Vielfalt und Pluralität durch Bildung: Kann das der Nationale Integrationsplan leisten?

leeres verwüstetes Klassenzimmer

von Berrin Alpbek

Die Einladung zum Ersten Integrationsgipfel war für die der Türkischen Elternvereine (FÖTED) ein Zeichen dafür, dass unsere bisherige Arbeit wertgeschätzt wurde. Als stellvertretende Vorsitzende der FÖTED habe ich diese Einladung sehr gerne angenommen und habe in der Arbeitsgruppe intensiv mitgearbeitet.

Die  vor 12 Jahren in Deutschland gegründete FÖTED setzt sich seit Jahren für mehr Partizipation und Gleichberechtigung von Menschen mit Migrationshintergrund ein. Unter unserem Dach sind rund 60 Elternvereine aus ganz Deutschland versammelt. All diese Vereine setzen sich seit Jahren für die Interessen unserer Kinder ein. Viele Projekte wie zweisprachige Erziehung in der KITA, Alphabetisierung in der Muttersprache, Aziz-Nesin-Grundschule (Staatliche-Europa-Schule-Berlin) mit deutsch-türkischem Profil, Elternakademie in NRW usw. sind hier als Beispiele zu nennen, die ohne Beteiligung dieser engagierten Eltern nicht möglich wären. Wir versuchen mit unserer Arbeit dazu beizutragen, dass Eltern Selbstbewusstsein und Sicherheit in ihren Erziehungsaufgaben entwickeln können und in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt werden.

Der Integrationsgipfel hat etwas in Bewegung gebracht, was schon längst überfällig war. Denn das Aussitzen der Probleme durch die Politik hat lange Zeit den Austausch zwischen den MigrantInnen und der Mehrheitsgesellschaft erschwert. Eine Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe mit uns als Migrantenselbsthilfe-Organisation war lange Zeit fast unvorstellbar.

Jetzt gibt uns der begonnene Prozess die Möglichkeit, unsere Anliegen an die politischen Entscheider unmittelbar zu adressieren..

Spracherwerb und soziale Ausgrenzung

Für mich stand von vornherein fest, dass ich an der AG 2 „Von Anfang an Deutsche Sprache fördern“ teilnehmen wollte. Schon allein der Titel signalisiert m. E. eine Ausgrenzung anderer Sprachen. Die Arbeit in unserer AG war ausschließlich von der Frage bestimmt: Wie können Migrantenkinder besser Deutsch lernen, damit sie sich besser in das Bildungssystem integrieren lassen. Aber unserer Ansicht nach sind fehlende Sprachkenntnisse nur Symptome. Die tiefer liegenden Ursachen sind in der mangelnden Anerkennung der Migrationswirklichkeit zu finden, die u.a. in der überdurchschnittlich hohen Migrantenarbeitslosigkeit und der damit eng zusammenhängenden sozialen Ausgrenzung der betroffenen Familien zum Ausdruck kommt.

Wir sind davon überzeugt, dass es eine grundlegende Verbindung gibt zwischen Spracherwerb, Integrationsbereitschaft der MigrantInnen und der Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft. Das Erlernen der deutschen Sprache und damit auch die Integration setzt nicht nur Deutschkurse und Förderunterricht voraus, sondern verlangt auch nach Kontakten und Kommunikationsorten, in und an denen Deutsch gesprochen wird.  Die Schule allein reicht da nicht aus .

Nach Ansicht von FÖTED ist die Fokussierung auf die sprachliche Bildung – und einseitig nur auf Deutsch – und das Ausblenden der anderen Integrationsfaktoren ein großer Nachteil des Integrationsplans. Vielmehr sind ganzheitliche Maßnahmen für die Verhinderung von gesellschaftlicher Ausgrenzung von Menschen mit Migrationshintergrund notwendig.

