Bildung in der Einwanderungsgesellschaft: Die Auswirkungen von sozialer Herkunft und Migrationshintergrund

von Özcan Mutlu

Die Auswertung der PISA Ergebnisse und die Grundschulstudie IGLU unterstreichen noch einmal deutlich, dass unser Schulsystem in einer Krise steckt. Ein Kernproblem unserer Schulen liegt in einem überkommenen Unterrichtsverständnis: Die Vorstellung, dass möglichst homogene Schülergruppen in der gleichen Zeit das Gleiche lernen, prägt die vorherrschenden Unterrichtskonzeptionen. Damit werden weder Leistungsstarke noch Leistungsschwache gefördert. Das Bildungssystem hat aber die Aufgabe, die Entfaltung der Persönlichkeit zu fördern und die Unterschiedlichkeit der Menschen zu einem zentralen Ansatz von Pädagogik und Didaktik zu machen.

Kinder aus Migrantenfamilien für das schlechte Abschneiden bei PISA verantwortlich zu machen, ist unverantwortlich! Die Trennung in „Inländer“ und „Ausländer“ ist institutionalisiert in unseren Gesetzen, sie prägt die Gesellschaft und ihre Einrichtungen. Schulen bilden keine Ausnahme - so auch einer der alarmierenden Befunde der PISA-Studie, die den engen Zusammenhang zwischen den Bildungschancen und der Herkunft der Jugendlichen eindrücklich belegt. Jugendliche aus sozial schwachen Verhältnissen schneiden am schlechtesten ab und haben es in der Schule offenbar am schwersten. In ganz besonderem Maße trifft dies auf Jugendliche mit Migrationshintergrund zu. Unser Schulwesen wird weder dem demokratischen Anspruch auf Chancengleichheit noch den Anforderungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes gerecht. Die jahrelange Unterfinanzierung der Schulen und die versäumten inhaltlichen Reformen sind der Grund für das schlechte Abschneiden der deutschen SchülerInnen - und nicht die Herkunft der SchülerInnen.

Schülerinnen und Schüler mit einem Migrationshintergrund verteilen sich sehr unterschiedlich auf die verschiedenen Schulformen und Bildungsgänge: Überproportional hoch ist der Besuch Haupt- oder Sonderschule, so auch die Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Schulabschluss; deutlich unterproportional ist dagegen ihr Anteil in Realschulen, den Gymnasien bzw. der gymnasialen Oberstufen. Bildungserfolge der Kinder aus Familien ausländischer Herkunft sind wie bei den einheimischen Kindern abhängig von den der Familie zur Verfügung stehenden materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen. Für die Familien ausländischer Herkunft der ersten Migrantengeneration stellt das Bildungssystem Deutschlands zusätzlich eine Reihe ungewohnter Anforderungen. Häufig fehlt es an Kenntnissen der hiesigen Bildungsinstitutionen, vor allem des gegliederten Schulsystems. Arbeiterfamilien ausländischer Herkunft sind daher kaum in der Lage, eine gezielte Wahl der Bildungsinstitutionen vorzunehmen. Vor dem Hintergrund ihrer geringen bzw. andersartigen Schulerfahrungen ist es Eltern in Arbeiterfamilien ausländischer Herkunft häufig nicht möglich, den Schulalltag zu begleiten bzw. die schulische Stressbelastung ihrer Kinder aufzufangen. Eltern-LehrerInnen-Gespräche scheitern häufig an der sozio-ökonomischen, kulturellen und sprachlichen Distanz, die Kommunikation wird sogar häufig aus Angst und Unsicherheit vermieden. Demgegenüber konzentrieren sich die Lehrkräfte eher auf ihre fachwissenschaftliche Qualifikation und verfügen selten über fundierte pädagogisch-psychologische Kenntnisse und Kompetenzen in der interkulturellen Kommunikation. Es überwiegt häufig eine defizitäre Betrachtung und die Bikulturalität und Bilingualität der SchülerInnen werden eher als Integrationshindernis denn als Ressourcen betrachtet.

PISA zeigt für die in Deutschland aufwachsenden 15jährigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, dass ihre ungünstigeren Lernstände in engem Zusammenhang zu ihren sprachlichen Kompetenzen, insbesondere zur Lesekompetenz stehen. Darüber hinaus wirken sich sprachliche Defizite in Sachfächern kumulativ aus, so dass Jugendliche mit unzureichender Lesekompetenz in allen Schulfächern in ihrem Kompetenzerwerb beeinträchtigt sind. Da die familiären Sozialisationsleistungen – insbesondere in Hinblick auf die Sprachentwicklung, aber auch in Hinblick auf das Verständnis der natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt – bei Familien mit niedrigem Bildungsstand entsprechend eingeschränkt sind, kommen den Bildungsinstitutionen besondere Aufgaben zu.

