von Susanne Stemmler
Von der städtischen Krise zur Kreativität
Die Ausdrucksformen des Hip-Hop, sei es Breakdance, Rap, DJing, Graffiti oder die Mode, sind durch die sozialen Spannungen Ende der 70er Jahre in der South Bronx geprägt. New York befand sich damals im Übergang von einem industriell geprägten Standort zu einer so genannten ‚postindustriellen’ Stadt: Alte Arbeitsplätze fielen weg, Schulen in Harlem, Brooklyn und der Bronx waren unterausgestattet und große Sozialsiedlungen entstanden. Durch Fehlmanagement von Stadtplanern, Demographen und Politikern wurden African-Americans und ‚Latinos’1 in Ghettos marginalisiert. Es formierte sich ein jugendliches Protestpotential gegen das ‚weiße Amerika’. Dieser Umstand ist wichtig, um den Entstehungskontext des Phänomens zu verstehen. Diese fatale Situation findet in „The Message“, einem Rap-Klassiker von Grandmaster Flash & The Furious Five, einen sprachlichen und musikalischen Ausdruck. Ein Ausschnitt daraus vermittelt eine Zustandsanalyse von 1982:
[…] Got a bum education, double-digit inflation
Can’t take the train to the job, there’s a strike at the station
Don’t push me cause I’m close to the edge
I’m tryin’ not to lose my head
It’s like a jungle sometimes it makes me wonder
How I keep from going under. […]
Der Mangel an städtischer Infrastruktur und Bildung führt zu einer Krise für die BewohnerInnen, in der es lediglich eines kleinen Anlasses bedarf, um zu kippen. Die städtische Umgebung wird als bedrohlicher ‚Dschungel’ empfunden, in dem man leicht untergehen kann. Soweit die Innensicht. Von außen wurde von der gefährlichen „burning Bronx“ gesprochen. Dieses Bild hat sich bis heute in die Köpfe von JournalistInnen eingeprägt. Auch wenn sie ganz andere Städte beschreiben oder dieses Image gar erst selbst im Mediendiskurs produzieren. So geschehen im Fall der Berichte über die Banlieue-Unruhen vor einem Jahr in Frankreich oder Neuköllner Schulen in Berlin.
Zurück in die South Bronx: Die oben beschriebene angespannte Situation wird in etwas ganz Neues, in Kreativität verwandelt: Afroamerikanische Ausdrucksformen, im Zuge der Urbanisierungprozesses in den nordamerikanischen Städten präsent, und afrokaribische performative Traditionen der Einwanderer aus Puerto Rico verbinden sich in New York zur Ausdruckspraxis des Hip-Hop. Sie schreibt seitdem eine unendliche Erfolgsgeschichte: In den letzten 30 Jahren hat sich Hip-Hop durch Musikfernsehen und andere Vermittlungswege als globales Phänomen verbreitet. Er hat lokale Ausprägungen in den unterschiedlichsten Weltgegenden mit eigenen Sprach- und Inszenierungsformen hervorgebracht. Hauptschauplätze sind die multikulturellen Räume der großen Städte.
Dieses Wechselverhältnis von Urbanität und Hip-Hop stellt zwei Seiten einer Medaille dar: Der multikulturelle Kosmos der South Bronx verschmolz afro-nordamerikanische und afro-karibische Kulturpraktiken zur hybriden Ausdrucksform des Hip-Hop. Generell sind große Städte bevorzugte Zielpunkte für ZuwanderInnen, sei es aus dem Umland oder aus anderen Ländern. Auch heute wirkt die Stadt wie ein Katalysator für die Hip-Hop-Kultur, denn es sind meist multikulturelle Stadtteile oder Vororte, in denen Hip-Hop entsteht.
Städtischer Raum und musikalische Netzwerke
Städte verdichten historische Prozesse, stehen dabei in einem Spannungsverhältnis von regionaler und globaler Kultur, aber auch von Zentrum und Peripherie. Es gäbe keinen Hip-Hop ohne all die Orte, die Clubs aber auch die Straßen und ungenutzten Brachen einer Stadt. Nicht ohne Studios, Produktionsfirmen und Labels, die in einer Stadt ansässig sind und den ‚sound of a city’ prägen. Bestimmte Viertel haben unterschiedliche Wertigkeiten – ‚das Ghetto’ existiert real und imaginär, es entfaltet auch außerhalb der USA eine starke Wirkmacht sowohl für die Produktion und die Rezeption von Rap.
