Integration durch Bildung? Was aus erziehungswissenschaftlicher Sicht vom „Nationalen Integrationsplan“ zu halten ist.

leeres verwüstetes Klassenzimmer

Von  Ingrid Gogolin

Der folgende Beitrag stammt aus der Feder einer Beteiligten: Sowohl am Nationalen Integrationsplan (Themenfeld 3: Gute Bildung und Ausbildung sichern, Arbeitsmarktchancen erhöhen) als auch an einer Arbeitsgruppe des „Bundesweiten Integrationsprogramms“, das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entwickelt wird, habe ich mitgewirkt. Es darf (oder muss) mir deshalb eine gewisse Voreingenommenheit durchaus unterstellt werden, mindestens, was die von mir mitberatenen Teile der Dokumente angeht. Das Kapitel „Gute Bildung und Ausbildung sichern, Arbeitsmarktchancen erhöhen“ des Nationalen Integrationsplans ist ein Konsenstext. Es wird von allen daran beteiligten Personen und Institutionen gemeinsam getragen.

Januskopf: Konsens, Vagheit und Einebnung von Divergenzen

Erarbeitung im Konsens – dies ist ein Merkmal des gesamten Prozesses der Arbeit am Nationalen Integrationsplan und dem noch ausstehenden Bundesweiten Integrationsprogramm, das die Eckwerte der Umsetzung des „Plans“ enthalten soll. Damit ist eine Stärke des Gesamtunternehmens gekennzeichnet, die sich zugleich als seine Schwäche herausstellen kann:

Der Prozess war und ist getragen von der Intention der Einbindung möglichst vieler Akteure – in sich selbst also durchaus ein Integrationsprozess, verbunden auch mit einer Einladung zur Mitwirkung an Migranten selbst, also der Anerkennung ihres Anspruches auf Partizipation an einem zivilgesellschaftlichen Prozess. Und zugleich ist der erklärte Wille zum Konsens mit beträchtlichen Kosten verbunden. Zu diesen gehört, dass das eine oder andere heiße Eisen rasch fallengelassen, manches vielleicht auch gar nicht angefasst wurde, um den Konsens nicht zu gefährden. Divergenzen über die Wege und Ziele der Integration, die unter den an den Tischen versammelten Akteuren ebenso bestehen wie in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft, wurden eingeebnet – um der größeren gemeinsamen Sache willen. Ein Beispiel für den Umgang mit Themen, über die Konsens nicht hergestellt werden konnte, ist die Forderung von einzelnen Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Gute Bildung und Ausbildung sichern, Arbeitsmarktchancen erhöhen“, dass ein Nationaler Integrationsplan auch Aussagen über die Integration Zuwandernder ohne legalen Aufenthaltsstatus enthalten müsse. Hierüber konnte keine Übereinkunft hergestellt werden; ergo fehlt die Erwähnung dieses Aspekts im verabschiedeten Text. Immerhin aber sind die Statements, die hierzu vorgelegt wurden, öffentlich zugänglich; sie befinden sich in dem Dokumentationsband, der sämtliche zur Arbeitsgruppe „Gute Bildung und Ausbildung sichern, Arbeitsmarktchancen erhöhen“ beigesteuerten Texte enthält.

Auf Teile der Öffentlichkeit wirken die am Ende publizierten Kapitel des Nationalen Integrationsplans – insbesondere die „Selbstverpflichtungen“ der politischen Instanzen – wohl wie ein Ausbund an Unentschlossenheit, und das nicht zu unrecht. Die niedergeschriebenen Absichtserklärungen entbehren überwiegend der Verbindlichkeit, Überprüfbarkeit, Einklagbarkeit. Vieles überschreitet den Rahmen dessen, was ohnehin geschieht oder beabsichtigt war, nicht. Weite innovative Perspektiven werden nicht aufgemacht; nicht das Wünschbare, sondern allenfalls das Machbare bildet den Maßstab für das als Absichten Niedergelegte.

Dennoch ist es meine (voreingenommene) Einschätzung, dass mit der Vorlage des  Nationalen Integrationsplans ein Meilenstein in der bundesdeutschen Integrationspolitik gesetzt wurde. Viele der Themen, die im von der Vorgängerregierung in Auftrag gegebenen „Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung“ behandelt wurden, sind fortgeschrieben worden, und zwar gewendet in Richtung auf eine – zugegebenermaßen: noch nicht zufriedenstellend ausgefallene – Handlungsorientierung.