Der Fokus auf die sprachliche Förderung eröffnet jedoch auch  die Chance,, die Aufmerksamkeit der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen auf die Ansprüche der Kinder mit unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Hintergründen zu lenken und solche Bildungskonzepte anzuwenden, die ihre unterschiedlichen Ausgangslagen und Lebensverhältnisse berücksichtigen, ohne sie zu stigmatisieren

Was war für uns wichtig und wofür haben wir uns eingesetzt?

Wir fordern seit Jahren die Kultusministerkonferenz der Bundesländer und die PolitikerInnen auf Bundesebene auf, eine tiefgreifende und radikale Reform des deutschen Erziehungs- und Schulsystems zu beginnen. Folgende Punkte sind dabei für uns wichtig:

  1. Die Einführung eines verbindlichen und kostenlosen Kindertagesstättenbesuchs, um die qualifizierte Früherziehung und Frühsprachförderung aller Kinder zu gewährleisten.
  2. Ein flächendeckendes Angebot von Ganztagschulbetreuung, um die Defizite der sozial- und bildungsschwachen Eltern zu decken, und die Einführung des gemeinsamen Unterrichts aller SchülerInnen bis zur 10. Klasse;
  3. Die verbindliche und kontinuierliche Durchführung des Unterrichts „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ); 
  4. Die Schulung ausreichender Lehrkräfte für das Fach DaZ und die verpflichtende Einbeziehung des Faches DaZ in das Lehramtsstudium. 
  5. Stärkere Berücksichtigung der Situation von SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache und ihres migrationsspezifischen Hintergrundes in Lehramtsstudium und ErzieherInnenausbildung sowie in den Rahmenplänen für Erziehung und Bildung. 
  6. Ausbau der “Zweisprachigen Erziehung” und der “Staatlichen Europaschulen”; 
  7. Die Reform der vorschulischen Erziehungseinrichtungen und der  Schulen, um die Multikulturalität und Mehrsprachigkeit der Migrantenkinder besser zu fördern. Neben Deutsch müssen die großen Minderheitensprachen - wie etwa Türkisch – als muttersprachlicher Unterricht in das Erziehungsprogramm in den Kitas und in die Rahmenpläne der Schulen Schritt für Schritt aufgenommen und ab der ersten Klasse als zeugnis- und versetzungsrelevante Fächer mit einem interkulturellen Ansatz im Unfang von wöchentlich vier Stunden in die Stundenpläne aufgenommen werden. 
  8. Die Qualitätserhöhung und Qualitätssicherung der Aus-, Fort- und Weiterbildung der ErzieherInnen und LehrerInnen muss gesichert werden, damit die kulturelle Vielfalt in Schulen und Gesellschaft gewährleistet wird.
  9. Weitere individuelle Fördermöglichkeiten für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache und aus sozial schwachen Familien sollen bereitgestellt werden. 
  10. Die Förderung der Zusammenarbeit der Eltern mit der Schule und der KITA soll durch die Bereitstellung von Angeboten für Eltern sozial benachteiligter und bildungsschwacher Schichten, insbesondere für Eltern nichtdeutscher Herkunft, ausgebaut werden.
  11. Die Partizipation der Eltern nichtdeutscher Herkunftssprache und aus sozialschwachen Schichten in der Schule soll erhöht werden. Dafür müssen sie ermutigt werden, aktiv am Schulleben ihrer Kinder teilzunehmen und sich zu ElternvertreterInnen wählen zu lassen. Den Eltern, die nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, sollen kostenlose Deutschkurse angeboten werden.

Was haben wir erreicht und was nicht?

Die Diskussionen in der AG waren im Allgemeinen durch eine positive und wertschätzende Atmosphäre gekennzeichnet. Es gab genügend Möglichkeiten für eine konstruktive Mitarbeit. Die Diskussion war aber leider allein auf die Deutsch-Förderung reduziert. Entsprechend lauten die Untertitel des AG-Berichts:

  • Unterstützung von Sprachentwicklung und Spracherwerb durch die Eltern
  • Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen und in Kindertagespflege
  • Durchgängige sprachliche Bildung im Übergang Kindergarten-Schule.

Wir haben vor „Schnellschüssen“ gewarnt, wie dem Einrichten von „Sprachkursen“ für Vorschulkinder, getragen von der Sorge, dass der Aktivismus um „Sprachförderung“ doch wieder nur in Belehrungsaktivitäten münden könnte. Unserer Auffassung nach müsste das Ziel der AG vielmehr sein, die Bedeutung der Sprache für gesellschaftliche Integration und Verständigung - und .zwar nicht nur der deutschen Sprache, sondern auch der Muttersprachen der Migrantenkinder als eine kostbare Ressource anzuerkennen. Es muss endlich anerkannt werden, dass es sich gesellschaftlich „lohnt“, dass diese Kinder ihre Muttersprache sicher beherrschen. Denn die Fähigkeit zur Kommunikation in vielfältigen Handlungszusammenhängen ist heutzutage unverzichtbar.

Die Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt, die der Beschluss der EU-Kommission vom  24.07.2003 und der entsprechende Aktionsplan 2004 -2006 vorsehen, wurde aber leider im NIP nicht angemessen berücksichtigt. Das zeigt sich auch daran, dass Deutschland nicht zu den EU-Ländern gehört, die einen Bericht zu diesem Aktionsplan veröffentlicht haben.

Bildungsproblem: Chancengleichheit

Das deutsche Bildungs- und Beschäftigungssystem hat den MigrantInnen bislang leider wenige Chancen auf gleichberechtigte Partizipation eröffnet. Auch die neuesten Ergebnisse (z.B. die World Vision Studie „Kinder in Deutschland 2007“) unterschiedlicher Untersuchungen belegen, dass diejenigen, die in Deutschland in sozial benachteiligten Familien groß werden, nur in den aller wenigsten Fällen hinreichende Bildungschancen haben. Weil ein möglichst früher Zugang zu den Bildungseinrichtungen und eine durchgängige Betreuung und Förderung der Kinder entscheidende Faktoren für ihren späteren Lebensweg und deren berufliche Karriere sind, war es für uns wichtig, dass das Angebot flächendeckender Betreuungsangebote für alle Kinder  als notwendige Maßnahme in den NIP aufgenommen wird.

Ausgehend von der Tatsache, dass in allen Bereichen unserer Gesellschaft ein Bewusstsein für Vielfalt entwickelt werden muss, sind unsere Forderungen hinsichtlich der Reformierung der vorschulischen Erziehungseinrichtungen und der Schulen weitgehend übernommen worden: Interkulturelle Öffnung, Qualitätserhöhung und Qualitätssicherung in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, Ausbau der interkulturellen Kompetenzen (Mehrsprachigkeit, Empathie, hohe kulturelle Mobilität etc.) des Lehrpersonals, Einsatz von Fachkräften mit Migrationshintergrund, Verbesserung der Rahmenbedingungen in den Kitas, zusätzliche Fördermaßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund.

Erziehungsverantwortung der Eltern fordern und unterstützen

Große Bedeutung wurde der für uns sehr wichtigen Forderung nach der Förderung der Partizipation der Eltern mit Migrationshintergrund in den vorschulischen und schulischen Bildungseinrichtungen beigemessen. So betont der NIP, dass die Mehrheit der Eltern mit Migrationshintergrund am Bildungserfolg ihrer Kinder interessiert ist und aktiv ihre Verantwortung für ihre Kinder wahrnimmt.

In der Öffentlichkeit wird dagegen vielfach ohne Differenzierung das Gegenteil behauptet. Diese Feststellung im Integrationsplan zeigt einen Perspektivenwechsel seitens der Politik. Zweifellos ist es notwendig, dass die Eltern, die Unterstützung bei ihrer schwierigen Erziehungsaufgaben brauchen, auch Hilfe erhalten.

Was ist bei der Umsetzung wichtig und  möglich?

Wir dürfen uns aber nicht zu früh freuen. Die Realisierbarkeit des NIP hängt in erster Linie davon ab, wie weit es der Regierung gelingt, die Mehrheitsbevölkerung davon zu überzeugen, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft sind und gleiche Bildungsrechte und -pflichten haben müssen.

Deshalb dürfen sich Forderungen und Maßnahmen nicht ausschließlich auf die MigrantInnen konzentrieren, sondern müssen auch auf die Mehrheitsbevölkerung abzielen, um ihre interkulturellen Fähigkeiten und die Bereitschaft zum Teilen von Bildungschancen und zur Verantwortung für einen gelingenden Integrationsprozess zu fördern. Die im NIP vorgesehenen Selbstverpflichtungen sind daher nicht ausreichend, wenn sie Prozesse der Ausgrenzung durch Zugangsbarrieren zu Bildung, Arbeit, Wohnen und sozialer Teilhabe durch die Mehrheitsgesellschaft und deren Behebung nicht thematisieren.

Integration bedeutet die gleichberechtigte Teilhabe am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion und Geschlecht. Zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehört Bildung. Integration geschieht vor allem durch Bildung. Daher hat das gesamte Bildungs- und Ausbildungssystem eine Schlüsselfunktion für das Gelingen der Integration von Zuwanderern. Die hierzu von den Bundesländern eingegangenen Selbstverpflichtungen sind noch sehr allgemein gehalten und ohne konkrete Finanzierungsangaben.

"Integration durch Bildung" setzt voraus, dass Migrantenkinder und -jugendliche einen gleichberechtigten Zugang zur Bildung erhalten. Ein Maßstab hierfür ist der Schulerfolg: Sie können als schulisch integriert gelten, wenn sich ihre Leistungen und Schulabschlüsse in der Statistik nicht mehr von denen ihrer "deutschen" Mitschüler unterscheiden. Wir brauchen solche anerkannten Maßstäbe, mit deren Hilfe wir mittelfristig die Wirksamkeit des NIP messen können.

Die entsprechenden gesetzlichen Änderungen sollten natürlich von einem Wandel der Integrationsbereitschaft der Gesellschaft begleitet werden. Die Verabschiedung des veränderten Zuwanderungsgesetzes kurz vor dem zweiten Integrationsgipfel wies jedoch in die entgegen gesetzte Richtung: er war leider von dem gewohnten Geist der Abwehr von Zuwanderung geprägt.

Mit dem Integrationsplan wurde politisch anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und aus demografischen Gründen es auch bleiben wird. Das war ein historischer Wendepunkt. Eine zukunftsweisende Neuorientierung und das Zuwanderungsrecht sollten ursprünglich den Weg ebnen, von der Ausländerabwehr zu einer Gesellschaft, die Einwanderung gestaltet, Integration fördert und Flüchtlinge besser schützt. So dachten wir alle gemeinsam.

Es geht hier nicht darum, die Gesetzesänderungen im Detail zu diskutieren. Aber wie sollen Integrationserfolge erzielt werden, wenn MigrantInnen wie unerwünschte Gäste behandelt werden? Was für einen Eindruck macht es auf Zuwanderer, wenn über Integration ewig diskutiert wird, aber zusätzliche Erschwernisse bei der Einreise ohne große Diskussion beschlossen werden? Aus dem Grund haben wir als FÖTED die Einladung für den Zweiten Integrationsgipfel abgelehnt und setzen uns für eine Verbesserung des Zuwanderungsgesetzes ein.

Man darf nicht vergessen, dass der Erfolg des Nationalen Integrationsplans von der Zusammenarbeit, dem Engagement sowie dem Willen aller Beteiligten abhängt.

November 2007

Link zur Website der Föderation der Türkischen Elternverbände

Bild entfernt.

Berrin Alpbek ist Vorstandsmitglied und bildungspolitische Sprecherin der Türkischen Gemeinde in Deutschland sowie stellv. Vorsitzende der Föderation der türkischen Elternvereine (FÖTED), als deren Vertreterin sie am Ersten Integrationsgipfel teilnahm.