„Der Engelfotograf” Leseprobe von Gino Chiellino

 

Auszug aus dem Roman "Der Engelfotograf"

 

Die kleine, besonders rot leuchtende Flamme beginnt auf ihn zu warten

In dieses Loch der Gefühle, in diese Wüste der Sinne brach ein ihm unbekannter Gott aus dem Norden ein. Ungebeten nahm er für immer Platz in seinem Leben. Nicht, dass der Gott aus dem Norden selbst es getan hätte. Für ihn zieht es der unbekannte Gott vor, zuerst unsichtbar zu bleiben, und schiebt seine Mutter vor.

Die Muttergottes ist beharrlich stumm, aber sie hat die verwirrende Gabe, jeden Besucher so intensiv anzuschauen, dass er sie wortlos und genau versteht. In der Klosterkapelle sind ihre Augen allgegenwärtig. Sobald ein Besucher die Tür der Kapelle leise vor sich aufmacht, springen ihm ihre Augen entgegen, nehmen ihn fest in den Griff und verfolgen ihn nach links und rechts, vor und zurück. So viel Demütigung in ihren Augen erweckt Unbehagen in dem unerfahrenen Besucher, und je länger der Aufenthalt in der Kapelle dauert, umso unerträglicher wird für ihn ihre Demütigung. Im Gotteshaus möchte er keine verspüren, aber er kann bei sich nicht unterbinden, dass befreiende Wut in ihm aufkommt.

Durch ihre Haltung, alles ertragen zu wollen, handelt die Muttergottes wie die Mütter und all die Frauen, die im Haus des Großvaters leben oder zu Besuch kommen. Ihr stummer Blick ist die mieseste Rache für etwas Böses, das man ihnen vielleicht angetan hat. Jede besorgte Frage nach ihrem Befinden lehnen sie ab, und niemals würden sie aussprechen, was ihnen allein die unausgesprochene Macht in der Familie und in der Verwandtschaft sichert, aber nur, und solange ihr Befinden unausgesprochen bleibt. Für ihre Umwelt halten sie den Schmerz des Bösen in ihren Augen stillschweigend zurück. Mit den Jahren wird ihr Blick immer mehr zum Bild des Bösen, und das Böse in ihrem Blick wird auf immer unerträglich.

Wenn er zusammen mit den anderen Klosterschülern die Kapelle betritt, strengt er sich an, ihre überall lauernden Augen zu meiden. Es fällt ihm nicht leicht, sich ihnen zu entziehen, denn das Bild mit der Muttergottes trohnt oberhalb des Hauptaltars, bedeckt eine Wandfläche von mehr als neun Quadratmetern, und ihre Augen werden einen Durchmesser von sieben, neun, elf, dreizehn oder sogar fünfzehn Zentimetern haben. Sie sind so eisig blau gemalt, dass die Augen der Muttergottes noch durch jeden Wolkenstau aus reinem Rosenweihrauch stechen.

Jahre vor seiner Ankunft in dieser Welt des eingeschlossen Seins hat er schon einmal zwei Wochen mit der Muttergottes als Jungfrau von Fatima im Schlafzimmer seiner Großmutter verbracht, und zwischen ihnen war es damals sehr friedlich zugegangen.

Im Mai des Jahres 1952 war eine kleine weiße Gipsfigur mit einer großen Krone auf dem Kopf durch die gesamte Ortschaft von Haus zu Hause. Seine Großmutter, eine allbekannte Vorbeterin in der Frühmesse, hat sich beim jungen Pfarrer schon im März mit dem eisernen Vorsatz gemeldet, ihr stehe es zu, dass die heilige Jungfrau von Fatima sich zu Besuch in ihrem Hause aufhielte, denn keine andere Frau im Viertel ehre die kleine Madonna schon so lange und so inbrünstig wie sie. Angesichts ihrer tiefen Ehrfurcht vor der Muttergottes stehe ihr zu, dass die kleine weiße Gipsfigur sogar zwei Wochen in ihrem Haus geehrt werde. Sie werde täglich für frische Blumen und für besonders rot leuchtende Kerzen sorgen. Dafür will sie das gesamte Geld ausgeben, das sie gerade für das Weben von sechs Leinen-Betttüchern für die Aussteuer der siebten Tochter des Steuereintreibers erhalten hat.

