Nationaler Integrationsplan – Teilhabe mit Chancen für Mädchen und Frauen?

leerer stuhl mit lamettaresten

von Regina Kalthegener

Seit Mitte der 90ger Jahre erfreuen sich „Nationale Aktionspläne“, besonders zu frauenspezifischen Belangen,  wachsender Beliebtheit. Solche Aktionspläne resultieren als Arbeitsauftrag entweder aus internationalen Verpflichtungserklärungen oder aus nationalen rechtspolitischen Auseinandersetzungen und enthalten gesetzliche Vorhaben sowie Einzelmaßnahmen, die der besseren Steuerung gesellschaftlicher Prozesse dienen sollen. Diese wirken oftmals, als wären sie nach dem „Gieskannenprinzip“ beschlossen worden und   für die Umsetzung ist ein so enger Zeitrahmen vorgesehen, als müsste eine „to do“ – Liste nur schnell abgehakt werden, um die zu regelnden Problembereiche „aufzulösen“. Doch Aufgabe der Politik ist es nicht allein Aktionismus zu demonstrieren, indem sie Empfehlungen gibt und Regeln setzt, sondern auch deren Implementierung zu moderieren und durchzusetzen.

So auch beispielsweise im Fall des ersten Nationalen Aktionsplans zur Verhinderung von „Gewalt gegen Frauen, der auf der Internationalen Erklärung und der Aktionsplattform der 4. Weltfrauenkonferenz von 1995 aufbaut. Obwohl eine Reihe von Gesetzen verabschiedet wurden (u.a. das sog. Gewaltschutzgesetz) , konnten Gewalthandlungen und Diskriminierungen kaum reduziert werden. Deshalb wurde ein zweiter Aktionsplan nötig,  der im Herbst 2007 von der Bundesfrauenministerin vorgestellt wurde. Ob damit die weitere Zunahme von Gewalt gegen Mädchen und Frauen aufgehalten werden kann, bleibt fraglich.

Unklarer Integrationsbegriff

Der Nationale Integrationsplan (NIP) soll nun neue Wege und neue Chancen für Migrantinnen und Migranten eröffnen und insbesondere die Lebenssituationen von Migrantinnen verbessern, Gleichberechtigung verwirklichen und Integrationsdefizite beseitigen. Schon im Vorfeld der Arbeiten zum NIP und später in den Sitzungen der Arbeitsgruppe zum Themenfeld 4 „Lebenssituationen von Frauen und Mädchen verbessern, Gleichberechtigung verwirklichen“ fehlte es an einheitlichen Grundlagen. Bereits der zentrale Begriff „Integration“ wurde sehr unterschiedlich ausgelegt. Deshalb war nicht immer in den Diskussionen deutlich, was überhaupt unter „Integration“ gemeint ist: Integration  im Sinne von „Vervollständigung“, „Eingliederung“, „Vereinigung“ (vgl. Duden) – und / oder im Sinne von Assimilation, also „Angleichung“ oder „sich anpassen“ (vgl. Duden)?

Vielleicht war dies ein Anlass für die Bundeskanzlerin, in ihrem Vorwort zum NIP daran zu erinnern, dass es gilt, „ein gemeinsames Verständnis von Integration zu entwickeln“. Der Integrationsprozess scheint noch ein Suchen nach dem zu sein, was Bürgerinnen und Bürger der Aufnahmegesellschaft und Migrantinnen und Migranten als gemeinsame Aufgabe verstehen. Unabhängig von diesem Findungsprozess ist sich zumindest die Bundeskanzlerin sicher: „Nur mit einem umfassenden systematischen Ansatz in der Integrationspolitik kann es gelingen, die Fähigkeiten und Potentiale der Menschen aus Zuwandererfamilien gezielt zu fördern – Potentiale, die wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes sind“. Migrantinnen gelten als Motor für Integration. Ob sie aber nach der Umsetzung des NIP tatsächlich eine reale Chance auf Teilhabe in der Gesellschaft bekommen werden, muss sich noch zeigen.

Umfeld wichtiger als Herkunft –  Rollenverständnis

Von den 15,3 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund sind fast die Hälfte Mädchen und Frauen, die mit besonderen und teilweise erheblichen Schwierigkeiten im Lebensalltag zu kämpfen haben. Neben einer oftmals doppelten Diskriminierung als Migrantinnen und als Frauen hängen für sie die Schwierigkeiten auch mit der Prägung durch ihr soziales Umfeld zusammen.

Zu diesem Ergebnis kommt eine im Herbst 2007 vorgestellte Studie des Meinungsforschungsinstituts Sinus . In Deutschland lebende Einwanderinnen und Einwanderer werden von ihrem Umfeld stärker geprägt als von ihrer Herkunft. Für die Befragten, die überwiegend aus der Türkei, Russland und Südeuropa stammen, seien Religion und ethnische Zugehörigkeit „letzten Endes nicht identitätsstiftend“. „Insbesondere der Einfluss religiöser Traditionen wird oft überschätzt“, resümiert die Studie. Von großer Bereitschaft, sich zu integrieren bis zur völligen Ablehnung, sich in die Gesellschaft einzugliedern reicht die Spanne in den verschiedenen, von den Forschern identifizierten „Milieus“.

