Die deutsche Islampolitik und die Frage nach der Repräsentativität muslimischer Verbände

Muslimische Frauen
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Muslimische Frauen

 

von Raida Chbib

 

Angesichts drängender gesellschaftspolitischer Fragen zum Islam in Deutschland, welche „die Politik“ unter Handlungsbedarf gesetzt haben, ist die Frage nach geeigneten muslimischen Dialog- und VerhandlungspartnerInnen virulent geworden. Zwei Hindernisse für eine angemessene Klärung dieser Frage werden in diesem Beitrag diskutiert:

  • erstens die Entgrenzung des religionspolitischen Handlungsfeldes zu islambezogenen Fragen;
  • zweitens der als komplex wahrgenommene Prozess der religiösen Selbstorganisation der MuslimInnen.

Stolpersteine auf dem Weg zu einer regulativen Islampolitik

Eine schlüssige Islampolitik seitens der Bundesregierung oder einzelner Länder existiert bislang nicht, wohl aber islambezogene gesetzliche Beschlüsse, politische Einzelfall-Entscheidungen und Initiativen sowie institutionalisierte Diskussionsforen zu unterschiedlichen Sachverhalten, die MuslimInnen betreffen. Es wäre möglich, dies als Vorstufe zu einer konzeptionalisierten Regulierung des Verhältnisses zwischen Politik und Islam zu betrachten. Die Frage nach der Gestaltung der Beziehung zwischen Staat und muslimischen Gemeinschaften bleibt damit pressant. Mit der Zeit hat sich eine Schieflage eingestellt, ausgelöst durch die hohe Resonanz, die islambezogene Themen in Politik und gesellschaftlicher Öffentlichkeit gewonnen haben, ohne durch regulative politische Rahmenkonzepte in geordnete und nachvollziehbare Bahnen gelenkt zu werden.

Letzteres Vakuum hält eine Unsicherheit im Umgang mit MuslimInnen und ihren Gemeinschaften in der gesellschaftlichen Mitte aufrecht, die durch gelegentliche Misstöne seitens politischer VerantwortungsträgerInnen zum Islam verschärft wird. Bisherige Konzepte der institutionellen Regulierung des Verhältnisses von Staat und Religion scheinen mit Blick auf den Islam keine Anwendungsmöglichkeit zu finden. Der Islam und weitere, durch Zuwanderung hervorgetretene religiöse Phänomene und Zusammenschlüsse stellen die Politik eben vor neuen Herausforderungen, auf die sie nicht vorbereitet zu sein scheint.

Angesichts der Tatsache, dass es in den vergangenen Jahrzehnten religiöse Angelegenheiten und Themen selten auf die politische Agenda geschafft haben, ist die Auseinandersetzung mit Fragen rund um das Verhältnis zwischen Politik und Religion auch in der Politikwissenschaft ins Hintertreffen geraten. Dies macht sich nun in dem politischen Umgang mit dem Islam besonders bemerkbar. Dieser erweist sich oftmals als ein ideologiebeladenes Experimentierfeld, das viel Raum für Willkür lässt.

Ein vermintes Gelände

Im Falle des Islams in Deutschland wirkt sich zudem die Konfliktträchtigkeit und das polarisierende Potential, die dieser Religion in Europa derzeit anhaften, erschwerend auf einen sachlichen politischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozess aus. Viele islambezogene Fragen sind strittig, und das offene Eintreten für muslimische Interessen ist nicht mehrheitsfähig und erweist sich darüber hinaus als unpopulär. Wer von politischer Seite das heiße Eisen Islam in einer sachorientierten Weise anfasst, begibt sich damit auf unwegsames Gelände. Die Reaktionen auf die um Versöhnung und Anerkennung bemühte Aussage des Bundespräsidenten Wulff, der Islam gehöre inzwischen auch zu Deutschland, demonstriert, wie schwer es PolitikerInnen derzeit haben, die in einem versöhnlichen Ton über MuslimInnen oder gar mit MuslimInnen sprechen. Dies schreckt sicherlich andere PolitikerInnen von einer anerkennenden verbindlichen Zusammenarbeit mit muslimischen AkteurInnen auf gleicher Augenhöhe ab.

Zudem gingen in der Vergangenheit lange Zeit keine vertrauensbildenden Signale von muslimischen Organisationen aus. Sie hielten sich aus verschiedenen Gründen aus gesamtgesellschaftlichen Fragen herraus. Eine undurchschaubare und teils bedrohlich anmutende Verbindung  muslimischer Gruppen und Organisationen in Deutschland mit AkteurInnen und Organisationen in der muslimischen Welt mag ebenso für eine Verhaltenheit auf Seiten der Politik gegenüber einer Kooperation mit ihnen gesorgt haben. Schließlich mangelt es nach wie vor mancherorts an kompetenten AnsprechpartnerInnen von muslimischer Seite, welche für eine Annäherung und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der staatlichen Seite notwendig sind.

Die Pluralität von Politik und Islam

Diese besondere Problematik gilt es zu berücksichtigen, sofern es darum geht, den Mangel an politischen Konzepten zum Umgang mit dem Islam zu begründen und die ins Leben gerufenen, diversen Versuche auf dem Weg hin zu regulativen Beziehungen zwischen Staat und muslimischen Gemeinschaften zu erklären.

Doch genauso, wie sich „der Islam“ in der BRD strukturell eben aus verschiedenen AkteurInnen und Organisationen zusammensetzt, ist bei der Betrachtung „der Politik“ in Bezug auf MuslimInnen das staatliche System in seinem Aufbau und in seiner Differenziertheit zu berücksichtigen. Dabei sind, schematisch betrachtet, Unterschiede in den Stellungnahmen der großen Parteien zum Thema Islam sowie Unterschiede im Umgang der einzelnen Landesregierungen mit muslimischen Fragen und mit dort angesiedelten muslimischen Religionsvertretungen zu berücksichtigen. 

Die Deutsche Islamkonferenz

Besondere öffentliche Aufmerksamkeit erhält das wohl ambitionierteste Rahmenprojekt zur Regulierung staatlicher Beziehungen zu MuslimInnen in Deutschland, welches auf Bundesebene angesiedelt ist. Die Betrachtung von Konzeption und Agenda der 2006 ins Leben gerufenen Islamkonferenz erlaubt Aussagen zu einem nicht typischen, aber wohl doch maßgebenden politischen Modus im Umgang mit dem Islam in Deutschland. So sehr der Vorstoß des damaligen Innenministers Schäuble zu einer institutionalisierten Kooperation zu würdigen ist, so demonstriert diese Kooperation in besonderer Weise die symbolträchtige Inszenierung und Diskussion von Unverbindlichkeiten anstelle einer erforderlichen regulativen Weichenstellung.

Von einer allseits verbindlichen und wirksamen Regelung ließe sich nur dann sprechen, wenn sie von den maßgeblichen AkteurInnen des religiösen Handlungsfeldes der MuslimInnen gleichermaßen und gleichrangig mitbestimmt, mitgestaltet und dementsprechend mitgetragen wird. Zumindest ist ein institutionalisierter Dialog zwischen staatlichen EntscheidungsträgerInnen und einzelnen, mehr oder weniger muslimisch geprägten Persönlichkeiten in Gang gesetzt worden. Dieser Dialog stellt zwar noch nicht die Weichen für eine strukturelle Ausgestaltung der künftigen Beziehung zwischen Bundespolitik und MuslimInnen. Aber er legt die Art des Verhältnisses zwischen den involvierten Seiten offen. Dieses ist klar asymmetrisch angelegt und von staatlich-hoheitlicher Lenkung und Prädetermination durchdrungen. 

Islampolitisches Agenda-Setting

Glaubensbezogene Themen- und Handlungsfelder wie der bekenntnisorientierte Religionsunterricht oder die theologische Ausbildung sind – so sieht es der verfassungsrechtliche Rahmen zumindest vor - hauptsächlich nach Maßgabe der bestehenden muslimischen Gemeinschaften inhaltlich und konzeptionell auszugestalten. Doch aufgrund der aktuellen gesellschaftspolitischen Interessenlage werden diese und andere Felder von staatlicher Seite bereits in der Vorbereitungsphase aufgegriffen, mit einer Prioritätsstufe versehen, eben damit auch von Seiten des Staates maßgeblich vorbestimmt und dann erst den VertreterInnen der vom Staat ausgewählten muslimischen Religionsgemeinschaften und weiteren Einzelakteuren zur Debatte und Stellungnahme vorgelegt.