Für die kleine weiße Gipsfigur hat die Großmutter ihr einziges Zimmer im Haus umgeräumt. Auf der Kommode, die dem Bett gegenübersteht, hat sie mit dem Holzbänkchen aus der Küche und mit ihren feinsten und kostbarsten Seiden- und Damasttüchern einen kleinen Altar aufgebaut. Das Zimmer hat sie mit frischen Blumen und mit besonders weißen und teuren Bienenkerzen geschmückt und zwei Wochen vor dem Einzug der kleinen weißen Gipsfigur zur Begutachtung freigegeben. Den Besucherinnen hat sie frisch gemischte grüne und gelbe Liköre und selbst gebackene Aniskekse angeboten und sie werden von ihnen unmäßig gelobt, weil sie alle sich erhoffen, zum gemeinsamen Rosenkranzgebet eingeladen zu werden.

Im Herbst 1951 war seine Schwester elf Jahre alt geworden und durfte nach Vorstellung seines Vaters abends das Haus nicht mehr allein verlassen. Sie durfte nicht mehr in der Dunkelheit den Weg zur Großmutter gehen, um ihr in der Nacht Gesellschaft zu leisten, weil sie an Bluthochdruck litt. In der Tat war die Schönheit der Schwester in diesem Jahr so rasch gereift, dass in den kurzen Monaten des Sommers aus ihr ein Dauerthema unter Bauern-, Handwerker- und Händlersöhnen geworden war. Die Söhne der anderen mussten sich standesgemäß zurückhalten.

Vom Oktober an musste er als jüngster Sohn nach dem Abendessen  allein aus dem Haus am Dorfeingang gehen, dreihundert Meter durch die Dunkelheit laufen, sich an den dunkelsten Stellen zwischen den niedrigen Häuser Mut zusprechen und endlich an die Tür der Großmutter klopfen, ihr erzählen, was es zum Abendessen gegeben hatte, und sich dann ins Bett legen. Die Großmutter hatte abends immer etwas vor. Meist ging sie zu ihrer verwitweten Schwägerin, die nebenan wohnte, und durch eine zugemauerte Holztür konnte er mithören, wie sie in der Küche der Schwägerin für Gelächter sorgte. Im großen Bett allein zurückgelassen, wartete er auf den Schlaf als Linderung seiner Wut auf die Großmutter und seiner Angst vor Dunkelheit, Mördern, Briganten, Geistern, Totenseelen, flatternden Fledermäusen und giftigen Spinnen.

Wegen des Einzugs der kleinen weißen Gipsfigur in das Schlafzimmer der Großmutter begann er im Mai des Jahres 1952, sich anders zu fühlen. Gleich am ersten Abend wurde es ihm klar, dass er für eine Woche nicht mehr allein einschlafen würde, vielleicht sogar für zwei.
Am 13. Mai des Jahres 1952 hielt die kleine Gipsfigur mit der großen Krone im Schlafzimmer der Großmutter feierlich Einzug. An der Spitze einer Frauenprozession, eigenhändig vom jungen Pfarrer getragen, erreichte sie den kleinen Altar auf der Kommode. Dort befand sie sich in Augenhöhe mit einem sechsjährigen Bauernjungen,  während dieser im Bett seiner Großmutter auf den Schlaf wartete.

Nach dem ersten gemeinsamen Rosenkranz würde der junge Pfarrer erst eine oder hoffentlich zwei Wochen später wiederkommen. Dann wäre es mit den besonders leuchtenden Kerzen, mit den bunten Rosen, Nelken, Lilien, Löwenmäulchen, Levkojen und mit den vielen Stimmen im Schlafzimmer der Großmutter vorbei. Dann würde die Großmutter, der er Gesellschaft leisten sollte, ihn bei seiner abendlichen Ankunft wieder fragen, was es zum Abendessen gegeben habe, ihn ins Bett schicken und am nächsten Tag wecken, ihm eine Tasse mit warmer Ziegenmilch und ein Stück hartes Brot zum Eintunken geben, danach würde er wortlos das Haus verlassen.

Zwei Wochen lang hatten sie sich auf gleicher Augenhöhe, sie stehend und er liegend, gegenüber befunden: die kleine weiße Gipsfigur und der kleine Bauernjunge. Zwischen ihnen fand jedoch kein Gespräch statt. Sie war ihm zu deutlich aus Gips und sie litt, seiner Meinung nach, schwer unter der Last der großen Krone mit der Weltkugel und dem Kreuz obendrauf. Er wusste damals nicht, was er ihr hätte erzählen können. Damals lebte er sein Leben unter Tieren, Pflanzen und Menschen, im Winter anders als im Sommer und im Frühjahr anders als im Herbst, und in den dunkelsten Gassen seines Geburtsortes lauerte auf dem Weg zur Großmutter niemand auf ihn, um ihm die Seele zu vergiften, und er brauchte damals die Hilfe der kleinen Muttergottes nicht.