Eine Einwanderungspolitik, die die gleichberechtigte Teilhabe der Zuwanderer zum Ziel hat und sie dazu befähigen will, muss daher neben die gleichberechtigte politische Teilhabe am Gemeinwesen auch die Möglichkeit der sprachlichen Teilhabe ermöglichen. Erst die Verfügung über die deutsche Sprache in Wort und Schrift ermöglicht eine aktive Auseinandersetzung mit der hiesigen Gesellschaft und ihrer Kultur. Oftmals misslingt sowohl der umfassende Erwerb der Herkunftssprache in der Familie wie der Erwerb von Kenntnissen der deutschen Sprache, insbesondere der Schriftsprache. Der Erwerb der deutschen Sprache wird daher für die Einwanderer auch zum Identitätsproblem.

Da Spracherwerb, Sprachfähigkeit und schulischer Erfolg auf das engste verkoppelt sind, muss dem Spracherwerb im Kindergarten und in der Grundschule hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden. Ein wesentlicher Mangel im Schulsystem liegt im Fehlen durchschlagender interkultureller Curricula und Schulprogramme sowie in der Abwesenheit Lehrkräften mit Migrationshintergrund im Regelunterricht begründet.

Die Förderung benachteiligter Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunft bedarf dringend einer Neukonzeption, da der Anteil der Schulabbrecher und Schulversager unter ihnen unvertretbar hoch ist. Die Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ und das Forum Bildung stellen vor diesem Hintergrund übereinstimmend fest, dass die Bildungsbilanz für die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu den deutschen Schülerinnen und Schülern ungünstig ausfalle und es dem hiesigen Bildungssystem offenbar nicht ausreichend gelinge, die Bildungsbarrieren für Schülerinnen und Schüler aus Familien mit Migrationshintergrund abzubauen.

Die Beherrschung der deutschen Sprache ist dennoch eine entscheidende Voraussetzung nicht nur für den Bildungserfolg, sondern auch für eine gleichberechtigte Teilnahme an der Gesellschaft und steht nicht im Widerspruch zum Wunsch mancher ausländischer Familien, die Muttersprache zu pflegen. Daher ist für alle Bildungseinrichtungen eine stärkere multikulturelle und multilinguale Ausrichtung der Kollegien wichtig. Als besonders wichtig ist die Ausbildung und Fortbildung des Lehrpersonals und deren interkulturelle Qualifikation anzusehen. In den verschiedenen Studienfächern für das Lehramt muss deutlich werden, wie schulischer Unterricht für Kinder mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen und unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zu planen ist. Dies ist nicht nur im Sprachunterricht, sondern auch in den Sachfächern zu berücksichtigen.

Konsequente Förderprogramme zum Abbau von Sprachdefiziten neben der Förderung der Muttersprache, gezielte Maßnahmen zum Erwerb fehlender Schulabschlüsse sowie strukturverbessernde Maßnahmen für Schulen mit hohem Anteil an SchülerInnen nichtdeutscher Herkunft sind in diesem Zusammenhang unabdingbar. Dabei kommt den Kitas als vorschulische Bildungseinrichtung eine große Bedeutung zu. Diese muss sowohl personell, als auch finanziell für die zu bewältigenden Aufgaben gerüstet sein.

Das entlässt allerdings die Eltern und die Familien keineswegs aus der Verantwortung. Die besten Bildungsmodelle und Schulprogramme sind (in der Regel) zum Scheitern verurteilt, solange die Elternhäuser, diese als wichtige Erziehungsinstanz nicht begleiten. Deshalb ist es erforderlich die Elternhäuser zu erreichen und sie für eine bessere Bildung ihrer Kinder zu gewinnen. Es notwendig auch die Eltern zu bilden. Elternbildung, wie sie beispielsweise im Rahmen der Berliner Mütterkurse geschieht, ist sehr wichtig. Aus diesem Grund müssen die Mütterkurse finanziell abgesichert und ausgebaut werden.

Es ist ein Gebot der Stunde „Bildung hat Priorität“ nicht zur Wahlkampffloskel verkommen zu lassen. Jeder Euro, das an der Bildung der Kinder gespart wird, muss die Gesellschaft zukünftig dreifach zurückzahlen!

 

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Özcan Mutlu ist bildungspolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus.