Gibt es einen Paradigmenwechsel in der US-amerikanischen Einwanderungspolitik?

von Britta Grell

Die seit Jahren geforderte "umfassende Reform" des US-amerikanischen Einwanderungs- und Aufenthaltsrechts wird vermutlich nun doch noch eine Weile auf sich warten lassen. Vor wenigen Tagen kündigten wichtige Abgeordnete an, die in den beiden Kammern des US-Kongresses bereits verabschiedeten Gesetzesentwürfe zur verstärkten Grenzsicherung und Migrationsregulierung einer erneuten Prüfung unterziehen zu wollen.

Das normale Procedere hätte vorgesehen, sich in einem Vermittlungsausschuss auf einen Kompromiss zwischen den beiden Vorlagen des Repräsentantenhauses und des Senats (H.R. 4437 und S.R. 2611) zu einigen und diesen an Präsident Bush noch in dieser Legislaturperiode zur Ratifizierung weiterzuleiten. Nun sind stattdessen ab Anfang Juli landesweite Anhörungen zur Klärung der zukünftigen Ausrichtung der US-amerikanischen Migrationspolitik angesetzt. Da diese voraussichtlich den ganzen Sommer andauern werden und zu einer weiteren Polarisierung und Mobilisierung unter Einwanderungsbefürwortern und -gegnern beitragen könnten, erscheint die Verabschiedung eines neuen Gesetzes noch vor den Kongresswahlen im November dieses Jahres immer unwahrscheinlicher.

Was ist passiert? Warum droht das Thema Zuwanderung in den USA, dessen Wirtschaft wie in kaum einem anderen westlichen Land auf die Arbeitskraft von Einwanderern angewiesen ist und wo selbst Erzkonservative stolz auf die Migrationsgeschichte sind, zu einer Art gesellschaftlicher Zerreißprobe zu werden? Zeigt sich in den aktuellen Auseinandersetzungen etwa ein Paradigmenwechsel, mit dem sich die USA langfristig von ihrer auf liberalen Grundhaltungen basierenden Einwanderungspolitik verabschieden werden? Um diese Fragen sinnvoll diskutieren zu können, bietet sich die Betrachtung der aktuellen Gesetzesinitiativen im Kontext des US-amerikanischen Migrationsregimes seit dem Zweiten Weltkrieg an.

Sicherheitsfragen

Der im Repräsentantenhaus bereits im Dezember 2005 angenommene Gesetzesentwurf H.R. 4437, der die beeindruckenden Massenproteste der letzten Monate provoziert hatte, spiegelt am deutlichsten die Tendenz in den USA und anderen Ländern wider, Einwanderungsfragen immer stärker mit Anliegen "nationaler Sicherheit" zu verknüpfen. So trägt das mehrere Hundert Seiten lange Gesetzespaket auch den Titel "Border Protection, Antiterrorism, and Illegal Immigration Control Act". Es sieht neben der Abschaffung der Green-Card-Verlosung diverse Maßnahmen zur weiteren Aufrüstung der Grenze zu Mexiko vor. Nicht nur die "illegale Einreise" und der "illegale Aufenthalt" sollen unter Strafe gestellt werden, auch Ärzte, Kirchenvertreter und Mitarbeiter von karitativen Einrichtungen, die Menschen "ohne Papiere" unterstützen, würden nach diesem Gesetz mit staatlicher Verfolgung und Haftstrafen von bis zu 5 Jahren rechnen müssen. Damit geben die Gesetzgeber vor, das Land sicherer machen und Kriminalitätsraten senken zu wollen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Nöte des "Durchschnittsamerikaners" ernst zu nehmen.

Vor allem in Bezug auf die Sicherheitslage ist dies eine völlig irrationale Argumentation, die allerdings gerade in der Bevölkerung im Mittleren Westen und im Südosten des Landes, die in letzter Zeit in größerem Maße "illegale Einwanderung" erfahren haben, auf eine nicht zu unterschätzende Anhängerschaft stößt. Daher müssen einige der rigiden Vorschläge im Repräsentantenhaus – wie Masseninternierungen und -abschiebungen, die in der Praxis kaum umzusetzen wären – wohl vor allem als ein Zugeständnis der Abgeordneten (von denen sich zwei Drittel angesichts der "midterm elections" im Herbst mitten im Wahlkampf befinden) an ihre weiße konservative Wählerschaft und verschiedene einflussreiche rechte Lobbygruppen in ihren Heimatbezirken verstanden werden.

Obwohl sich die im Gesetzesentwurf H.R. 4437 widerspiegelnde Verschärfung "fremdenfeindlicher" Stimmungen maßgeblich auf die Ereignisse von 9/11, die von Regierung und Medien geschürte Angst vor weiteren terroristischen Angriffen und eine allgemeine diffuse Verunsicherung zurückführen lässt, handelt es hierbei nicht um ein völlig neues Phänomen. Die Geschichte der USA ist reich an Beispielen, in denen die Bürgerrechte von "non-citizens" außen- und sicherheitspolitischen Belangen untergeordnet oder geopfert wurden. Die jahrelange Zwangsinternierung von in den USA lebenden Japanern während des Zweiten Weltkrieges, die Benachteiligung von politisch Verfolgten aus Ländern mit Militärdiktaturen gegenüber anderen Gruppen von Staatsbürgern (wie z.B. den Kubanern) zur Zeiten des Kalten Krieges und aktuell die verfassungswidrige Freiheitsberaubung und Entrechtung von ausländischen "Terrorverdächtigen" im Zuge des "Patriot Acts" sind hierfür nur die prominentesten Beispiele.

Wirtschaftliche Interessen

Neben "nationalen Interessen" in Kriegs- und Krisensituationen spielten in der US-Einwanderungspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert arbeitsmarktpolitische und ökonomische Überlegungen eine herausragende Rolle. Mit dem "Immigration Act" von 1952 wurden auf rassistischen Kriterien basierende staatliche Diskriminierungen gegenüber asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Einwanderern – die mit dem "Chinese Exclusion Act" von 1882 und dem "Immigration Act" von 1917 ihren Höhepunkt erreicht hatten – aufgehoben und klare Auswahlkategorien für die Zulassung entwickelt: Dazu gehören bis heute die Bevorzugung von Familienangehörigen eingebürgerter MigrantInnen sowie die berufliche Qualifikation der Bewerber.

Über das Bracero-Programm sind zwischen 1942 und 1964 fast 5 Millionen mexikanischer Arbeitskräfte ins Land geholt worden; anfänglich, um Engpässe in der Agrarwirtschaft und kriegswichtigen Produktionszweigen zu überbrücken, später, um die Löhne niedrig und somit auch die Preise konkurrenzfähig zu halten. Hiermit wurden befristete Arbeitsvisa neben der Anwerbung dauerhafter Einwanderer zu einem integralen Bestandteil des US-Migrationsregimes. Auf dieses erste größere moderne "Gastarbeiterprogramm" (Bracero geht auf das spanische Wort Brazos zurück und bedeutet soviel wie "helfende Hände") folgte der "Immigration and National Act" (1964), der das bis dahin vorherrschende System der Länderquoten abschaffte und neben dem Schutz der Familie die Präferenzen unterschiedlicher Wirtschaftssektoren ins Zentrum der Zulassungspolitik rücken sollte.

Seitdem gibt es mehrere Zeitarbeiterprogramme. Diese sind vorwiegend auf die Nachfrage nach billigen Saisonkräften in der Landwirtschaft (insbesonders im Südwesten der USA) und in der Tourismusindustrie (H-2A und H-2B Visa Programs) abgestellt und sollten zudem den hohen Bedarf von Arbeitgebern (u.a. in der EDV-Branche) an jungen, flexiblen und hoch qualifizierten ausländischen Universitätsabsolventen abdecken (H-1B Visa Program). Während die zahlreichen Kritiker von "Gastarbeiterprogrammen" in den USA das mit ihnen verbundene Lohndumping, die Verdrängungsprozesse von Einheimischen und die – durch die Bindung der Aufenthaltserlaubnis an einen spezifischen Arbeitgeber strukturell angelegten – Ausbeutungsverhältnisse beklagen, fordern Befürworter höhere Quoten. Diese sollen vor allem niedrig qualifizierten Bewerbern zugute kommen, die aufgrund der vom Staat zu niedrig angesetzten Kontingente kaum eine andere Chance hätten, als "illegal" oder mit einem Besuchervisum in die USA einzureisen, und aufgrund der erhöhten Risiken, die mit Grenzübertritten verbunden sind, gegen ihren Willen immer länger im Land blieben.

An diese Problematik knüpft der im Mai 2006 im Senat angenommene Gesetzesentwurf (S.R. 2611) mit dem Titel "Comprehensive Immigration Reform Act" an. Die Senatsvorlage, die u.a. von Präsident Bush und zahlreichen etablierten ImMigrantInnenverbänden unterstützt wird, fordert neben einem abgestuften Legalisierungsprogramm, das diverse Voraussetzungen (wie z.B. den Erwerb von Englischkenntnissen oder eine bestimmte Aufenthaltsdauer) nennt, auch ein neues Programm für gering qualifizierte Arbeiter. Mit diesem würden jährlich bis zu 325.000 Einwanderer ein temporäres Visum erhalten und die Zahl der permanenten Arbeitsvisa von derzeit jährlich 140.000 auf 450.000 erhöht werden, von denen 135.000 für Niedriglohnkräfte reserviert wären. Wer 6 Jahre in den USA arbeitet und sich in diesem Zeitraum nicht länger als 60 Tage arbeitslos meldet, würde das Recht auf eine "Green Card" erhalten. Zusätzlich sollen für diejenigen, die sich dauerhaft in den USA niederlassen möchten, Möglichkeiten zur Einbürgerung eröffnet werden.