Erst zum Anfang der zweiten Aufenthaltswoche der Muttergottes im Schlafzimmer der Großmutter gelang es ihm, wenn auch unter einer gewissen Anstrengung, Augen und Ohren über alle fünfzehn Mysterien des Rosenkranzes hinweg offen zu halten. Obwohl er im Liegen keine der Freundinnen der Großmutter sehen konnte, denen die Ehre zuteil geworden war, am Abend mit ihr den Rosenkranz zu beten, konnte er an ihren Stimmen feststellen, dass sie jedes Mal am selben Platz knieten und dass sie sich nie getraut hätten, im Haus der Großmutter lauter als sie zu Gott zu beten. Im ihrem Haus stand der Großmutter einfach zu, von Gott gehört zu werden, daher war ihre Stimme schriller als alle anderen zusammen.

Jeder seiner Versuche, sich in das gemeinsame Rosenkranzgebet einzumischen, scheiterte an der Geschwindigkeit, mit der die Großmutter und ihre Freundinnen sich die Gebete teilten oder die Rollen im Gebet austauschten. Er wäre auch auf keinen Fall mitgekommen, weil er einfach über alle fünfzehn Mysterien gegen den süßen Schlaf anzukämpfen hatte, und so wurden ihm das Salve Regina und die Litanei zu Wiegenliedern in einer Kindheit, die für ihn keine sein konnte, weil es weder Wiegen- noch Kinderlieder gab. Seine Freunde beneideten ihn täglich darum.

Im Lauf der Tage und Wochen des Frühherbstes des Jahres 1957 gewöhnt er sich daran, niederzuknien, sobald er seinen Platz in der Kapelle erreicht hat, und sein Gesicht zum Schutz gegen die allgegenwärtigen Augen der Muttergottes in die Hände zu versenken. Durch den Spalt zwischen Zeige- und Mittelfinger kann er, wenn er will, Kontakt mit einer kleinen, besonders rot leuchtenden Flamme auf der rechten Seite des Tabernakels aufnehmen.

Sämtliche Flammen, im Kamin oder im Garten, auf den Getreidefeldern oder auf dem Kartoffelacker, unter den Waschkesseln am Fluss oder unter Kastanienbäumen, wie sie sein Vater im Spätsommer anzündete, ließen in ihm sofort eine kratzende und kitzelnde Freude aufkommen. Während seine Augen sich mit den Flammen im Kamin oder auf den Feldern oder unter den Kastanienbäumen füllten, rückte ihm sein Körper so nah, dass er nichts und niemanden um sich herum hörte. Dagegen konnte er den Flammen im Garten oder auf dem Kartoffelacker oder unter den Wäschekesseln am Fluss bis zu ihren letzten Zuckungen zuhören. Sie erzählten ihm unendlich lange Geschichten, und sie erzählten durch leichte, schwere, blitzschnelle, aufsteigende, niederfallende, sich drehende und dann wieder aufschießende Bewegungen.

Die kleine, besonders rot leuchtende Flamme beginnt auf ihn zu warten und er hat den Eindruck, dass sie, sobald er seinen Platz in der Kapelle eingenommen hat, für ihn besonders rot leuchtet. Sie bewegt sich so, als ob sie ihm unbedingt und sofort etwas anvertrauen wolle.

Ihm war, schon als Kleinkind, die Sprache vor der Sprache mehr als vertraut. In der Küche, auf dem Feld, auf dem Weg zu Weinbergen oder zu fernen Weiden des Silagebirges wurde kaum gesprochen. Das ureigene und einzige Märchen um das Silagebirge als Heiligtum eines Volkes, das sich keine Götter jemals erdacht hat, erzählt man sich seit Jahrhunderten in den umliegenden Ortschaften, doch kürzer kann ein Märchen kaum erzählt werden.

