Die OECD-Studie „Bildung auf einen Blick 2004“ – eine Ohrfeige für das deutsche Bildungssystem

von Özcan Mutlu

Wer den Bildungsstand eines Landes messen will, sollte den Blick zuerst auf die Beteiligung am Bildungssystem,  die sich beispielsweise an der Zahl der Studienanfänger eines Jahrgangs zeigt, richten. In der Präsentation der OECD-Studie Bildung auf einen Blick 2004 weist das Bundesbildungsministerium zwar darauf hin, dass die Studienanfängerquote in Deutschland von 28 Prozent im Jahr 1998 auf 35 Prozent im Jahr 2002 gestiegen ist.
Gegenüber dem OECD-Durchschnitt von 51 Prozent liegt sie jedoch weit zurück.

Mit seinen mehr als 500 Seiten ist der Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erneut ein schlechtes Zeugnis für das deutsche Bildungssystem. Zu gering der Anstieg der Investitionen in Schulen und Universitäten, hohe LehrerInnengehälter, hoher Unterrichtsausfall und zu große Klassen, besonders in den Grundschulen.

Bildung auf einen Blick ist mehr als eine Datensammlung. Sie ist eine Studie, die alle düsteren Vorahnungen bestätigt hat - drei Jahre nach dem Schock der PISA-Studie, die bei deutschen Schülern eklatante Leseschwächen offenbarte. Verschärfend kommt laut der Studie hinzu, dass deutsche Schüler bis zu ihrem 14. Lebensjahr nur rund 6200 Unterrichtsstunden – auch wenn die Zahl der Unterrichtsstunden nicht unbedingt ein Gradmesser für Qualität ist - absolviert haben und damit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 6800 Unterrichtsstunden liegen.

Überdurchschnittlich viel Geld gibt Deutschland hingegen für Oberstufenschüler und Studenten aus. Ein weiterer Schwachpunkt des deutschen Bildungssystems ist die vergleichsweise geringe Zahl von Akademikern. Während im OECD-Durchschnitt fast jeder dritte Schulabsolvent einen akademischen Abschluss erwirbt, gelang das in Deutschland im Jahr 2001 nicht einmal jedem fünften. Auch bei den öffentlichen Ausgaben für die Bildung bildet Deutschland beinahe das Schlusslicht.

Nur in der Slowakischen und in der Tschechischen Republik wird noch weniger in Bildung investiert als in Deutschland, mit einem Anteil von 9,7 Prozent der öffentlichen Ausgaben. Im OECD-Durchschnitt beträgt dieser Anteil 12,7 Prozent. Sicherlich ist es mit Geld allein nicht getan. Aber ohne entsprechende Investitionen in Bildung ändert sich auch nichts.

Bildungsexperten wie Andreas Schleicher, Koordinator der OECD für die PISA-Studie, werben seit Jahren für mehr individuelle Förderung der Kinder und sprechen sich dagegen aus, Entscheidungen über die weitere schulische Laufbahn von Schülern schon nach vier bzw. sechs Schuljahren zu treffen.

Schon die PISA-Studie vor drei Jahren hat belegt, dass unsere Schulen das genaue Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich erreichen sollten: Sie bieten keine Chancengleichheit, sondern fördern Ungleichheit und zementieren Benachteiligungen von Generation zu Generation. Der Weg, der eingeschlagen werden muss, besteht dagegen darin, die Schule wirklich zu einem Ort des sozialen Lebens und entdeckenden Lernens zu machen, was natürlich gerade bei dem Lehrpersonal eine sehr hohe Motivation, Flexibilität, Experimentierfreude und Veränderung voraussetzt.

Diese Voraussetzung ist aber nur mit innovativen und gerechten Arbeitszeitmodellen und nicht mit mehr Arbeitszeitungerechtigkeit, die zu Lasten der Schülerinnen und Schüler geht, zu erzielen. Eine Lehrkraft wird zukünftig mit einem Bachelor-Studium auskommen müssen, der fachwissenschaftliche Ausbildungsteil wird immer
dünner und erst im MA-Studium richtig Thema. So etwas lässt sich auf dem Hintergrund populistischer Klagen über die „Realitätsferne“ des Studiums leicht durchsetzen.

Ob derart ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer später fähig sein werden, den wachsenden Anforderungen an die fachliche Qualität des Unterrichts gerecht zu werden, steht auf einem anderen Blatt und darf bezweifelt werden.
Das Rad muss nicht neu erfunden werden, ein Blick über den Tellerrand reicht oft aus. Zahlreiche Länder haben in den vergangene Jahren und Jahrzehnten ihre Bildungssysteme reformiert und sich von vielen alten Zöpfen, wie z.B. dem Sitzenbleiben befreit.

Zunächst einmal widersprechen beide OECD-Studien grundlegenden pädagogischen Prämissen unseres Schulsystems. Kinder und Jugendliche sind keineswegs einfach begabt oder eben nicht. Eine Pädagogik, die in erster Linie darauf abzielt, die Lernschwächeren von den Lernstärkeren möglichst frühzeitig zu separieren, in der Annahme, dass homogene Lerngruppen in getrennten Schultypen die besseren Ergebnisse zeitigen, ist falsch. Die Lernschwächeren werden in unserem Schulsystem nicht ausreichend gefördert.

