicht zuletzt im Hinblick auf deren rechtliche Stellung?

Schon jetzt können die Organisationen ethnischer Minderheiten häufig nicht auf die Bedürfnisse der verschiedenen Zuzügler eingehen. Dies soll keineswegs heißen, dass gemeinschaftliche Organisationen keine Rolle mehr spielen, wenn es darum geht, Brücken zwischen Einwanderergruppen und kommunalen Behörden sowie den Dienstleistern zu schlagen.Diese kleineren Vereinigungen und Verbände sind zwar entscheidend für den Inklusionsprozess insgesamt, sollten jedoch hinsichtlich ihrer Repräsentativität und Reichweite nicht überschätzt werden. 

Die zunehmende Größe und vor allem die interne Komplexität der Einwander_innenbevölkerung zieht beträchtliche Konsequenzen für die öffentlichen Leistungsangebote nach sich. Von den Beauftragten in den kommunalen Behördern wurden bereits Bedenken geäußert, ob die Verkehrsnetze, die Schulen und das Gesundheitswesen in der Lage sein werden, diese neuen Anforderungen zu bewältigen. Solche Bedenken deuten auf  eine erhebliche strategische Verschiebung in einer Reihe von Dienstleistungsbereichen bezüglich der Einschätzung und Bewertung Planungsprozessen insgesamt, hinsichtlich der  Budgetierung, der Beauftragung  von Dienstleistungen wie auch dem dem Finden von Kooperationspartnern hin. Angesichts dieser gravierenden Veränderungen geht es jetzt um die Herstellung einer breiteren Anerkennung von  heterogenen Erfahrungsmustern, die zur Grundlage einer allgemeinen Debatte werden müssten. Eine derartige Verschiebung bedeutet, dass zunächst mit der Beschaffung von Informationsgrundlagen zur neuen Diversität begonnen werden müsste.
 
Der aktuelle Kenntnisstand ist unterdies unzureichend für weitergehende Analysen gegenwärtiger und zukünftiger Bedingungen von Migration und urbaner Superdiversität. Die Theorien und Methoden, die zur Erforschung von Einwanderern im urbanen Umfeld eingesetzt werden, basieren noch immer weitgehend auf denen, die die Chicagoer Schule Anfang und Mitte des vergangenen Jahrhunderts dargelegt hat. Dazu gehört vorwiegend, sich einzelne, ethnisch definierte Gruppen in ihren jeweiligen Assimilationsprozessen anzuschauen, die dann nach sich veränderndem sozioökonomischen Status, räumlicher Konzentration, sprachlicher Veränderungen und Mischehen bemessen wird. Der Fokus auf Assimilation – oder, im europäischen Sprachgebrauch, ‘Integration’ – dominiert das Themenfeld und ist derzeit das oberste politische Anliegen der meisten Empfängerstaaten (oder auch der Behörden auf europäischer Ebene). Theorie und Forschung auf dem Feld des Multikulturalismus tendieren zudem zu einer Sichtweise, nach der die Gesellschaft sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammensetzt, die nebeneinander leben und sich gemäß ihren eigenen Prinzipien  entwickeln. Soweit interethnische oder interkulturelle Beziehungen untersucht worden sind, bezieht sich die Forschung gewöhnlich auf die binäre Beziehung zwischen Minderheit und Mehrheit.

Noch viel seltener – doch angesichts der Art der genannten globalen Vorgänge jedoch absolut nötig – sind Untersuchungen auf der Mikroebene zum Wesen und zu den Auswirkungen der vielfältigen Unterschiede, sozioökonomischer Lagen und Beziehungen zwischen einer Reihe von Gruppen innerhalb  gemeinsamer Kontextbedingungen. Bisher allerdings lässt sich hinsichtlich der sozialwissenschaftlichen Erforschung urbaner Diversität immer noch ein gravierendes Forschungs- und Theoriedefizit konstatieren.

November 2012

 

Steven Vertovec is Director at the Max-Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity, Göttingen, Germany. Previously he was Professor of Transnational Anthropology at the University of Oxford and Director of the British Economic and Social Research Council’s Centre on Migration, Policy and Society (COMPAS). His main interests surround global migration, diasporas and ethnic diversity. Prof. Vertovec has authored three books – the latest called Transnationalism (Routledge, 2009) – and published thirty-three edited volumes including Islam in Europe, Migration and Social Cohesion, Conceiving Cosmopolitanism and The Multicultural Backlash. He has acted as expert or consultant for numerous agencies, including the British government’s Cabinet Office and Home Office, the European Commission, the G8, the World Bank and UNESCO.

Bild entfernt. Dieser Text steht unter einer Creative Commons-Lizenz. Bei Verwendung/Veröffentlichung bitten wir um einen Beleglink oder ein Belegexemplar.

   

Bild entfernt.

Steven Vertovec is Director at the Max-Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity, Göttingen, Germany. His main interests surround global migration, diasporas and ethnic diversity.