Milon von Kroton, der größte Athlet der Antike,  konnte nicht hinnehmen, dass selbst er alt und schwach wurde. Um sich zu beweisen, versuchte er, mit bloßen Händen die mächtigste unter den Kiefern des Silagebirges auszureißen, aber sein Körper ließ ihn im Stich. Der Wurzelstock stürzte ihm auf die Hände, hielt ihn gefangen. In der Nacht zerrissen ihn die Wölfe.

Weder zu Hause noch auf dem Kirchplatz herrschte gegen Worte Misstrauen, sie waren einfach nicht notwendig, um sich zu sagen, was zu tun oder nicht zu tun war. Jede Unterhaltung lief über das Tempo der gemeinsamen Arbeit, und je mehr die Arbeit gelang, umso tiefgründiger lief das Gespräch. Bei schlechter Arbeit gab es deutlich körperlichen Unmut in der Luft zu verspüren, und die Worte waren das Flickzeug, um das Gespräch wieder flott zu machen.

Jedes Mal, wenn er seinen Platz in der Kapelle einnimmt, leuchtet die kleine Flamme für ihn besonders rot auf, und Christus wird ihm sympathischer als seine Mutter. Für ihn ist Christus der Sohn einer Mutter aus Gips und eines Handwerkers, wie die Väter einiger seiner besten Freunde. Christus ist für ihn ein freundlicher, hilfsbereiter Junge, der gern mit seinen Freunden wandert und feiert; und er weiß, dass dort, wo es eine Gruppe von Jungen gibt, auch einer von ihnen ist, der sich als Mittelpunkt der gesamten Gruppe durchsetzt und mit dem alle in der Gruppe zu tun haben wollen.

Während der Messe wartet er mit ein wenig Vorfreude im Herzen, dass aus dem Leben Jesu Christi gelesen wird. Bei der Lesung aus dem Evangelium kehrt er für einige Minuten zurück zu seinen Freunden, die um sechs Uhr in der Früh noch im Bett liegen oder gerade aufgestanden sind, um mit dem Bus zur Schule im Tal zu fahren. In blitzartigen Momenten kann er sich unter ihnen wähnen und  fühlen, er kann Fußball oder Soldat spielen, sogar mit den besten Freunden Krieg gegen die Jungen des benachbarten Dorfes führen, Zwiebeln stehlen oder im Fluss baden gehen, nackt ins Wasser springen und lachen. Vor allem das laute Lachen fehlt ihm in dieser Welt des eingeschlossenen Seins.

Wenn die Lesung aus dem Evangelium vorbei ist, erwärmt er sich weiter an der kleinen, für ihn besonders rot leuchtenden Flamme auf der rechten Seite des Altars. Bis zu dem Morgen, als er während der Lesung aus dem Evangelium zu erkunden beginnt, wo die kleine Flamme aufhört und was es von dort an, wo sie aufhört, geben könnte.

Wo die Bäume aufhören, wusste er schon, er war oft um die Wette auf Bäume geklettert, und vom Gipfel aus hatten sie den Himmel gekratzt und gekitzelt. Wo die Bäume aufhören, dort beginnt der Himmel, das stand für ihn und seine Spielkameraden fest. Aber was gibt es dort, wo eine Flamme aufhört? Hört die kleine Flamme auf, weil dort Gott beginnt?


Gott aber zögert, sich ihm zu zeigen. Von ihm kannte er nur das Auge auf dem Tabernakeltürchen in der Kirche des jungen Pfarrers, und er mochte das Auge in dem Dreieck nicht, ihm kam das dortige Gottesauge düster und verbittert vor. Und in dieser Kirche hatte er weder mit Gott noch mit seinen Heiligen gute Erfahrung gemacht. Über den heiligen Joseph mit dem traurigen Blick, mit dem Christuskind zur Rechten und dem langen Doppelhobel zur Linken hörte er unter den Männern nichts Gutes erzählen, selbst wenn er nichts von dem verstand, was sie ihm vorwarfen. Die heilige Lucia mit den zwei Augen auf einem silbernen Tablett und mit der reinweißen Lilie in der rechten Hand kam ihm zu geziert vor. Sie war nicht mal annähernd so hübsch wie seine Schwester, weil sie für ihn die Schönste im Dorf war, vor allem sonntagnachmittags. Die Schlange über der Einganstür neben dem Taufbecken war ihm zuwider. Jedes Mal, wenn er durch diese Tür in die Kirche des jungen Pfarrers trat, fühlte er sich in Gefahr. Er stellte sich vor, dass die Schlange ihn von hinten anspringen werde, wie es ihm einmal passiert ist, als er junge Eichelhäher aus ihrem Nest mitten in einem Weisdornbusch rauben wollte.