Gleiches gilt für unsere Gymnasiasten, sie erreichen im internationalen Vergleich nur durchschnittliche Leistungen. Bildungssysteme, in denen schwächere Schülerinnen und Schüler nicht einfach in eine andere Schulart abgeschoben werden können, sondern gezielt gefördert und mit allen anderen Schülern gemeinsam unterrichtet
werden, erzielen insgesamt die besten Ergebnisse.

Abgesehen von den insgesamt unterdurchschnittlichen Leistungen gleichen unsere Schulen die unterschiedlichen Einkommens- und Bildungshintergründe der Elternhäuser nicht aus, sondern schreiben sie bei den Kindern und Jugendlichen fort. Das heißt, wer aus einer sozial benachteiligten Familie kommt, bleibt in der Regel auch sozial benachteiligt. Wer im Elternhaus nie gelernt hat, Bildung zu schätzen und Neugier zu entwickeln, der bekommt auch in der Schule nicht die Chance dazu. Wer in einer Migrantenfamilie ohne die deutsche Sprache aufgewachsen ist, kann sie sich meist auch in der Schule nur ungenügend aneignen.

Die Schulen müssen die Möglichkeit erhalten, sich selbst weiterzuentwickeln und ihr soziales Umfeld positiv zu beeinflussen. Dafür brauchen sie die nötigen organisatorischen und finanziellen Freiräume. Gemeinsam lernen und individuell fördern – so muss das Motto einer Schule lauten, die sich auf den Weg gemacht hat.

Autonomie der Schule ist ein Zentralbegriff für uns. Wir wollen die Demokratisierung und gleichzeitig die Verantwortung in den Schulen weiter voran bringen. Veränderungen im Sinne von qualitativer Verbesserung der Schulen und eine entsprechende Lernkultur können nur dann wirksam werden und bleiben, wenn sie von den Beteiligten vor Ort, den LehrerInnen und anderen Beschäftigten, den SchülerInnen und den Eltern, zumindest mit getragen, besser noch selbst initiiert werden. Eine gute Schule ist dadurch charakterisiert, dass sich die Beteiligten mit ihr identifizieren, sie als ihr eigenes Werk ansehen.

Qualitätssicherung und Autonomie sind zwei Seiten einer Medaille und bedingen einander. Regelmäßige Qualitätsuntersuchungen zum Schulsystem müssen ergänzt werden durch den Ausbau der Schul- und Unterrichtsforschung. Die Ursachen des Gelingens und Misslingens von Lernprozessen, über Mängel des Gesamt- und des Einzelsystems, über Stärken und Schwächen in der Unterrichtspraxis, über die Förderung und Behinderung von Lernen und Lernprozessen in der Schule müssen zukünftig noch stärker Aufgabe der Schul- und Unterrichtsforschung werden und in der LehrerInnenausbildung verankert werden.

Die Schule der Zukunft muss der zunehmenden Heterogenität ihrer Schülerschaft Rechnung tragen und sie als Chance nutzen. Sie muss eine Schule für alle Kinder sein. Die PISA-Ergebnisse weisen darauf hin, dass Leistung vor allem durch gemeinsames Lernen und individuelle Förderung und nicht durch Aussortieren entsteht. Wer Spitzenleistungen will, muss alle Schülerinnen und Schüler fördern und fordern.

Dies erfordert notwendig eine Flexibilisierung und Individualisierung von Bildung - eine grundlegende Veränderung des Unterrichts durch eine zeitgemäße Didaktik und eine Orientierung der schulischen Lernsituationen an den einzelnen Schülerinnen und Schülern mit ihren je individuellen Stärken, unterschiedlichen Lernfortschritten oder Schwächen. Ob das bestehende gegliederte System diesem Ziel gerecht wird, ist nicht nur eine Expertendiskussion, sondern längst ein ideologischer Zankapfel zwischen den Parteien. Fakt ist allerdings auch, dass das bestehende System gescheitert ist und mehr als hinderlich ist für eine fortschrittliche Lern- und Unterrichtskultur, die individuelle Förderung und Qualitätssicherung zum Ziel hat.

Auch die aktuelle Debatte über die Funktion der KMK zeigt wie wichtig und dringend Reformen im Bildungsbereich sind. Eine Erkenntnis, die bereits seit Jahren in den Köpfen ist aber bisher zu wenig erkennbaren und durchschlagenden praktischen Schritten geführt hat. Außer dem Ganztagsschulprogramm der rot-grünen Bundesregegierung und der KMK-Festlegung bezüglich längst überfälliger nationaler Bildungsstandards sowie kleiner zaghafter Schritte in den Bundesländern ist nicht viel passiert in der Post-Pisa-Ära.

Inzwischen ist die Auswertung der zweiten PISA-Studie fast abgeschlossen und am 7. Dezember 2004 veröffentlicht. Möge der anstehende zweite PISA-Schock ein heilsamer sein.

 

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Özcan Mutlu ist MdA im Berliner Abgeordnetenhaus und bildungspolitscher Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.