Dabei unterscheiden sich die europäischen Städte von der Struktur her von den US-amerikanischen. Die Städte in den USA sind räumlich stärker segregiert. Die Solidarität einzelner städtischer Communitties gleichen den fehlenden Sozialstaat aus und wirken geschlossener. Inner city – in den USA oft mit Hip-Hop gleichgesetzt – bedeutet oft eine verwahrloste gettoisierte Innenstadt, aber kein Stadt-Zentrum im europäischen Sinne. Jede Stadt hat ihre eigene Geographie in Bezug auf kulturellen Mix: In Berlin liegen die multikulturellen Bezirke geographisch in der Nähe der machtpolitischen ‚Mitte’. Die infrastrukturell vernachlässigte Pariser banlieue, auf die sich französischsprachige Rapper ganz explizit beziehen, indem sie sich etwa nach deren Autokennzeichen (92, 93) nennen, zeichnet sich durch eine große räumliche Ferne vom kulturellen und politischen Zentrum der Grande nation aus und hat wiederum nichts mit einem wohlhabenden Berliner Vorort im Grünen zu tun.
Und doch scheint das Lebensgefühl, der Ausdruck einer spezifischen urbanen Situation in all diesen Städten untrennbar mit Hip-Hop verknüpft. Die Orte des translokalen Netzwerks Hip-Hop sind neighborhood, ghetto, hood, block, barrio, Kiez, sokak … Die Strasse ist der öffentliche Raum schlechthin und seit jeher Ort der Rezitatoren. Jugendzentren spielen auch im ländlichen Raum bei der Herausbildung lokaler Rap-Szenen und regionaler musikalischer Netzwerke eine wichtige Rolle, so der Geograph Christoph Mager. Das macht deutlich, dass es sich um etwas Transportierbares handelt. Gabriele Klein und Malte Friedrich haben in ihrem Buch Is this real? gezeigt, dass das die städtischen Symbole des Hip-Hop in verschiedenen Kontexten zitiert werden können und so ein urbanes Lebensgefühl herstellen, eben auch auf dem Land oder in der Kleinstadt.
Kontaktzone Stadt
Städte sind seit Jahrhunderten Orte großer, sozialer, kultureller und ethnischer Diversität. Sie sind bevorzugte Zielpunkte von Migration. Dadurch werden sie zu Kontaktzonen, in denen sich die Wege von Menschen kreuzen, die ganz unterschiedliche Differenz-Erfahrungen haben, sei es aufgrund von Kolonialisierung, Besatzung und/oder Migration. Es ist dieses Zusammentreffen verschiedener kultureller Formen in der Kontaktzone Stadt, das etwas Neues entstehen lässt. Der kubanische Soziologe Fernando Ortíz prägte für diese Prozesse in kolonialen Situationen den Begriff Transkulturation. Sie spielt sich – gerade in der Stadt – natürlich nicht in einem hierarchiefreien Raum ab. Angehörige untergeordneter oder marginaler Gruppen wählen aus dem Material einer dominanten oder städtischen Kultur aus und stellen es in einen neuen Zusammenhang.
Damit ist klar, dass es auch heute nicht mehr um die Frage von Multikulturalität in den Städten geht, sondern eher um komplexe transkulturelle Prozesse. Eine solche Betrachtungsweise ermöglicht es dann auch zu beschreiben, wie sich dominante Kulturen häufig die kulturellen Praxen marginalisierter Gruppierungen aneignen und sie bis hin zur Unsichtbarkeit in die Mainstream-Kultur absorbieren. Dieser Mechanismus trifft insbesondere auf die deutsche Hip-Hop-Rezeption in den 90er Jahren zu.
Als der Hip-Hop aus den USA in der Mitte der 80er Jahre nach Europa gelangte, traf er auf eine städtische Bevölkerung, die enge kulturelle oder familiäre Verbindungen zu den ehemaligen Kolonien der alten imperialen Mächte hatte. Wir haben es mit einer Bewegung zu tun, die den Effekt des Kolonialismus verkörpert wie ein Boomerang, so der Titel der CD der senegalesischen Gruppe Daara J (2003).
Zum Beispiel lebten in den Hochhaussiedlungen am Rande der Städte in Frankreich mittlerweile in dritter bis vierter Generation überwiegend Franzosen, die einen maghrebinischen, karibischen oder westafrikanischen Hintergrund haben. In Paris und anderen großen französischen Städten entsteht dadurch seit den 80er Jahren und vor allem zu Beginn der 90er Jahre eine sehr spezielle Version des Rap à la Française.