Somit wird von staatlicher Seite zum Einen – ohne Einbeziehung  der betroffenen Gemeinschaften - vorweggenommen, was überhaupt mit welcher Priorität auf die Agenda kommt. Zum Anderen wird die Richtung und das Ziel der diskursiven Aushandlungsprozesse vorgegeben und eine Erwartungshaltung kreiert, die die muslimischen TeilnehmerInnen zu erfüllen haben. Ob Ergebnisse, die in dieser Weise zustande kommen, in religiös-muslimischen Kreisen angenommen und umgesetzt werden, bleibt damit fraglich.

Ein entgrenztes Themenspektrum

Bei der Festlegung der politischen Agenda zum Thema Islam bleibt mit Blick auf die Islamkonferenz zudem unklar, wo die Grenze liegt zu nicht-glaubensbezogenen politischen Handlungsfeldern. Die Trennlinie zwischen Religion und Sozialem, zwischen Religion und Sicherheitspolitik und vor allem zwischen Religion und migrationsbezogenen Fragen fehlt oder bleibt unscharf. Naturgemäß gibt es stets Überschneidungen zwischen den verschiedenen Handlungsbereichen der Politik. Die Einbeziehung dieser religionsfernen Themenfelder in einen im religiösen Funktionsbereich angesiedelten – mitunter schwerfälligen - Dialog, der den Grundstein für eine Konsolidierung des Verhältnisses zwischen Politik und einer relativ neuen Religion im Lande legen sollte, erschwert den Aushandlungsprozess.

Zudem werden muslimische AkteurInnen mit Erwartungen überfrachtet, die nicht ordnungsgemäß umsetzbar sind, und sie werden mit Themen konfrontiert, die sie naturgemäß nicht sachgerecht bewältigen können. Dennoch versuchen sie sich darin. Viele Verbandsmoscheen haben in den vergangenen Jahren Deutschkurse, Integrationshilfen und Jugendarbeit angeboten. Muslimische FunktionärInnen werden zu Allround-ExpertInnen und nehmen Stellung zu Fragen, denen selbst hochqualifizierte Fachleute aus dem jeweils angesprochenen Arbeitsmarktbereich, aus den Sozialbereichen, aus der Kriminologie und aus internationaler Politik ausweichen würden.

Die Verbindung und Vermengung zahlreicher politischer Handlungsfelder mit dem Bereich der Religion in der Agenda zum Dialog mit dem Islam ist daher als Stolperstein für eine nachhaltige religionspolitische Ausgestaltung des Umgangs mit dem Islam auf Bundesebene, seinen Gemeinschaften und seinen AnhängerInnen anzusehen. Diese Vermengung durchstößt zudem das Prinzip der funktionalen Differenzierung, auf dem soziale Vorgänge im säkular verfassten Staat basieren. Demnach wäre im Sinne einer tragfähigen islambezogenen politischen Arbeit zu fragen, welche Themenfelder Aspekte der Glaubenspflege und -ausübung unmittelbar betreffen und dementsprechend auf die religionspolitische Agenda zum Islam in Deutschland zu setzen sind.

Islampolitik auf Länderebene

Die hier anhand des Beispiels der Deutschen Islamkonferenz auf Bundesebene dargelegte Form des religionspolitischen Umgangs mit der muslimischen Minderheit im Lande ist jedoch nicht charakteristisch für die Islampolitik der Landesregierungen. Hier finden sich zwar Beispiele für Umgangsformen, die denen der derzeitigen Bundesregierung ähneln; aber ebenso gibt es vollkommen andere Kooperationsmuster, die sogar in bestimmten nördlichen Bundesländern auf einen Staatsvertrag mit den dortigen muslimischen Gemeinschaften hinauslaufen könnten.

In Hamburg etwa wird der langjährige politische Verhandlungsprozess mit MuslimInnen sowohl von den muslimischen Beteiligten als auch von SenatsvertreterInnen als positiv gewertet. Gespräche finden ausschließlich mit den VertreterInnen dortiger muslimischer Organisationen und türkischer Migrantenorganisationen statt. Thematisch sind Verhandlungen auf rein religiöse Fragen beschränkt, und die muslimische Verhandlungsseite fühlt sich nach eigener Aussage mit ihren Anliegen hinreichend und gleichrangig einbezogen.