In der Kirche des jungen Pfarrers kam ihm das Leben noch elender vor als es außerhalb der Kirche und des Dorfes wirklich sein konnte. Der Gott aus dem Tabernakeltürchen war ein Erpresser, ein Bestrafender, der alles sah, selbst ihn, wenn er im Dunkel ein Paar Kilo Lupinen aus dem Getreide- und Vorratslager holte, sie an die Frau des Getreidehändler verkaufte, um ein Paar Lire aus Aluminium in seiner Hosentasche zwischen den Fingern zu spüren, als Schutz gegen jede Beschämung, wenn die Freunde sich ein Eis kaufen wollten. Vor der Eisdiele hätte er die Lire aus der Hosentasche holen und zeigen können, aber auf das Eis hätte er verzichtet, ohne vor Scham rot zu werden.

Nur einmal hat er sich auf ein Tauschgeschäft mit dem Gott aus dem Tabernakeltürchen eingelassen, und das war für ihn schief gelaufen. In der Woche der Aufnahmeprüfung zur mittleren Schule hatte er dem Gott aus dem Tabernakeltürchen die 30 Lire geopfert, die er sich im Laufe des Septembers durch Steinpilzsammeln ehrlich verdient hatte. Den Grund hat er nie erfahren, aber seine Opfergabe, sein Verzicht auf Eis und Kino, war dem Tauschpartner nicht würdevoll genug. Mit der Demut des Verlierers, der nie daran zweifelt, dass er das Recht auf eine Chance in seinem Leben hat, verließ er sich auf sich allein bei der Wiederholung der Prüfung und er schaffte die Aufnahme tadellos. Seit dem Tag hat zwischen ihnen kein Gespräch mehr stattgefunden, und seit dem fehlgeschlagenen Tauschgeschäft opfert er keinem Gott irgendetwas mehr.

In der Klosterkapelle dagegen ist alles bis auf die Augen der eisigen Muttergottes so heiter, dass er sich dort sofort wohl fühlt. Im Winter wird die Kapelle durch die Körper von 73 kräftigen Jungen schnell warm. Die Lichter auf dem Altar und unter den Bildern der Heiligen brennen hell, die Orgelmusik ist kein Katzenjammer und die Lieder gehen ihm durch alle fünf Sinne, gerade weil er nicht singen kann. Auf der rechten Seite des Altars wartet die kleine, besonders rot leuchtende Flamme stets auf ihn. Dafür sorgen die Nonnen, die täglich hinter dem Gitter zur rechten Seite des Altars der Messe beiwohnen. Sie sorgen dafür, dass sie nie ausgeht. In der Kapelle riecht es nach frischer Bienenwachs und Honigkerzen; und alles glänzt und strahlt Leichtigkeit aus. Mit begeisterter Einübung und sanfter Geduld wird für ihn die Kapelle ein Ort der Offenbarung und der Reinigung.

In Ministrantenrock aus feinem Baumwollegewebe mit beiger Durchbrucharbeit, liebevoll von Nonnenhand gestickt, kommt er in verwirrende Berührung mit dem Weihwasserkessel aus antikem Feinzinn, mit den leichten Altarglöckchen aus feinem Silber, mit dem kristallklaren Messkännchen aus mundgeblasenem Muranoglas, mit zierlichen oder mächtigen Kelchen aus Gold, die reichlich mit kostbaren Steinen geschmückt sind; mit dem wohlriechenden Rauchfass zusammen mit dem schrillen Schiffchen in barockem Stil aus filigraner Ziselier- und Durchbrucharbeit; mit den leichten Hostienschalen und mit schweren Monstranzen aus reinem Gold und Silber, mit Hunderten von Strahlen und Granatsteinen.

Das Tragen des Evangeliars vor Pater F an hohen Feiertagen ist für ihn, im weißen Ministrantenrock aus feinem Baumwollgewebe mit beiger Durchbrucharbeit, ein Fest der Sinne. Der Schmuckeinband des Evangeliars ist mit aufwändiger Perlenstickerei versehen. Vorder- und Rückseite sind mit zwölf Szenen von der Kreuzigung Christi verziert. Bunte Ziersteine säumen die Umrandung der Vorder- und Rückseite, und das Evangeliar strahlt ihm das Selbstbewusstsein eines dem Tod entgangenen Helden entgegen. Bei der Beräucherung des Altars mit byzantinischem Weihrauch kann er sich dem Weihrauchduft von milden Blüten hingeben und sich darin verlieren. Er gibt sich hin und verliert sich, wenn Pater F im Rauchmantel aus kostbaren Damaststoffen mit Bildstickerei auf der Rückenseite an ihm vorbei zu Gott hinauf schreitet, der in einem Wolkenstau aus Weihrauch auf ihn wartet.