Zudem herrschen laut dieser Studie im überwiegenden Teil der Milieus immer noch traditionelle Geschlechterrollen vor. Fünf von acht Milieus hätten tradierte Rollenvorstellungen. Nur drei Milieus stünden der Gleichberechtigung der Frauen offen gegenüber, fasste Welskop-Deffaa, Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ein Ergebnis der Studie zusammen.  

Dennoch wäre es eine Fehleinschätzung, Migrantinnen generell nur als Opfer zu sehen. Aber genau das wird politisch und medial gerne vermittelt.

„Die Migrantinnen“- keine homogene Gruppe

Migrantinnen sind keine homogene Gruppe. Ihre Situation ist höchst unterschiedlich, je nach Herkunftsland, Gruppenzugehörigkeit, Umfeld  und Bildungsstand. Aber dem wird – so scheint es - nicht immer Rechnung getragen. In der medialen Berichterstattung und politischen Diskussion über Integration in Deutschland ist das Bild von „der Migrantin“ auf die Kopftuch tragende, zwangsverheiratete türkische oder kurdische Frau verengt.
Migrantinnen werden in Deutschland meistens als Mütter, Hausfrauen, Anhängsel ihrer Männer und Opfer privater Beziehungsstrukturen wahrgenommen, nicht auch als  emanzipierte Frauen, Angestellte oder selbständige Unternehmerinnen.

So war es auch kaum überraschend, dass bei manchen Beteiligten der AG 4 des NIP der Eindruck entstand, die nachfolgend vorgestellten, vorformulierten Arbeitsaufträge zum NIP resultierten im Wesentlichen aus diesem einseitigen Bild von Migrantinnen. Hinzu kommt, dass zwar in der Einleitung des NIP auch Spätaussiedlerinnen erwähnt werden, diese sowie Migrantinnen aus anderen europäischen, asiatischen, lateinamerikanischen oder afrikanischen Staaten aber nicht besonders im Blickfeld waren.  

Arbeitsziele und Rahmenbedingungen der AG 4

Die vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) koordinierte und in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eingesetzte Arbeitsgruppe 4 „Lebenssituationen von Frauen und Mädchen verbessern, Gleichberechtigung verwirklichen“ sollte die besonderen Probleme und Bedürfnisse von Migrantinnen identifizieren, Defizite benennen und Empfehlungen für Lösungen erarbeiten. Zudem wurden alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgefordert, konkrete Maßnahmen im Rahmen von „Selbstverpflichtungen“ anzubieten .

Da die Aufgaben der AG 4 in der Kürze der Zeit und wegen der Themenfülle unmöglich in einem Plenum bewältigt werden konnten, wurden zwei Unterarbeitsgruppen  eingesetzt mit folgenden Schwerpunkten:

UAG 1 „Integration durch Recht; Partizipation“
- Schutz vor Gewalt im persönlichen Umfeld
- Zivil- und strafrechtliche Aspekte der Zwangsheirat
- Integrationshemmnisse im Bereich des Familienrechts
- Zugang zu Recht und Justiz – Information und Beratung
- Beschäftigung von Migrantinnen in rechtnahen Berufen
- Umsetzung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes
- Partizipation

UAG 2 Stärkungen der Migrantinnen in Familie und sozialem Umfeld, Sexualaufklärung, Gesundheit und Altenhilfe“
- Rollenleitbilder für Männer und Frauen mit Migrationshintergrund
- Stärkung der Frauen in Familie und sozialem Umfeld
- Information über bestehende Unterstützungs- und Hilfestrukturen
- Kultursensible Beratungsangebote und Gesundheitsversorgung
- Migration und Alter

Zu jeder der beiden Unterarbeitsgruppen waren über 30 TeilnehmerInnen eingeladen worden, ungefähr hälftig von staatlichen Stellen der Länder und des Bundes und der Zivilgesellschaft.  Dazu gehörten MigrantInnenverbände ebenso wie Frauenrechtsorganisationen und berufliche Fachverbände.

Die Befürchtung, es würde wieder nur über, aber nicht mit Migranten gesprochen, traf nicht zu. Die Meinung von Migrantinnen und Migranten blieb nicht ungehört und flossen in die Ergebnisse der AG 4 ein. Die gemeinsame Auftaktveranstaltung der beiden Unterarbeitsgruppen fand am 7. November 2006 statt. Daran schloss sich unmittelbar die erste halbtätige von insgesamt sechs Arbeitssitzungen an. Am 7. März 2007 mussten die Arbeitsergebnisse feststehen.