Reizthema "illegale Einwanderung"

Auch wenn es als eine gewisse Ironie der Geschichte erscheint, dass gerade zu einem Zeitpunkt, an dem sich die bundesdeutsche Politik von temporären Gastarbeiterprogrammen als einem Fehler der Vergangenheit verabschiedet hat, diese in den USA als Lösungsansatz für das "Einwanderungsproblem" propagiert werden, würde eine Ausweitung der bereits vorhandenen Programme keinen Bruch mit dem bisherigen Migrationsregime darstellen. Es ist vielmehr zu befürchten, dass sich das Reizthema "illegale Einwanderer" zu einem Lackmustest für den zukünftigen gesellschaftlichen und politischen Umgang mit ihnen und anderen unliebsamen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen entwickeln könnte.

Bislang waren Menschen ohne Einreise- oder Aufenthaltserlaubnis in den USA, die bei einem Grenzübertritt aufgegriffen oder bei Razzien von Mitarbeitern des 2003 in das Heimatschutzministerium integrierten "Immigration and Naturalization Services" (INS) im Land festgenommen worden waren, meist "nur" kurzfristig festgehalten und abgeschoben worden und konnten danach – bei entsprechenden Mitteln und Kontakten – einen erneute Einreise wagen. Da es in den USA bislang keine Meldepflicht und keine Personalausweise gibt und die lokalen Behörden (inklusive der Polizei) in der Regel auf eine Kontrolle des Aufenthaltsstatus verzichten, war es für viele der schätzungsweise 10 bis 12 Millionen "undocumented" in den USA – verglichen z.B. mit der Situation in Deutschland – daher lange Zeit wesentlich einfacher, sich mit Hilfe von Familiennetzwerken dauerhaft niederzulassen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, eine medizinische Notbehandlung zu erhalten oder – wie in zahlreichen Bundesstaaten möglich – offiziell einen Führerschein zu erwerben, der oftmals als Ausweisersatz akzeptiert wird. Diese Phase des Laisser-faire, in der die "Menschen ohne Papiere" als fleißige und billige Arbeitskräfte geduldet wurden und dafür – waren sie einmal im Lande – mit keinen größeren Schikanen und Repressalien rechnen mussten, scheint allerdings vorbei zu sein.

Konnten 1986 mit dem "Immigration Reform and Control Act" noch eine Legalisierung von etwa 3 Millionen Menschen, vorwiegend aus Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern, durchgesetzt werden, so erscheinen heute die Aussichten progressiver und gemäßigter Kongressabgeordneter, im Gegenzug für ihre Zustimmung zu einer weiteren Grenzaufrüstung erneut eine ähnliche "Amnestie" im neuen Einwanderungsgesetz unterbringen, eher gering. Zu sehr hat sich das Klima in einigen der wichtigsten Bundesstaaten, insbesondere in Texas oder Kalifornien (wo schätzungsweise ein Viertel aller "undocumented" leben) zuungunsten der neuen MigrantInnen verändert.

Bereits 1994 stimmte eine Mehrheit der kalifornischen Bevölkerung für ein regionales Gesetz (Proposition 187), das bei seiner Umsetzung selbst Kindern von "Illegalen" den Zugang zu einer Schulbildung und Gesundheitsversorgung verwehrt hätte. Zwei weitere Volksabstimmungen (Propositions 209 u. 227) in den Jahren 1996 und 1998, in denen die Bürger für die Abschaffung von Fördermaßnahmen für Minderheiten (Affirmative Action) und ein Ende des bilingualen Schulunterrichts votierten, machen den Umschwung deutlich. Weiterhin hält sich hartnäckig das Gerücht, dass viele MigrantInnen zu stark von Sozialprogrammen profitieren und dem Steuerzahler auf der Tasche liegen, obwohl der Kongress bereits Mitte der 1990er Jahre mit der so genannten "Welfare Reform" dafür gesorgt hat, dass neu eingewanderte MigrantInnen keinerlei Sozialhilfe oder staatliche Unterstützung mehr in Anspruch nehmen dürfen. Das scheint jedoch viele Lokalpolitiker und paramilitärische Gruppierungen wie z.B. die "Minutemen" nicht davon abzuhalten, Hatz auf "Illegale" zu machen. So rief der Bürgermeister der Kleinstadt Costa Mesa in Orange County (in der Nähe von Los Angeles) bereits im Vorgriff auf die angekündigten Verschärfungen der Kontrollen im Landesinneren die Bewohner dazu auf, "Menschen ohne Papiere" aufzugreifen und der Polizei zu übergeben.

Die nächsten Monate werden zeigen, wie weit sich die Abgeordneten von solchen Entwicklungen weiterhin unter Druck setzen lassen. Vielleicht gibt es gute Gründe, auf eine Verschiebung der Entscheidung über eine neue Migrationsgesetzgebung zu hoffen. Es ist ja nicht völlig ausgeschlossen, dass die Demokraten ab Ende des Jahres wieder über eine Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügen werden. Wenn nicht, sieht es schlecht aus für die Bürgerrechte, nicht nur für die von MigrantInnen.

 

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Britta Grell ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am John F. Kennedy Institut der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, soziale Bewegungen und Zivilgesellschaft in USA und Deutschland.