Das Ziborium und die Reliquiare aus vergoldetem Silber dürfe er jedoch niemals anfassen. Beim Betrachten der schlichten Liturgiekleider aus Rohseide und der augenbetörenden Ornate, reich an Gold- und Silbermustern mit kostbaren und umso selteneren Steinen, beim Aufräumen von Altarleinen, Korporalen aus Leinendamast und Bursa, Palla, Velen aus hauchdünnem Leinen öffnen sich ihm die Sinne für die Leichtigkeit des Kostbaren und vermitteln seinem Körper das irritierende Gefühl, dass nicht nur Gegenstände, sonder auch Räume, Tiere und Menschen schmutzig sein können.

Jedes Mal, wenn Pater F sich in dem Rauchmantel aus kostbaren Damaststoffen mit Bildstickerei auf der Vorderseite und mit Goldschmiedearbeiten im Verschluss sich zur Versammlung umdreht, um sie zu segnen, dann sieht er sich selbst an Stelle von Pater F die Versammlung segnen, in unmittelbarer Nähe zu Gott, als sein auserwählter Vertreter.


Noch Monate nach seiner Ankunft in dieser Welt des leisen Sprechens passiert es ihm immer wieder, dass er, gefangen von der Leichtigkeit des Kostbaren, sich ihr mit offenen Augen hingiebt. Am liebsten verschwindet er in den Weinranken und Trauben eines roten Skapuliers mit den Bildern der vier Evangelisten. Er beneidet alle vier unermesslich, weil sie alles miterlebt haben, was sie ihm unter den Weinranken mit den dunklen Trauben über Christus erzählen. Dann aber kehrt er irgendwie und ein wenig beschämt zu seiner roten Flamme zurück. Von dort aus ist der Weg zu Gott zu finden.

Mit der Zeit stellt er fest, dass ihm schon vor dem Betreten der Kapelle seine Brust leichter wird und sein Herz seinem Verstand näher rückt. Dass sich bei jedem Kontakt mit der roten Flamme etwas in ihm regt, das ihn zu kratzender und kitzelnder Freude anstiftet. Dann hört und spürt er niemanden mehr um sich herum. Von unerwartetem Nutzen ist ihm sogar sein Misserfolg, in den Chor der Klosterschule aufgenommen zu werden. Während Lieder gesungen werden, die er in keinem Fall mitsingen darf, kann er losgehen und zwischen der roten Flamme und dem Himmel nach Gott Ausschau halten.

Und eines Tages meldet sich Gott bei ihm, unerwartet. An diesem Tag hat er mit offenen Augen die Kapelle betreten, und die Augen der Muttergottes waren für ihn nicht mehr da. Er sieht weder ihre Augen noch ihr Bild. Beim Betreten der Kapelle hat sich der nächtliche Knoten in seinem Bauch plötzlich aufgelöst, und er ist der Leichtigkeit um sein Herz verfallen, die er bisher nur über intensives Betrachten der roten Flamme zu erreichen wusste. Die nächtliche Spannung, die ihm jedes Mal als Eisklumpen im Magen lag, wenn er in der Lateinstunde als Anführer der Trojaner einen erbitterten Vokabelkampf gegen Achilles zu führen hatte, ist beim Betreten der Kapelle plötzlich weg, noch bevor er Kontakt mit der roten Flamme aufnehmen kann. Seit diesem Tag weiß er, dass Gott sich durch die Leichtigkeit um sein Herz gemeldet hat. Wenn sich die Leichtigkeit um sein Herz einstellt, wenn Herz und Verstand bei ihm zueinander gefunden haben, weiß er, dass Gott in Kontakt zu ihm getreten ist, Dann braucht er nicht mehr zu Gott zu beten, denn er kann direkt zu ihm sprechen.

Bis zum letzten Tag seines Aufenthalts in der Klosterschule hat Gott kein einziges Mal zu ihm gesprochen. Er jedoch immer gewusst, dass Gott ihm zuhört. Er schließt täglich Abkommen mit ihm ab. Durch jedes Abkommen  will er sich mehr Nähe zu Gott erkämpfen. Selbst mit dem Schweigen während der großen Pausen auf dem Fußballplatz kann er sich Nähe zu Gott erspüren. Er stürmt, foult in dem die Mitspieler mit vorlieben gegen die Beine tritt, schießt krumme Tore und fühlt sich durch sein Schweigen im Gespräch mit Gott. Dabei merkt er nicht, dass fast alle Mitspieler ihn für einen hochnäsigen, eingebildeten Streber halten.

Zur Muttergottes hat er nur einmal Nähe empfunden, sechsunddreißig Verse lang. Damals war seit seiner Ankunft in dieser Welt der symmetrischen Anordnung mehr als ein gutes Jahr vergangen, und es war Advent. Am 7. Dezember sollte im Klostergang vor der kleinen Nische neben dem Aufgang zum Spielhof eine besondere  Feier zu Ehren der Muttergottes stattfinden. Am Vorabend der Unbefleckten Empfängnis, während der Pause vor dem Schlafgehen, sollte er in vollkommener Dunkelheit, das Gebet des heiligen Bernard aus der Göttlichen Komödie vortragen. In der Woche davor hat er die 36 Verse mit Ehrfurcht auswendig gelernt, sie sich mit steigender Inbrunst täglich vor dem Einschlafen vorgetragen. Mit der Muttergottes hat er dabei ein Abkommen geschlossen. Er würde sich ihr zu Ehren beim Vortragen des Gebets nicht blamieren und das Gebet zu ihrer Ehre ohne zu stottern in der gebotenen Tonlage vortragen. Als Gegenleistung möge sie ihn von dem erlösen, was ihm Herz und Verstand auseinander treibt, um wieder rein vor ihren Sohn treten zu können.

Im Dunkeln steht er endlich vor der Gipsfigur, um das zierliche Haupt der unbefleckten Jungfrau brennt eine elektrische Aureole, leuchtende Kerzen und wohlriechende Blumen schmücken die Nische. Um sich herum spürt er die Mitschüler, die Patres und die Abwesenheit Gottes. Ihm gegenüber steht, unbeteiligt, ein Seelenvergifter, gegen ihn packt er seine letzte Verzweiflung zusammen, und verzweifelnd sucht er in seinem Körper nach einer Stimme. Wie ein Eisklumpen versperrt ihm die Stimme die Atemwege, und Gottes Abwesenheit in seinem Leben quält ihn unermesslich.

Er hält die Tränen hinter den Lidern zurück, und Dantes Verse beginnen, durch seine verwaiste Seele aus ihm herauszufliesen. Bei den Versen  La tua benignità, non pur soccorre / a chi domanda, ma molte fiate / liberamente al dimandar precorre glaubt er, Gott habe sich bei ihm wieder eingefunden. Gott stehe ihm, dem Unschuldigen, bei. In seiner Brust, um sein Herz kommt Leichtigkeit auf, sein Atem fließt ruhig durch Dantes Verse aus ihm, die Stimme wird ihm fester, sein Körper liegt ihm wieder so nah wie damals bei der Entdeckung der für ihn besonders rot leuchtenden Flamme auf der rechten Seite des Altars.

In der Mitte des Aufgangs zum Schlafsaal reißt ihm die bittere Ohmacht des Unschuldigen ein Loch im Magen auf. Für ihn gilt es erneut, alles zu verbergen, alles zu überspielen, und morgen vor der Kommunion erneut zur Beichte hochzurennen.

 

Kapitel IV aus dem unveröffentlichten Roman: Der Engelfotograf. 2007

Bild entfernt.
Gino Chiellino

 

Carmine Chiellino, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg, ist in in seinem Beitrag dem Thema der Liebe in deutschsprachigen Texten auf der Spur. Er betrachtet die grenzüberschreitende Dynamik interkultureller Liebe als Verbindung und Dialog von Eigenem und Fremdem, geht dabei auf literarische Motive kultureller Symbiose sowie sprachliche Sensibilisierungen der AutorInnen ein und zeigt, wie die Sprache zum Ort der Begegnungen der Liebenden werden kann.

 

Interkulturelle Liebe als Wahrnehmungsprozess - Zur Entwicklung der interkulturellen Literatur in Deutschland
von Carmine Chiellino (weiter)