Die Repräsentanztauglichkeit der muslimischen Verbände

Eines haben die auf verschiedenen Ebenen laufenden Dialog- und Verhandlungsprozesse dennoch gemeinsam. In der Anerkennungsfrage bezüglich der etablierten muslimischen Organisationen bleiben sie unentschieden. So werden bestehende muslimische Religionsgemeinschaften und deren VertreterInnen etwa auf Bundesebene nicht als die vornehmlichen Kooperations- und DialogpartnerInnen des Staates zu islambezogenen Fragen herangezogen. Selbst dann nicht, wenn sie sich - aller binnenislamischen Differenzen zum Trotz - zu einer einheitlichen Vertretungsinstanz zusammenschließen. Mit wechselnden Argumenten wird muslimischen Organisationen die tragende Rolle bei der staatlich geleiteten Regelung islamischer Glaubensfragen  abgesprochen.

Doch verbindliche Formen der Kommunikation und Regelung kommen nicht ohne AnsprechpartnerInnen aus dem religiösen Handlungsbereich aus, die einerseits ihre religiöse Expertise einbringen und andererseits Vereinbarungen in ihre jeweiligen Glaubenskreise hineintragen können. Die Unentschlossenheit im Umgang mit der islamischen Organisationsvielfalt ist nicht unbegründet. Genauso vielschichtig, wie politische AkteurInnen und deren Vorgehensweisen zum Islam sind, verhält es sich auch in der Frage nach einer Repräsentation „des Islams“: Hierarchisch verfasste Organisationen der MuslimInnen in Deutschland, ähnlich wie die der Großkirchen, existieren nicht.

Die religionsorganisatorische Mannigfaltigkeit der MuslimInnen und anhaltende Prozesse der Kooperation und Ausdifferenzierung im muslimischen Feld stellen politische AkteurInnen vor die schwierige Frage nach der Einschätzung bestehender Verbandsstrukturen. In der Debatte darüber geht es zumeist in kritischer Weise um die Frage nach dem Repräsentanzvermögen muslimischer Organisationen. Oftmals ist die Rede von einem „Vertretungsanspruch“ der Verbände, der der muslimischen Bevölkerung nicht gerecht wird.

Vor ihrem Zusammenschluss zum Koordinationsrat der Muslime (KRM) konzentrierte sich die Problematik in der Anerkennungsfrage auf die unklare und fragmentierte Zusammenstellung der Verbände. Nun, da die muslimischen Organisationen der sunnitischen und schiitischen Strömungen zunehmend miteinander zusammenarbeiten und sich dazu ein einheitliches Kooperationsgremium geschaffen haben, sind PolitikerInnen dazu übergegangen, ihren als gering eingeschätzten Vertretungsanteil an der muslimischen Gesamtbevölkerung als Grund für ihre Ablehnung als vornehmliche AnsprechpartnerInnen ins Feld zu führen.

Zwischen Vertretungsanspruch und Vertretungsrealität?

Die Frage nach dem Vertretungsradius muslimischer Verbände lässt sich anhand verschiedener Kriterien diskutieren. In der öffentlichen Debatte stößt man diesbezüglich vornehmlich auf den Anteil der formalen Mitgliedschaften muslimischer Organisationen. Doch die Bedeutung muslimischer Gemeinschaften lässt sich nicht hinreichend mit Mitgliedszahlen vermessen. Weitere Einschätzungskriterien, wie die Anzahl der religiösen Mitgliedsgemeinden, Nutzer- bzw. Besucherzahlen, die in den Verbänden vertretenen muslimischen Glaubensströmungen oder der Bekanntheitsgrad der Verbände unter Deutschlands MuslimInnen sind ebenso eher als vage Anhaltspunkte denn als Maßeinheiten zur abschließenden Bedeutungszumessung anzusehen.

Eine derartige Suche nach einer angemessenen Einschätzungsgrundlage basiert an sich schon auf einem Denkfehler, der zu Fehlschlüssen und Diskrepanzen in der Frage nach den Vertretungsansprüchen muslimischer Verbände führt. Dieser liegt darin begründet, dass im Falle der Vertretungsfrage im Hinblick auf den Islam die materielle Bezugsgrenze nicht gezogen und berücksichtigt wird. Die Unterscheidung, ob es um die Frage nach religiösen Lebenswelten geht oder um andere Interessen von MuslimInnen in Deutschland, etwa sozioökonomischer oder kultureller Art, wird in der Einschätzung der Repräsentanz von Verbänden nicht vollzogen. Selbstverständlich können religiöse Institutionen nicht sämtliche Interessen der muslimischen Bevölkerung vertreten. Muslimische Organisationen sollten daher nach ihren Vertretungsanteilen an (primär) glaubensbezogenen Aktivitäten und Dienstleistungen, welche durch islamische Zusammenschlüsse abgedeckt werden, gewichtet werden.

Institutionalisierung des Islams in Deutschland

Im muslimischen Bereich ist die Gemeinschafts- und Verbandsbildung von einer Heterogenität gekennzeichnet, welche maßgeblich auf die Zusammensetzung und die Entwicklung der islamischen Trägergruppe zurückzuführen ist. Durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher religiöser Anschauungen und Praktiken aus verschiedenen Herkunftsregionen sind wohlgemerkt nicht nur im muslimischen, sondern auch infolge von Zuwanderung im jüdischen und christlichen Spektrum sowie in den fernöstlichen Religionen Transformations- und Pluralisierungsprozesse zu verzeichnen. Davon zeugen etwa die Zunahme interner Pluralität in den Großkirchen im Verlauf der Integration christlicher Zuwandernder oder auch Veränderungen in der jüdischen Gemeindegestaltung infolge der Zuwanderung von Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion.

Prozesse der religiösen Gemeinschaftsbildung, Vernetzung und Institutionalisierung haben sich bei den MuslimInnen in Deutschland früh eingestellt und im Verlauf des Sesshaftwerdens und der Einbürgerung verfestigt. Dabei haben sich der Migrationshintergrund der meisten MuslimInnen mitsamt der sprachlichen und ethnischen Vielfalt sowie der Generationenwechsel, der sozioökonomische Hintergrund und Wandel, die Bandbreite an religiösen Auffassungen und an individuellen Einstellungen zur eigenen Religion nachhaltig auf die organisatorische Ausgestaltung des Islams in Deutschland ausgewirkt. Die spezifische organisatorische Verfasstheit, welche MuslimInnen in Deutschland bislang ausgebildet haben, muss zudem in Zusammenhang mit vorherrschenden kirchlichen Strukturen, dem föderalen Staatsprinzip und dem islampolitischen Diskurs betrachtet werden.

Aus diesen Faktoren, die hinter der Organisationsweise des Islams stehen, hat sich ein Komplex an muslimischen Kooperationsgefügen, bundesweiten Dachverbänden, einzelnen kommunalen Zusammenschlüssen und Landesverbänden ergeben, der mit den gegenwärtigen additiven Übersichtsdarstellungen islamischer Organisationen und Dachverbände nicht hinreichend abzubilden ist. Dieses fortgeschrittene Stadium der Institutionalisierung des Islams in der BRD setzt die Politik unter Zugzwang. Die Politik reagiert wiederum verhalten, was etwa an der Position der Bundesregierung bezüglich der Einschätzung der Vertretungsmöglichkeiten muslimischer Verbände ersichtlich wird:

Da die fünf muslimischen Dachverbände in Deutschland maximal lediglich ein Fünftel aller in Deutschland lebenden Muslime repräsentieren, war es – um die Vielfalt des muslimischen Lebens in Deutschland widerzuspiegeln – erforderlich, die nicht-organisierten Muslime angemessen mit einzubeziehen (Bundesministerium des Inneren 2009: Arbeitsprogramm der Deutschen Islamkonferenz).

Unsachgemäße Vertretungsbemessung

Diese Argumentation gründet sich erstens auf die Schätzung eines Repräsentanzanteils muslimischer Organisationen, der die Gesamtheit der muslimischen Bevölkerung – also auch diejenigen, bei denen Religion weder eine identifikatorische noch eine alltagsbezogene Relevanz hat - zum Bezugspunkt nimmt. Es liegt auf der Hand, dass religiöse Einrichtungen keine religiös desinteressierten MuslimInnen vertreten können. An diesem Beispiel zur Auswahl der TeilnehmerInnen an der Islamkonferenz zeigt sich in besonderer Weise die Wirkung einer indeterminierten und religiöse Belange überschreitenden Islampolitik auf den Umgang mit der Vertretungsfrage. Die politische Haltung, welche den Repräsentanzanteil muslimischer Verbände so bemisst, stellt die adressierten Religionsgemeinschaften vor weitgefasste Anforderungen, die auf den religiösen Bereich spezialisierte Organisationen ihrem Charakter nach gar nicht erfüllen können, nämlich auch religionsferne MuslimInnen im Lande abzubilden.

Zweitens impliziert die Gegenüberstellung islamischer Dachverbände und einer durch Einzelpersonen abgebildeten muslimischen Vielfalt, dass der organisierte Islam die Binnenpluralität unter MuslimInnen nicht zu repräsentieren vermag. Bei genauer Betrachtung geht es jedoch nicht um die Pluralität religiöser Strömungen und Lehrmeinungen, sondern um eine Pluralität von Haltungen bezüglich Religion, die neben religiös indifferenten auch antireligiöse und sogenannte islamkritische bis –feindliche Haltungen innerhalb einer ethnisch umrissenen muslimischen Bevölkerung umfasst. Organisationen, die den Glaubensvollzug zum Gegenstand haben, können zwar eine Bandbreite theologischer Auslegungen vertreten, die unter den religiös aktiven MuslimInnen mit ihren unterschiedlichen Haltungen zu Religion (orthodox, traditionell, reformorientiert usw.) im Lande vorherrschen, sie sind jedoch organisch nicht imstande, individuelle oder kollektive Auslegungen zu repräsentieren, die die Irrelevanz religiöser Bestimmungen postulieren. Sie können schon gar nicht Menschen vertreten, die sich indifferent oder negierend gegenüber einer an islamischen Quellen wie Koran und Prophetentradition orientierten Glaubensausübung verhalten.

Somit ist zu einer sachorientierten Einschätzung der Relevanz muslimischer Verbände eine Bezugsgrundlage zu wählen, die einerseits dem genuin religiösen Charakter der Glaubensgemeinschaften gerecht wird und die sich auf den Interessen- und Handlungsbereich der Religion bezieht. Andererseits handelt es sich bei den Verbänden um korporative Zusammenschlüsse, welche die kollektiv gelebte Glaubensdimension regulieren. Somit ist ihr Vertretungsanspruch hinsichtlich der kollektiven, rituell geprägten Glaubensverwirklichung zu betrachten.

Das muslimische Organisationsspektrum

Auf Bundesebene sind im Koordinationsrat der Muslime (KRM), mit Ausnahme der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland (ADTÜF), sämtliche sunnitischen und schiitischen Organisationen, die muslimische Gemeinden unterhalten, vertreten. Aus einer Erhebung von Religionsgemeinschaften in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahre 2006 geht hervor, dass rund 84 Prozent sämtlicher dem islamischen Spektrum zugerechneten Gemeinden dort den Mitgliedsorganisationen des KRM zuzurechnen sind. (Hero, Markus/Krech, Volkhard/Zander, Helmut (Hrsg.), 2008: Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen, Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort, Paderborn) In ihnen sind wiederum verschiedene theologische Richtungen des sunnitischen und schiitischen Islams zu finden. Der alevitische Verband (AABF) und die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) sind indessen nicht Teil des KRM und haben damit eigenständige Repräsentanzformen für ihr spezifisches religiöses Bekenntnis ausgebildet. Im AABF sind zwei Drittel der Cem-Häuser in NRW vertreten, in der AMJ sind nach eigenen Aussagen sämtliche Ahmadiyya Gruppen vernetzt.

Neben dieser organisatorischen Durchstrukturierung muslimischen Gemeindelebens in Form von unterschiedlich verfassten Dachverbänden, gibt es eine Anzahl von Moscheen, die autonom verblieben sind. Diese verbandsunabhängige Form der Selbstorganisation religiösen Lebens von MuslimInnen ist sowohl in der Berliner Studie zu den Muslimischen Gemeinschaften (Spielhaus/Färber 2006), als auch in der NRW-Studie zur Religiösen Vielfalt (Chbib 2008) quantitativ belegt worden. Diese haben ergeben, dass nahezu 50 Prozent der Berliner Moscheegemeinden unvernetzt nebeneinander bestehen, und in NRW sind es, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, mindestens ein Fünftel der Gebetshäuser. Gemäß dieser Ergebnisse lässt sich das organisierte muslimische Spektrum in Deutschland in einen formal strukturierten Teil des Verbandsislams und in den Teil der nicht im Rahmen von Verbänden vernetzten islamischen Gemeinschaftsaktivitäten unterteilen.