In den großen Ballungsgebieten Deutschlands, etwa im Rhein-Main-Gebiet, in Hamburg oder später in Berlin ist es eine ganz andere Mischung, die zunächst den Breakdance, dann später erneut und dafür umso heftiger, Rap-Musik aufnimmt. Als Land mit einer viel kürzeren Kolonialzeit und einer anderen Einwanderungsgeschichte sind hier es zunächst eher gemischte Crews mit afro-deutscher, italienisch-deutscher, spanisch-deutscher, oder türkisch-deutscher Besetzung, die auf Englisch, dann auf Deutsch rappen.
‚Multisprech’
Was sonst drückt besser die diversen Lebenssituationen aus, in denen Menschen sich befinden können, als ihre Sprachen, in denen sie sich zuhause fühlen? Manchmal viel mehr zuhause als vielleicht an einem Ort oder in einer Stadt. Ein Franzose kamerunischer Herkunft in Paris beherrscht die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht. Oder besser gesagt: die Sprache beherrscht ihn, denn das Französische unterdrückte im Zuge einer rigorosen Assimilierungspolitik die lokalen westafrikanischen Sprachen. Akzent und Sprachmischung gelten heute noch im öffentlichen Raum abwertend als ‚anders’ markiert.
In Berlin ist das nun ganz anders: Deutsche mit türkischem Background z.B. mussten die neue Sprache erst lernen. Auch für hier Geborene, die besser Deutsch als Türkisch sprechen, hat das noch eine Relevanz. Türkisch nimmt im Stadtraum einen ganz anderen Differenz-Status ein: Man kann sich verständigen, ohne dass es die Mehrheitsgesellschaft versteht. Indem man die andere Sprache benutzt oder eine ganz neue Mischung aus beiden schafft, kann man durch das selbstbestimmte Nutzen einer ‚anderen’ Ausdrucksform neue Perspektiven auf die Stadt werfen. Eingewanderte AfrikanerInnen, aus dem Kongo, dem Senegal oder aus Angola etwa, befinden sich wiederum in einer ganz neuen Sprachsituation. Sind sie bereits an eine Situation der Zwei- oder Mehrsprachigkeit gewöhnt, so finden sie sich plötzlich in einer dritten oder vierten wieder, der deutschen. Nun basiert aber Rap auf dem spezifischen flow einer Sprache, auf den Spielen, die man mit ihr anstellen kann. Verschiedene Sprachen können ‚Multisprech’ werden, ein Mehr an Ausdrucksmöglichkeiten sein. Das wird deutlich in einer Diskussion im Forum des Internet-Hip-Hop Magazins MZEE am 23.2.2003:
MC Ayem: “Ihr müsst mir mal helfen. Ich hab kein Plan ob ich auf Türkish oder auf Deutsch rappen soll. Langsam muss ich mich mal entscheiden.“
H aka N: “Iki dil de iyidir. Beide Sprachen. Türkisch flowt sehr geil. Deutsch verstehen dich mehr.”
Kata$trophal. “auf jeden Fall beides! immer so, wie du dich fühlst! peace.“
Das Kriterium der Adressaten spielt in der zweisprachigen Situation offenbar eine große Rolle, ‚Multisprech’ wird aber als Möglichkeit betrachtet, dem eigenen Lebensgefühl Ausdruck zu verleihen. Es kann so Differenzen hörbar machen, die durch die Mehrheitsgesellschaft oft unsichtbar gemacht werden.
Ausdruck des Diversen in der Stadt
Zwischen Paris und Dakar, aber auch zwischen Berlin und Istanbul, entwickeln sich seit Ende der 90er Jahre sehr ausdifferenzierte Rap-Szenen. War Jazz einst für Amerika ein „transkulturelles Experimentierfeld, in dem man sich losgelöst von ethnischen, nationalen oder sozialen Vorurteilen verwirklichen oder verkaufen darf“, wie Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, so gilt das heute für den Rap. Er funktioniert jenseits nationaler oder ethnischer Zugehörigkeiten und beschreibt ein Lebensgefühl oder eine Protesthaltung in der Stadt.