Mit dem vorliegenden Nationalen Integrationsplan ist die längst überfällige Perspektive verbunden, Migration und gesellschaftliche Integration in ein Gesamtkonzept einzubinden, in dem Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden (können). Dies birgt die Chance, den Zustand zahlreicher unverbundener und unsystematischer Aktivitäten unter dem Rubrum „Integration“, von denen zuweilen die eine die andere konterkariert, zu überwinden und tatsächlich zu einer aktiven Migrations- und Integrationspolitik zu gelangen, derer die Bundesrepublik Deutschland so dringend bedarf.

Baustelle: Bildungssystem

Das deutsche Bildungssystem wird wohl am meisten öffentlich beachtet, wenn die Rede davon ist, dass die Integrationsleistung in Deutschland das Prädikat mangelhaft mehr als verdient. Dazu tragen nicht zuletzt die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsvergleichsstudien – PISA, TIMSS, IGLU – bei. Seit PISA 2000 interessiert sich auch die breite Öffentlichkeit für die zuvor nur in Expert(inn)enkreisen diskutierte  bestürzende Tatsache, dass die Abhängigkeit zwischen Herkunft und Bildungschancen in Deutschland erheblich stärker ist als in den meisten vergleichbaren Staaten. Die enge Verbindung zwischen Herkunft und Chancen wirkt sich im Falle der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund besonders gravierend aus. Diese Kinder und Jugendlichen stammen zu großen Teilen aus Familien, die durch einen deutlich unterdurchschnittlichen sozio-ökonomischen Status gekennzeichnet sind. Sie erreichen, beinahe folgerichtig nach Merkmalen des Schulsystems, in Deutschland in keinem der getesteten Bereiche die gleichen Leistungen wie die Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund – auch dann nicht, wenn sie außerhalb der Schule nur oder überwiegend Deutsch sprechen.

Die Schlechterstellung Zugewanderter im deutschen Schulsystem ist an sich kein gewollter Zustand. Im Gegenteil: Wenn überhaupt von Integrationsanstrengungen eines gesellschaftlichen Teilsystems im halben Jahrhundert der Zuwanderung nach Deutschland gesprochen werden kann, so müssen sie dem Bildungssystem attestiert werden. Es kann in nicht die Rede davon sein, dass es kein bildungspolitisches oder pädagogisches Interesse an der Integration und an der Förderung von Kindern oder Jugendlichen mit Migrationshintergrund gegeben habe. Eine Vielzahl von Regelungen, Erlassen, Empfehlungen und Initiativen spricht eine andere Sprache. Das Bekenntnis dazu, der Klientel mit Migrationshintergrund gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, findet sich in jedem einschlägigen Präambel-Text bildungsbezogener Gesetzgebung, spätestens seit den 1980er Jahren. Es ist in Richtlinien und Lehrpläne eingeflossen; die Konferenz der Kultusminister der Länder hat verschiedene beachtenswerte Empfehlungen dazu verabschiedet – beispielsweise eine Empfehlung zum interkulturellen Lernen.

Ein anderes Indiz dafür, dass dem Problem der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund schon seit längerer Zeit Interesse entgegengebracht wurde, ist es, dass die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung in den 1970er und 1980er Jahren insgesamt 85 Modellversuche gefördert hat, die unter dem Motto der “Förderung und Eingliederung ausländischer Kinder und Jugendlicher in das Bildungssystem” standen. Im Abschlußbericht über diese Maßnahmen, der 1987 publiziert wurde , heißt es:

Wenn heute von offizieller Seite davon gesprochen wird, daß sich die Bildungsverhältnisse für Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien deutlich gebessert haben, so ist dieser Sachverhalt neben einer sich anbahnenden Normalisierung der Schullaufbahn der sog. zweiten und dritten Migrantengeneration in hohem Maße der Förderwirkung der zahlreichen und vielgestaltigen Modellversuche im Ausländerbereich zu verdanken.

Durch die Brille der Resultate der aktuellen Schulleistungsvergleichsstudien gelesen, erweist sich diese zwei Jahrzehnte alte Feststellung als allzu optimistisch. Daher ist es so dringlich, dass eine nationale, abgestimmte Anstrengung gemacht wird, Integration zu unterstützen:

Mitverantwortlich dafür, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund nach wie vor nicht die gleichen Bildungschancen haben wie ihre gleichaltrigen nichtgewanderten Peers, ist nach vielen Analysen aus der interkulturellen Bildungsforschung der Mangel an einer systematischen, kontinuierlichen und verlässlichen Gestaltung der Integrationsmaßnahmen in das deutsche Bildungssystem. Dies betrifft ganz besonders das Feld der sprachlichen Bildung; daher soll an diesem nachfolgend illustriert werden, wo Versäumnisse liegen. 