Religiöse Aktivitäten von MuslimInnen lassen sich wiederum in primär religiöse Zusammenschlüsse unterteilen, die sich in islamischen Gemeinden (v.a. Moscheen) bilden. Daneben haben sich religiös motivierte Vergemeinschaftungsformen entwickelt, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Verbände bestehen. Der glaubensbezogene Einflussradius der muslimischen Verbände ist indessen nicht zu unterschätzen:

  • Die vorliegenden Resultate aus der Bestandsaufnahme weisen darauf hin, dass in NRW beispielsweise rund vier Fünftel der MuslimInnen mit religiösem Gemeinschaftsbezug Gemeinden nutzen, die dem KRM zuzurechnen sind. Dies entspricht schätzungsweise 40 Prozent der dort lebenden, dem Islam zugerechneten Personen. 
  • Den maßgeblichen Anteil an der religiösen Infrastruktur des sunnitischen und schiitischen Islams in Deutschland stellen die Mitgliedsorganisationen des KRM bereit.
  • Verschiedene, im islamischen Spektrum präsente Denkrichtungen und Glaubensauslegungen sind in den verbandszugehörigen Gemeinden vertreten.
  • Die islamischen Verbandszentralen verwalten den Großteil des Moscheebestandes und finanzieren die großen Moscheebauvorhaben, die lang bestehende Gemeinden initiieren. 
  • Sie stellen den überwiegenden Teil an theologisch ausgebildeten Imamen und religiösen Experten. 
  • Über verschiedene Plattformen erreichen die Verbände über ihre Gemeinden eine große Anzahl der an der islamischen Praxis interessierten Gläubigen.

Sofern von Seiten der Politik genuin religiöse Belange einer nachhaltigen und verbindlichen Regelung unterzogen werden sollen, sind bestehende muslimische Verbände mit ihrer religiösen Expertise gefragt. Eine überkonfessionelle, umfassende Regelung für sämtliche Glaubensrichtungen, die dem Bereich Islam zugeordnet werden, erscheint angesichts gravierender Differenzen und Unverträglichkeiten zwischen der Glaubensdogmatik und –praxis einzelner Strömungen unrealistisch.

Die Kooperationszusammenhänge unter den bestehenden Verbänden geben Anhaltspunkte dafür, unter welchen Konfessionen eine gemeinsame glaubensbezogene Zusammenarbeit möglich ist und unter welchen nicht. Ein Konsens scheint zwischen SunnitInnen und SchiitInnen in Deutschland möglich geworden, aber nicht zwischen Ahmadyya-AlevitInnen oder Aleviten-SunnitInnen und SchiitInnen und schließlich nicht unter Ahmadyya-SunnitInnen und SchiitInnen. Diese konfessionellen Spaltungen gilt es von politischer Seite zu berücksichtigen.

Fazit

Es zeigt sich, dass nicht die Vielfalt an islamischen Organisationen das Hauptproblem auf dem Weg hin zu einer regulativen Islampolitik ist, sondern vielmehr die Unschärfe in der Markierung des religionspolitischen Bereichs, der sich auf den Islam bezieht. Parallel dazu würde eine Entpolitisierung und die stärkere Selbst-Profilierung bestehender muslimischer Verbände als Verwaltungsorgane der umfassenden Glaubenspflege die staatliche Zusammenarbeit mit ihnen erleichtern. Neben der konsequenten Ausrichtung ihrer Arbeit auf die Glaubenspflege von MuslimInnen in Deutschland unter Berücksichtigung der hiesigen gesellschaftlichen Gegebenheiten und der Lebensbedingungen ihrer Glaubensanhänger würde eine bessere Vernetzung und die Ausbildung einheitlicher Strukturen auf Länderebene ihre Anerkennung als Religionsgemeinschaften und den Umgang mit ihnen von staatlicher und gesellschaftlicher Seite erleichtern.

 

Literatur

  • Spielhaus, Riem/Färber, Alexa (Hrsg.), 2006: Islamisches Gemeindeleben in Berlin, Berlin.

  • Chbib, Raida, 2008: Heimisch werden in Deutschland: Die religiöse Landschaft der Muslime im Wandel, in: Hero, Markus/Krech, Volkhard/Zander, Helmut (Hrsg.): Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen, Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort, Paderborn, 125–140.

 

Raida Chbib ist Politologin und arbeitet als wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionswissenschaft der Uni Bochum und wirkt an der DFG-Forschergruppe zur "Transformation von Religion in der Moderne" am Centrum für Religionswissenschaftliche Studi