Das Problematische daran ist jedoch, dass z.B. Afro-Deutsche oft auf Rap festgelegt werden. Rassistischen Stereotypen folgend werden nicht-weiße Deutsche häufig automatisch in den Bereich Hip-Hop als ‚black thing’ verwiesen, weil es oft das einzige Deutungsmuster ist, das man aus der US-Popkultur zu kennen meint. Das führt letztlich dazu, dass die Breite der Berufsfelder in Deutschland, aber auch in Frankreich in keinster Weise die gesamtgesellschaftliche Realität widerspiegelt. So wird der Ausdruck von Diversität, gerade im kommerziellen Bereich, wieder in seine festen Schranken verwiesen.
Diese Tendenz zu Homogenität widerspricht aber der zuvor beschriebenen Dynamik von Hip-Hop als Ausdrucksform in transkulturellen Prozessen. Er hat das Potential, Grenzen zu überwinden, auch innerhalb der Stadt, etwa zwischen Ost und West in Berlin, wie David Devilist, MC und Mitarbeiter der Kreuzberger Musikalischen Aktion und der deutsche host von End of the Weak, einem unabhängigen MC-Wettbewerb, der regelmäßig in New York, Berlin, Paris und Madrid stattfindet, betont. Johannes Erdmann, ein MC aus Berlin, der Musik unter dem Pseudonym Joedas E=Mc² macht, sagt: „Wenn Leute verschiedenster Klassen zusammen rappen, so ist das weniger eine Frage der Ethnie, sondern der Einstellung.“
Rap verkörpert das ‚Unreine‘, die ‚Bastardisierung‘, die vor allem in den Städten entsteht (z.B. auf dem Sampler Barcelona zona bastarda 2002). Er wendet die Position der Minderheit radikal in ihre Positivität. Dabei verfahren Rapper nach dem Prinzip der Blacks in den USA oder der beurs 2 in Frankreich, die sich einen von der Mehrheitsgesellschaft an sie herangetragenen Begriff aneignen. Das unterläuft monokulturelle Normvorstellungen in einem städtischen Raum, der für eine junge Generation oft ein umkämpfter Raum ist. Gerade Sprachmischungen in Form verschiedener Multiprechs, z.B. Spanglish, Türkisch-Deutsch oder Arabisch-Französisch lassen für den Außenstehenden etwas Diverses und für den Sprechenden etwas Vertrautes durchscheinen. Es handelt sich um einen Stimmenpluralismus, der in urbanen Räumen entsteht und das vermeintlich ‚periphere‘ ins Zentrum rückt. So führen Rap-Musik und HipHop-Kulturen vor, dass Identitäten beweglich sind und stets neu ausgehandelt werden müssen.
Dezember 2006
Anmerkungen
(1) Latino ist ein gesellschaftspolitisch konstruierter Begriff, um in den USA lebende Menschen aus spanischsprachigen Regionen zu bezeichnen. Er ist einerseits problematisch, weil er nicht differenziert zwischen den unterschiedlichen Migrationsgeschichten, etwa der langansässigen Puertoricaner, die aus einem US-Territorium kommen, oder den Mexikanern und den relativ neuen Einwandern aus Kolumbien oder Ecuador. Andererseits trägt dieser Begriff zur Selbstdefinition einer Gruppe jenseits ihrer nationalen Zugehörigkeit bei. Sie konstituiert sich damit als politisch handelndes Subjekt innerhalb der in den letzten Jahren immer angespannter geführten Einwanderungsdebatte in den USA.
(2) Der Begriff beur (eine entsprechend den Regeln des Sprachspiels verlan silbenverdrehte Version von ‚arabe‘) wird heute als Selbststilisierung der Franzosen mit Maghreb-background immer weniger gebraucht und ist fester Bestandteil des französischen Wortschatzes. Er wird von der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere von den Medien, benutzt. Analoge Bildungen zu amerikanischen Bindestrich-Kreationen wie etwa ‚African-American‘ oder ‚Mexican-American‘ sind in Frankreich wenig verbreitet, was auf den unterschiedlichen Stellenwert von Ethnizität in französischen und US-amerikanischen Diskursen über das Konzept der Nation zurückzuführen ist.
Dr. Susanne Stemmler, Kulturwissenschaftlerin, ist Postdoc-Stipendiatin der DFG im Transatlantischen Graduiertenkolleg Berlin – New York am Zentrum f. Metropolenforschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte: Kultur u.Globalisierung, frankophone Literatur u. Film.