Baustelle: Sprachliche Bildung

Rückblickende Analysen von Interventionsstrategien der Bundesländer zeigen das Grundmuster, dass Fördermaßnahmen weitgehend neben das Regelschulsystem gestellt wurden. Ohne das Urheberland zu nennen, zitiere ich zur Illustration dieser Feststellung ein paar Antworten auf die Frage nach den “Konsequenzen der Zuwanderung für Schulen und Hochschulen”, die die Amtschefskonferenz der Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2001 an die Bundesländer gestellt hat. Dem Ziel der erfolgreichen Integration zugewanderter Schülerinnen und Schüler im Lande X seien, so heißt es da, im Bereich der allgemeinbildenden Schulen folgende Maßnahmen zugeeignet: “Vorlaufkurse” für schulpflichtig werdende Kinder, “Intensivkursklassen für Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger für die Dauer von bis zu einem Jahr” oder “Intensivkurse” für dieselbe Gruppe für die Dauer von bis zu zwei Jahren, “Alphabetisierungskurse” von bis zu zweijähriger Dauer und “zusätzliche Deutsch-Förderkurse” für die Schülerinnen und Schüler, die “sich zwar verständigen können, die deutsche Sprache jedoch in Wort und Schrift noch nicht so beherrschen, dass sie die Anforderungen des Regelunterrichts problemlos erfüllen können”.

Diese Stellungnahme illustriert ein charakteristisches Merkmal der Integrationsmaßnahmen in das deutsche Bildungssystem, die in der Vergangenheit ergriffen worden sind. Es erfolgt (1) eine Konzentration der Förderung auf die – ganz gewiß wichtige und keineswegs zu vernachlässigende – Schwelle des Eintritts in das sog. Regelsystem und (2) eine Konzentration auf nur eine Sprache der in zwei oder mehr Sprachen lebenden Kinder mit Migrationshintergrund, nämlich die deutsche. Nach der Eingliederung in den Regelbetrieb ist es in der Regel nicht mehr vorgesehen, dass systematisch und kontinuierlich auf besondere Bildungsvoraussetzungen (vor allem in sprachlicher Hinsicht) Rücksicht genommen wird. Integration wird hier als ein Akt aufgefasst, der einmalige Maßnahmen von bemessener Dauer erfordert und dann abgeschlossen ist, nicht aber als ein langfristig angelegter Prozess. Dies aber ist die nach allen vorliegenden Forschungsergebnissen weder in Einklang mit den Merkmalen der Migration, wie wir sie in Deutschland vorfinden, noch mit dem Wissen darüber, wie sprachliche Integration vonstatten geht und welche Folgen ein Aufwachsen und Leben in zwei oder mehr Sprachen für das Lernen überhaupt hat.

Der Nationale Integrationsplan kann an dieser Lage nicht von heute auf morgen etwas ändern – da haben wir es mit einer Großbaustelle zu tun, und die brauchen bekanntlich lange, bis das Bauswerk vollendet ist. Aber immerhin sind in dem Plan zentrale Ansatzpunkte für eine Veränderung der Lage angesprochen, von der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Sprachbildung unter Beteiligung aller Lernbereiche und Fächer über die dafür nötige Qualifizierung der Lehrkräfte bis zum Anerkenntnis der Mehrsprachigkeit als einem gesellschaftlich wertvollen Gut.

Es bedarf nun, damit der Nationale Integrationsplan nicht Makulatur wird, der öffentlichen Aufmerksamkeit auf seine Umsetzung und der aktiven Einforderung, Versprechungen einzulösen, die in den Selbstverpflichtungen ja immerhin gemacht sind. Die Hoffnung jedenfalls, dass die Mitarbeit nicht umsonst war, mag ich nicht aufgeben.

Dezember 2007

Links

Modellprogramm Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FÖRMIG).

European Educational Research Association (EERA)

Bild entfernt.

Ingrid Gogolin ist Professorin für International Vergleichende und interkulturelle Bildungsforschung an der Uni Hamburg, Sprecherin des Programmträgers für das Modellprogramm „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“.