Nach den ersten beiden Arbeitstreffen war abzusehen, dass weder die engen Zeitvorgaben noch die vorgegebene, selektive Themenauswahl genügend Raum für die intensive Beschäftigung mit den einzelnen Schwerpunkten ließ. Die im NIP veröffentlichten Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe stellen deshalb aus Sicht vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer nur eine erste Bestandsaufnahme dar. Die gut angelaufene Zusammenarbeit müsste nach der Veröffentlichung des NIP eigentlich fortgeführt werden. Die Leitlinien müssten mit Inhalt gefüllt und die Arbeit an Details vertieft werden. Deshalb äußerten im Verlauf der gemeinsamen Arbeitstreffen der UAG 1 und UAG 2 Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Wunsch, den begonnen konstruktiven Gesprächsprozess nach Abschluss der Arbeiten zum NIP fortzusetzen. Damit könnten die vielfältigen Potentiale der gerade geformten Gruppe und die unterschiedlichen Kompetenzen für die Förderung des Integrationsprozesses für Frauen und Mädchen genutzt werden. Zudem zeigten sich auch die beteiligten öffentlichen Stellen an einer weiteren Zusammenarbeit mit und einer Beratung durch die beteiligten Expertinnen und Experten der Nichtregierungsorganisationen interessiert.

In Anknüpfung an die bereits geleistete Arbeit und deren Ergebnisse sollte eine vertiefte Auseinandersetzung mit Einzelthemen fortgesetzt werden. Es sollten Themen aufgegriffen werden, die bisher nur ansatzweise oder gar nicht angesprochen werden konnten, z.B. Integrationshemmnisse im Familienrecht, besondere Schwierigkeiten für lesbische Migrantinnen, Ausbildungssituation von Migrantinnen oder Altenhilfe. Eine Entscheidung über die Fortsetzung der inhaltlichen Arbeit über den Rahmen des NIP hinaus steht noch aus.       

Frauenbelange – (keine) Querschnittsaufgabe

„Ohne angemessene Berücksichtigung der Rolle von Frauen und Mädchen im Integrationsprozess, ihrer besonderen Probleme und ihrer spezifischen Bedürfnisse kann Integration nicht gelingen.“ Entgegen dieser Feststellung im Einführungstext zum Themenfeld 4 des NIP wurden die Belange von Migrantinnen nicht als Querschnittsaufgabe berücksichtigt und Arbeitsfelder nicht nachvollziehbar als Unterpunkte des Themenfeldes 4: „Lebenssituationen von Frauen und Mädchen verbessern, Gleichberechtigung verwirklichen“ behandelt. Dies erweckt den Eindruck, dass es nicht für alle Migrantinnen und Migranten gleichermaßen wichtig sei, sich u.a. mit Integration durch Recht, Partizipation, Gewaltproblematik, Rollenbilder, Familienrecht, Gesundheitsfragen oder Fragen des Alters zu beschäftigen. Stattdessen könnte die Meinung entstehen, es handele sich bei diesen Themen „nur“ um frauenspezifische Problembereiche.

Zielführender wäre es sicherlich gewesen, auch bei diesen Themen den Querschnittsgedanken konsequent einzuhalten. Denn durch diese besondere Aufteilung der Themenbereiche stießen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der „Frauen-AG“ immer wieder auf Abgrenzungsprobleme. Themen konnten nur oberflächlich angerissen werden, weil sie inhaltlich Aufgabenbereiche anderer Themenfelder tangierten. Eine Rückkoppelung und ein Austausch unter den AGs waren organisatorisch nicht vorgesehen und fanden auch nicht statt. Aufenthaltsrechtliche Fragen sollten nicht behandelt werden („kein Mandat“) zwecks Abgrenzung zu den parallel stattfindenden Debatten um die Reform des Aufenthaltsrechts.

Beiträge der Länder und Kommunen noch fraglich

Nicht nachvollziehbar ist die Haltung der wenigen in diesem Themenfeld beteiligten Bundesländer und kommunalen Vertretungen: mangels notwendiger Abstimmungsverfahren sahen sie sich zu keinen verbindlichen Zusagen für Maßnahmen und Selbstverpflichtungen in der Lage. Anscheinend waren von dieser Seite die Prioritäten anderes gesehen worden. Vielleicht wurde auch nicht wirklich damit gerechnet, dass es zu verbindlichen Selbstverpflichtungen kommen könnte.

Dies, obwohl der zeitliche Rahmen seit dem 1. Integrationsgipfel 2006 bekannt war, wie auch die Arbeitsinhalte. Insbesondere im Bereich der Opferhilfe, Unterbringung und Finanzierung gefährdeter Mädchen und Frauen spielen die Länder und Kommunen eine entscheidende Rolle. Es ist zu befürchten, dass trotz steigendem Bedarf an Unterstützung alles beim Alten und weiterhin zum Nachteil der betroffenen Migrantinnen bleiben wird.

November 2007

Bild entfernt.

Regina Kalthegener ist Rechtsanwältin in Berlin. Sie war Sprecherin des Forums Menschenrechte und gehörte dem Bundesvorstand von Terre des Femmes e.V. an. Sie vertrat den Verein in der Arbeitsgruppe 4 (UAG 1) zum Nationalen Integrationsplan.